Andreas Schindel | Rezension | 20.06.2023
Utilitaristischer Aktivismus
Rezension zu „Der Ausweg aus unserer politischen Ohnmacht“ von Geoffroy de Lagasnerie
Versuchte man das intellektuelle Projekt des französischen Philosophen Geoffroy de Lagasnerie auf eine kurze Formel zu bringen, so wäre es wohl das kompromisslose Eintreten für eine utilitaristische theoretische Praxis. Seine Bücher verfolgen auf geradezu rabiate Weise den Anspruch, Theorie nicht um ihrer selbst willen zu betreiben, sondern die Güte theoretischer Arbeit allein an ihren Effekten für progressive Gesellschaftsveränderung zu bemessen. Der Austritt aus dem Elfenbeinturm ist für de Lagasnerie erst vollendet, wenn Theorie sich schonungslos darauf ausrichtet, den maximalen politischen Gewinn abzuwerfen. Vor diesem Hintergrund ist es nur konsequent, dass sich der hierzulande einiger Bekanntheit erfreuende Autor in seinem Essay, der sich, wie man eingangs erfährt, an einen Vortrag anlehnt und bereits 2020 im französischen Original erschien, direkt an politische Aktivist:innen richtet. Wie die Verwendung der „Wir“-Form verrät, spricht de Lagasnerie in einer Doppelrolle – nicht nur als Philosoph, sondern auch (und vielleicht vor allem) als politischer Aktivist, der seine Mitstreiter:innen adressiert. Der Titel des Buches bezieht sich somit nicht primär auf eine (objektive) Ohnmacht, die von den herrschenden Verhältnissen bedingt wird, sondern auf die Einflusslosigkeit eines fehlgeleiteten politischen Aktivismus. Dieser herbe Befund prägt den Charakter des Buches: Der Ausweg aus unserer politischen Ohnmacht ist keine diffizile Gesellschaftsanalyse, sondern vielmehr polit-strategischer Traktat. In 74 thesenstarken Absätzen unterzieht de Lagasnerie die „Doxa“ des zeitgenössischen Aktivismus einer als experimentell deklarierten, jedoch reichlich apodiktischen Kritik. Daraus erwachsen praktische Empfehlungen, wie die Weichen für einen nutzenorientierten und effektiveren Aktivismus zu stellen sind.
Ohnmächtiger Aktivismus
Das Grundproblem eines Großteils des gegenwärtigen Aktivismus siedelt de Lagasnerie auf der Ebene der „aktivistischen Psychologie“ (S. 42) an, die ein wirtschaftliches Kalkül des Engagements behindere. Progressive Kräfte würden nicht bloß die falschen politischen Mittel wählen, sondern mehr noch grundsätzlich drauf verzichten, eine „realistische Kosten-Nutzen-Rechnung“ (S. 53) anzustellen. Eine hedonistische Politik der Selbstbespaßung und ein idealistischer Hang zur Selbstaufopferung bilden für de Lagasnerie die zwei Seiten eines aktivistischen Irrwegs, auf dem sich die Frage des realen Nutzens des eigenen Engagements häufig nicht einmal mehr stellt (S. 18). De Lagasneries Bemerkungen in diesem Kontext sind nicht nur flapsig formuliert, sondern verzichten auf eine strukturelle Ursachenanalyse und werfen so bereits Zweifel dahingehend auf, ob seine Überlegungen nicht auf einer allzu voluntaristischen Prämisse gründen.
Der Gestus seiner Abhandlung ist gleichwohl ein klassisch philosophischer: Das Buch soll „das Ungedachte“ (S. 21) des zeitgenössischen Protests zum Vorschein bringen und eine Reflexion über aktivistische Praktiken in Gang setzen. De Lagasnerie will dadurch eine „taktische […] Wende in unserem politischen Denken“ vollziehen, „die gewissermaßen ein utilitaristisches Moment einführt“ (S. 11). Die allgemeine Problemdiagnose lässt sich genauer auf drei Vorwürfe zuspitzen: Die heutige Protestkultur – de Lagasanerie spricht von einem „Zeitalter des Rituellen“ (S.21) – sei erstens simulativ, zweitens reaktiv und drittens fixiert auf die politischen Machthaber:innen. Simulativ ist sie nach Einschätzung des Autors, weil sie einer Spektakel- und Theaterlogik folgt, in der es mehr um heitere „Happenings“ und die Inszenierung von Aktivismus als um tatsächliche Eingriffe in herrschende Machtverhältnisse geht. Sie ist reaktiv, weil sie sich in ihrer zeitlichen Logik auf die Abwehr von aktuell anstehenden Maßnahmen und Gesetzen beschränkt. Und sie ist schließlich fixiert auf politische Repräsentant:innen, insofern als ihr bevorzugtes Instrument im Appell an die Regierenden besteht.
Elemente eines wirksamen Aktivismus
De Lagasneries Streifzug durch eine Reihe klassischer linker Strategiefragen skizziert Elemente einer offensiven Transformationsstrategie oder eher, wie sich im Laufe des Buches zeigt, eines Konglomerats aus verschiedenen Taktiken, mit dem der Einfluss progressiver Kräfte sukzessive anwachsen soll. Als zentrale Empfehlungen können dabei die Etablierung einer autonomen Zeitlichkeit (1), die Eroberung der Machtapparate (2), dem vermehrten und gezielten Einsatz direkter Aktionen (3) sowie der Einbezug einer Politik des Alltags (4) identifiziert werden.
(1) Schafft eine autonome Zeitlichkeit!
Dem Problem der ausschließlichen Reaktivität und der Fehladressierung des Protests muss laut de Lagasnerie mit der Schaffung einer autonomen Zeitlichkeit vonseiten der Aktivist:innen begegnet werden. Das umfasst zunächst die Einführung einer demographischen Logik in das politische Handeln, die den Fokus davon weglenkt, ideologisch bereits festgefahrene Politiker:innen umstimmen zu wollen und sich stattdessen darauf konzentriert, jüngere Generationen ideologisch zu formen (S. 31 – 37). Aus diesem Grund gelte es die Universität, der de Lagasnerie ein „Quasi-Monopol auf die Entwicklung“ (S. 35) gesellschaftlicher Denkstrukturen zuschreibt, als politisches Betätigungsfeld in den Fokus zu rücken. Diese Form des politischen Wirkens stellt ein Investment in die Zukunft dar, das „erst in zwanzig bis dreißig Jahren […], wenn die Vertreter dieser Generation zu Machtpositionen aufgestiegen sind“ (S. 33), Früchte tragen würde.
(2) Erobert die Machtapparate!
Aber auch die Infiltration anderer Institutionen, die einen unmittelbaren Einfluss versprechen, wie etwa Gerichte, müsse entgegen der verbreiteten Überhöhung der Sachzwänge, die man dort vermeintlich antreffe, als ein für linke Kräfte durchaus probates Mittel erkannt werden (S. 67 – 75). „Wäre es nicht als radikal zu bezeichnen“, fragt de Lagasnerie, „wenn die Anarchisten versuchen würden, die Kontrolle über das Verfassungsgericht zu erlangen? Wäre es für uns vorteilhafter, wenn es mehr anarchistische Anwälte oder mehr anarchistische Richter gäbe?“ (S. 70).
Zentrale Schwachstelle seiner Ausführungen ist die Abwesenheit einer ernsthaften Institutionentheorie ebenso wie einer sorgfältigen Analyse der Spielräume spezifischer Akteur:innen unter bestimmten Bedingungen. Die Strategie der Besetzung institutioneller Positionen rundheraus zu propagieren, wirkt dementsprechend naiv – nicht zuletzt vor dem Hintergrund linker Erfahrungen, dass individuelle Überzeugungen in letzter Instanz häufig gegenüber strukturellen Zwängen zurückstehen (man denke etwa an Mechanismen wie Fraktionszwang oder schlicht die Tatsache, dass Richter:innen sich an das geltende, häufig materielle Ungerechtigkeiten stabilisierende Gesetz halten müssen).
(3) Direkte Aktionen statt Gewaltspektakel!
De Lagasneries strenger Utilitarismus findet ebenso auf die Gewaltfrage Anwendung. Da absolute Gewaltlosigkeit in einer gewaltvollen Welt ohnehin nicht möglich sei und der Verzicht auf Gewaltanwendung hieße, sich passiv dem Gewaltmonopol des Staates auszuliefern, laufe die Behauptung einer pazifistischen Pflicht und der Gesetzestreue ins Leere. Der Rückgriff auf Gewalt als taktisches Element müsse jedoch unter dem Gesichtspunkt ihrer Effektivität beurteilt werden. Von hier aus müsse man zu dem Schluss gelangen, dass es aufgrund des physischen Kräfteungleichgewichts in der Regel von geringer Klugheit und Spektakelversessenheit zeuge, wenn Aktivist:innen es auf die offene Konfrontation mit der Staatsgewalt ankommen lassen (S. 49 – 53). So sympathisch die Absage an moralphilosophisches Räsonieren auch erscheinen mag, so reduktionistisch ist aber de Lagasneries Antwort auf die Gewaltfrage, geht ihr doch ein Gespür dafür ab, dass Gewaltanwendung kein nach Belieben einsetzbares, der Akteurin gegenüber äußeres Mittel ist, sondern auf das Selbstverhältnis des Subjekts zurückwirkt.
Als Alternative zum gewaltfixierten Phantasma, den staatlichen Repressionsapparaten mit offenem Visier begegnen zu können, schlägt de Lagasnerie vor, verstärkt das Mittel der direkten Aktion einzusetzen, mehr noch, es auf den Rang der „wichtigste[n] Modalität des Handelns“ (S. 45) zu heben. Gemeint sind damit Aktionsformen, die gegenüber dem sonst meist symbolischen Charakter von Protest, auf einen unmittelbaren materiellen Effekt zielen, wie zum Beispiel die Entwendung von Tieren aus Schlachthöfen. In direkten Aktionen sieht de Lagasnerie das erforderte offensive Vorgehen verwirklicht:
„Unsere Konstituierung als kämpfendes Subjekt durch die direkte Aktion erlaubt es uns, uns nicht als Subjekt zu erfahren, das nur auf das Handeln des Staates reagiert und ihn aufzuhalten sucht, sondern, im Gegenteil, als politisches Subjekt, das seine eigene Rechtsvorstellung durchsetzt; das die Welt, in der es leben möchte, gewissermaßen selbst schafft.“ (S. 46, Hervorh. im Original).
(4) Nehmt Einfluss auf die alltäglichen Subjektivitäten!
Neben der langfristigen Strategie, auf die Überzeugungssysteme zukünftiger Eliten einzuwirken und der auf die unmittelbare Gegenwart gerichteten Strategie der direkten Aktion, schlägt de Lagasnerie schließlich vor, auch auf die präreflexiven Welthaltungen in einer Gesellschaft Einfluss zu üben. Diese begreift er im Anschluss an Sartre als das „Praktisch-Inerte“ (S. 80), eine Art aus Akteurshandeln hervorgehende Schicht des Sozialen, die die vorbewusste Grundlage für weitere Handlungen legt. Um diese Ebene zu bespielen, auf der es darum geht, eine „progressive Identität“ im „alltäglichen Leben“ (S. 80) zu verankern, gelte es den politischen Charakter von „Fußballturniere[n], Grillfeste[n], gemeinsame[n] Spiele[n] vor den Wohnhäusern“ (ebd.) zu erkennen und derlei Veranstaltungen als politisches Instrument der Linken wieder zu entdecken.
Welchen politischen Gebrauchswert haben die Empfehlungen des Philosophen?
Zusammen ergeben die vier Aspekte das flexible Modell eines Mehr-Ebenen-Aktivismus, das auf unorthodoxe Weise politische Bildungsarbeit und reformistisches, institutionenorientiertes Handeln mit direkten Aktionen in anarchistischer Tradition und einer Mikro-Politik des Alltags kombiniert, ohne die verschiedenen Handlungsmodi in einer kohärenten Gesamtstrategie aufzuheben. Das ist durchaus beabsichtigt, schließlich stelle der Glaube an eine Konvergenz der Kämpfe, so de Lagasneries abschließende Botschaft, eher ein Hindernis für politischen Aktivismus dar, der wiederum nur gelingen kann, wenn er die Autonomie der unterschiedlichen „Machtsysteme“ und damit auch der Kampffelder beherzigt (S. 95).
Dass es dem Buch letztlich wohl kaum gelingen wird, laufende Debatten der Linken voranzutreiben, liegt grundsätzlich an der misslungenen Verbindung von philosophischer Reflexion und Einsichten aus der politischen Praxis. Weder ist das Buch theoriehaltig genug, um Aktivist:innen in eine produktive Distanz gegenüber den Verstrickungen im politischen Handgemenge zu bringen, noch ist es hinreichend konkret in der Analyse der politischen Konjunktur und herrschender Kräfteverhältnisse, um taktische Einsichten bieten zu können. Mit Ausnahme der Warnung vor einer nostalgischen Kritik des Neoliberalismus haben de Lagasneries Überlegungen keinen Zeitindex und bestehen zum Teil aus inhaltsleeren Sätzen wie „wenn etwas eben mal ‚nicht klappt‘, dürfen wir uns nicht darauf versteifen, weiter einem Weg zu folgen, der zum Misserfolg führt“ (S. 42). Darüber hinaus reißt de Lagasnerie einen zentralen Bereich politischer Strategiebildung, der Gewerkschaften wie Klimabewegung gleichermaßen umtreibt, nämlich die Frage nach zeitgemäßen Organisationsstrukturen, nicht einmal an. Diese wäre aber vor dem Hintergrund von de Lagasneries Fragestellung, wie der ausschließliche Ereignischarakter von Protest überwunden werden könnte, von zentraler Bedeutung gewesen.
Fragt man nach den sozialphilosophischen Vorstellungen, die seine taktischen Überlegungen untergründig anleiten, so fallen vor allem zwei Aspekte auf. Die Diskreditierung ästhetischer Protestpraktiken als folgenloses Theater erteilt offensichtlich der Vorstellung einer performativen Dimension von Protest eine Absage. Zudem offenbaren seine Ausführungen einen instrumentalistischen Zug und eine subjektivistische Schlagseite seiner nicht ausbuchstabierten Sozialtheorie, die erfolgreiche Gesellschaftsveränderung vorrangig zu einer Sache der bewussten Wahl der richtigen Mittel macht.
De Lagasnerie muss sich letztlich die mögliche Frage einer Aktivistin gefallen lassen, ob es nicht eher im Sinne eines politischen Utilitarismus wäre, zöge sie statt seines Essays etwa ein Handbuch zum Community-Organizing zu Rate. Dieser Umstand spricht womöglich für ein tieferliegendes Problem des Theorieverständnisses von de Lagasnerie und für eine Überschätzung seiner Rolle als Intellektueller, das an anderer Stelle genauer diskutiert werden muss.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Nikolas Kill, Stephanie Kappacher.
Kategorien: Affekte / Emotionen Demokratie Gewalt Macht Universität
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