Stefan Kühl, Jens Bisky | Interview | 03.06.2025
Wenn die Bürokratie stört
Ein Gespräch mit Stefan Kühl über Ministerien, Entbürokratisierung und die Fallen der Bürokratiekritik
Die Bundesrepublik bekommt mit der neuen Regierung unter dem Kanzler Friedrich Merz ein Ministerium für Digitales und Staatsmodernisierung. Sie beschäftigen sich seit Jahren mit Organisationssoziologie. Hat Sie die Entscheidung für ein solches Ministerium überrascht?
Nein, das lag in der Luft. Die Forderung nach einem Digitalisierungsministerium ist wenigstens fünfzehn Jahre alt. Seitdem kam die Idee bei jeder Koalitionsverhandlung wieder zur Sprache, da die herkömmliche Struktur im Innenministerium in Sachen Digitalisierung und Modernisierung der Verwaltungsprozesse nicht gut funktionierte. Was macht man, wenn man auf den gewohnten Pfaden nicht mehr weiterkommt? Entweder man gründet eine Kommission oder eben gleich ein Ministerium. Diese Konsequenz war wahrscheinlich, nachdem bestimmte Interessensorganisationen in den letzten Monaten sehr stark in Richtung Digitalisierungsministerium gedrängt haben. Es war abzusehen, auch wenn es vermutlich falsch ist.
Wir werden gleich darüber sprechen, warum das falsch sein könnte; zuvor noch eine Nachfrage: Der Name des Ministeriums enthält eine These über das Land. „Staatsmodernisierung“ – das impliziert doch, die Republik sei zurückgeblieben, irgendwie nicht auf der Höhe der Zeit, sie sei unmodern geworden, es müsse dringend erneuert, mobilisiert werden. Ende der 1990er-Jahre hätte man gesagt: Es braucht einen Ruck. Teilen Sie diese Diagnose?
Verwaltungen müssen immer in irgendeiner Form modernisiert werden, sie sind ja keine statischen Gebilde. Die Behauptung, dass Verwaltung sich verändern müsse, ist in gewisser Hinsicht so banal wie richtig. Aber die populäre Diagnose einer Staatskrise sehe ich mit Sorgen. Bei aller Kritik an der Verwaltung: In der Bundesrepublik funktioniert sie vergleichsweise gut. Nimmt man etwa andere Staaten als Referenzpunkte, haben wir eine Verwaltung, die Zeit braucht, aber rechtssichere Entscheidungen trifft. Sie mag manchmal für Einzelne schwer zu erreichen sein, ist jedoch leistungsfähig und nur wenig anfällig für Korruption. Statt also von einem großen Defizit zu sprechen, bin ich dafür, zu sagen: Wir haben eine funktionierende Verwaltung, diese ist keineswegs schlechter geworden. Allerdings gibt es eine Reihe neuer Anforderungen, etwa die Digitalisierung von Verwaltungsprozessen, was der starke Treiber für die Gründung des neuen Ministeriums ist. Dabei handelt es sich um eine komplizierte Aufgabe. Die Situation ist anders als etwa in Estland, einem neuen, stark zentralistischen, einem kleinen Staat. In der Bundesrepublik muss dem Föderalismus Rechnung getragen werden, den niemand ernsthaft in Frage stellt. In der engen Verknüpfung von Kommunen, Ländern und Bund ist jedes Digitalisierungsvorhaben extrem aufwändig, Detailarbeit in schwerster Form. Die Erwartung, Verwaltungsprozesse ließen sich rasch vereinheitlichen und digitalisieren, was Effizienzgewinne mit sich brächte, führt beinahe notwendig zu Frustrationen, da all dies in der föderalen Struktur schwer umzusetzen ist.
Aber gibt es nicht doch ein Problem mit den Verwaltungen, so leistungsfähig und zuverlässig sie auch sein mögen. Mein Lieblingsbeispiel aus Berlin hat der Tagesspiegel recherchiert und bereits 2017 dargelegt: Um einen Zebrastreifen einzurichten, braucht es 17 Verwaltungsschritte, es dauert gern mal drei Jahre. Nun ist ein Zebrastreifen keine komplizierte Sache. Hat sich da nicht Bürokratie verselbständigt?
Was wäre die Alternative? Einzelne Frustrationen kann ich verstehen. Ich bin seit acht Jahren mit Maßnahmen der Schulwegsicherung rund um die Grundschule in München, die mein Kind besucht, beschäftigt. Wir genießen breiteste Unterstützung seitens der Bürger:innen, aber man kommt gegen die Verwaltung schlecht an. Jeder kennt solche Geschichten, hat sich schon mal gefragt: Warum funktioniert das nicht besser? Warum sind die so unflexibel? Aber es gibt Gründe dafür. Wie andere Organisationen auch arbeiten Verwaltungen arbeitsteilig. Daher gibt es nicht ein Referat, das für Zebrastreifen oder für Poller gegen illegales Parken in Schulnähe zuständig ist. An den Entscheidungen sind mehrere Referate und Dezernate beteiligt, die sich untereinander abstimmen müssen und nach jeweils unterschiedlichen Logiken funktionieren. Daher sind der Beschleunigung von Verfahren Grenzen gesetzt. Selbst wenn man ein eigenes Referat für – sagen wir – Zebrastreifen einrichten würde, müsste dieses seine Vorhaben wiederum mit anderen Dienststellen abstimmen. Wir haben es mit einem grundlegenden Organisationsproblem zu tun, dass man nicht leicht auflösen kann. Hinzu kommt, dass die Verwaltungen gehalten sind, rechtssicher zu agieren. Sie wollen sicher sein, dass das, was sie tun, gesetzeskonform ist.
Dagegen spricht ja nichts.
Ja, es ist keine schlechte Idee, wenn eine Verwaltung sich an Gesetze hält. Was würde passieren, wenn sie es nicht täte? Sie wäre entweder hochkorrupt oder wir hätten Verhältnisse wie in einem Polizeistaat, in dem die Regierung verordnen und machen kann, was sie will. Das Problem ist, dass die Jurist:innen in den Verwaltungen auf Nummer sicher gehen. Sie interpretieren viele Paragraphen häufig so, dass Veränderungen, wo es möglich ist, nicht vorgenommen werden. Das sorgt teilweise für große Unzufriedenheit, auch unter den Verwaltungsmitarbeiter:innen selbst. Diese wollen häufig helfen, sehen sich dann aber von juristischer Seite ausgebremst. Nach meiner Erfahrung braucht es Entscheidungen an der Spitze, wenn man wirklich etwas erreichen will. Das bringt allerdings ein neues Problem mit sich: Man kann nicht alles zentralisieren, nicht jede Entscheidung ganz oben treffen, das funktioniert nur, solange es bei Einzelfällen bleibt. Was tun? Eine schnelle Lösung gibt es nicht. Es hilft wenig, über Bürokratie zu schimpfen oder die Transformationsschwierigkeiten des Staates zu beklagen. Es geht um Arbeiten am organisationsstrukturellen Detail, aber derlei fehlt meist in der Bürokratiekritik. Es fehlt die Bereitschaft, sich präzise mit der spezifischen Arbeitsweise einer jeden Organisation zu befassen. Stattdessen ruft man nach neuen Abstimmungsgremien, gründet Querschnittsreferate in der Hoffnung, dass die das schon hinbekommen. Damit erzeugt man weitere Schnittstellenprobleme, was diese Prozesse nicht beschleunigt, sondern weiter verlangsamt.
Ein prominentes Beispiel für diese Art der Kritik war das Bürokratie-Museum der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft 2024 in Berlin. Sie haben sich die Ausstellung angeschaut. Was gab es dort zu sehen?
Ich fand die Ausstellung der Initiative, die ja faktisch eine Art Werbeagentur der Industrie- und Arbeitgeberverbände ist, nicht schlecht, sie war nett gemacht. Interessant waren für mich die bürokratischen Prozeduren, die man durchlaufen musste, um überhaupt in das Museum reinzukommen. Zuerst musste man sich über einen QR-Code registrieren, um überhaupt ein Ticket zu bekommen. Dann musste man sich in eine Schlage vor einem Tresen anstellen und wurde dort noch einmal mit seiner E-Mail erfasst. Also die Initiative, die ständig kritisiert, dass man in der Verwaltung eine Doppelregistrierung hat, machte an dieser Stelle genau das Gleiche. Man wurde ein zweites Mal registriert. Dann musste man Taschen und Jacken erst einmal wegschließen, obwohl in den Räumen keine besonders wertvollen Exponate gezeigt wurden. Nach etwa einer Stunde waren wir durch mit der Ausstellung, beim Rausgehen sahen wir Leute, die noch reinschauen wollten. Sie wurden abgewiesen mit der Begründung, es sei nun zu spät, eine Stunde vor Ende bestehe ein Einlassschluss. Da meinten die Leute, wir wollen nur kurz rein, wir brauchen nur eine Viertelstunde. Als Antwort kam: Das geht nicht, das können wir nicht machen, das wäre gegen die Regel. Spontan hatte ich das Gefühl, in einer Theateraufführung zu sein. Wäre dies der Fall gewesen, hätte ich enormen Respekt vor der Werbeagentur, die Bürokratiekritik mit dem selbstreflexiven Hinweis verbunden hätte, dass auch sie nicht frei von Bürokratisierungsprozessen agieren.
Aber so war es doch nicht.
Ich bin dann zu einer Mitarbeiterin und sagte ihr: Entweder Sie haben hier eine Bürokratie, die schlimmer ist als vieles, was ich aus der öffentlichen Verwaltung kenne, oder Sie haben hier eine richtig gute Werbeagentur, die selbstironisch arbeitet. Sie guckte mich irritiert an und meinte: Wie? Ironisch? Wir haben unsere Regeln, an die wir uns zu halten haben. Da hat es also ein kleiner Verein mit wenigen Mitarbeiter:innen geschafft, Bürokratisierung zu produzieren, und beschwert sich dann, dass ein Staat mit Millionen Mitarbeiter:innen zu bürokratisch operiert. In der Berichterstattung über die Ausstellung wurde dies nicht beachtet. Wenn wir heute über Bürokratie reden, denken wir normalerweise an die öffentliche Verwaltung, es gibt Bürokratie aber ebenso in Unternehmen, Vereinen, Parteien. Aber wer Bürokratie kritisiert, kritisiert in erster Linie den Staat, nicht ein Organisationsprinzip generell.
Nach dem wenigen, was ich mitbekommen und gelesen habe, ist die Bürokratie in Unternehmen keineswegs kleiner. Wer mal versucht hat, mit seinem Telekommunikationsunternehmen zu verhandeln, weiß, wie nervenaufreibend diese Unternehmensbürokratie sein kann.
Das sehe ich ähnlich. Ich publiziere unter anderem in einem großen Wissenschaftsverlag, in dem man auf ein hohes Maß an Standardisierung setzt. Mit wachsender Verzweiflung versuche ich, mit diesen Regeln zurechtzukommen. Es gibt exakte Vorgaben, wie bestimmte Dinge hochgeladen und abgearbeitet werden müssen, was möglich ist und was nicht. Immer wenn ich mal Kontakt zu einem Mitarbeiter, einem Menschen, bekomme, habe ich es entweder mit einer Billigkraft in Indien zu tun, oder mit jemandem, der sagt: Ich sehe das genauso wie Sie, aber das ist alles per Voreinstellung festgelegt. Wahrscheinlich wäre das Buch ein besseres, wenn wir es anders machen würden, aber es geht nicht. Und dann verbringe ich viel Zeit damit, gemeinsam mit einer Lektorin im Verlag oder mit einem Projektmanager Umbaumechanismen zu finden. Wenn ich meine Erfahrungen in solchen Situationen oder als Kunde in der Bank oder beim Versuch, in einem privatwirtschaftlichen Telekommunikationsunternehmen eine Telefonnummer zu ändern, vergleiche mit meinen Schwierigkeiten, einen Personalausweis zu beantragen, erscheint mir die Privatwirtschaft bei solchen Regelprozessen häufig schlechter zu performen. Jedenfalls in Deutschland.
Mit der Firma Metaplan beraten Sie Firmen und Organisationen. Was würden Sie dem neuen Ministerium für Digitalisierung und Staatsmodernisierung denn raten? Auf welche Programme und Erkenntnisse ließe sich zurückgreifen?
Es gibt verschiedene Fallen, in die sie laufen können. Die erste besteht darin, dass jedes Ministerium eine Art Expansionsdrang hat. Nun wurde gegen alle Logik ein Ministerium gegründet, das nichts anderes machen soll, als die Verwaltungsprozesse zwischen verschiedenen Bundesbehörden zu digitalisieren sowie Länder und Kommunen zu beteiligen. Darin besteht seine Kernaufgabe. Außerdem bekommen sie aus dem Verkehrsministerium die Zuständigkeit für den Breitbandausbau. Aber werden sie sich damit begnügen? Das neue Ministerium wird ein Mitspracherecht in verschiedenen Fachfragen anderer Ministerien verlangen.
Nehmen wir zum Beispiel die KfZ-Registrierung. Für diese ist bislang sinnvollerweise das Verkehrsministerium zuständig. Die Frage ist, ob es gelingen wird, eine Struktur aufzubauen, die nicht dafür sorgt, dass plötzlich noch eine Stelle mehr an den Entscheidungsprozessen beteiligt ist. Das kann man im Grunde für jedes Ministerium durchspielen, hat doch jedes seine eigenen Digitalisierungsvorhaben, wobei es um Fachprozesse der Verwaltung geht. Und diese Fachprozesse können nicht an das Digitalisierungsministerium abgegeben werden, weil man dort keine Ahnung von diesen Prozessen hat. Wir haben hier also eine Schnittstellenproblematik. In dem Moment, in dem die anfangen, sich etwa für Mitzeichnungsrechte zu engagieren, kommt es zu einer Verlangsamung des Verfahrens.
Der Minister, Karsten Mildberger, war Manager. Er lobt die „Start-up-Mentalität“ der neuen Behörde. Halten Sie ihn für den Richtigen für diese Stelle?
Egal ob ein Minister aus der Politik, aus der Verwaltung oder aus der Wirtschaft kommt, er ist darauf angewiesen, schnelle Erfolge vorweisen zu können. Er hat ja nicht mehr als vier Jahre Zeit. Es dominiert also ein politisches Kalkül in der Frage der Optimierung von Verwaltungsprozessen. Das halte ich für extrem gefährlich, wenn dieser Minister nicht als Verwaltungsspezialist funktioniert, sondern als Politiker. Zentral wird die Frage sein, wie das Verhältnis vom Ministerium zu den IT-Serviceleistern des Bundes funktionieren wird. Ich bin gespannt, wie sich das entwickelt. Es braucht ja Zeit, bis so ein Ministerium ins Laufen kommt. Wenn man etwas erreichen will, muss es schnell funktionieren. Sollten die erst einmal anfangen, ihre Identität zu suchen und ihr Verhältnis zu den IT-Dienstleistern zu bestimmen, sind vermutlich die vier Jahre rum, bevor die Suche abgeschlossen ist. Daher halte ich die Errichtung dieses Ministerium für einen politischen Fehler.
Dass in vier Jahren Enttäuschung über den Stand der Digitalisierung und Staatsmodernisierung herrschen wird, ist nicht ausgeschlossen, eher wahrscheinlich. Wer so ein Ministerium ins Leben ruft, weckt schwer zu erfüllende Erwartungen. Bisher haben wir lediglich über die schwierige Kommunikation zwischen Bundesministerien gesprochen. Das betrifft den Alltag der meisten nur sehr vermittelt, sie bekommen davon wenig mit.
Die Kompatibilität von E-Personalakten zwischen dem Entwicklungs- und dem Außenministerium gehört gewiss nicht zu den Dingen, die uns als Bürger:innen primär umtreiben. Das interessiert entweder Beamt:innen, die dafür bezahlt werden, sich damit auseinanderzusetzen, oder Fans, die sich für Verwaltungsprozesse interessieren – so wie ich als Wissenschaftler. Darin liegt aus meiner Sicht das große Problem. Seit Jahren hat man es mit immer neuen Modellen versucht, mit einer Staatsministerin im Kanzleramt, mit der Verlagerung der Digitalisierung ins Bundesinnenministerium, parallel dazu gab es eine Abteilung im Verkehrsministerium. Nun versucht man die ganz große Lösung. Der Effekt ist der, den Sie beschreiben. Am Ende wird es noch größere Frustration geben – und dann wird man keine anderen Optionen mehr haben, man hat ja alles ausprobiert.
Ich sehe noch ein anderes Problem. Entbürokratisierung klingt toll: weniger Papierkram, weniger Berichtspflichten, schnellere Entscheidungen. Aber weiß man genau, wohin man will? Gibt es eine klare Vorstellung, was mit „Staatsmodernisierung“ gemeint sein soll? Viel diskutiert wurden die Empfehlungen der Initiative für Staatsreform, der Julia Jäkel, Thomas de Maizière, Peer Steinbrück und Andreas Voßkuhle angehören. Taugen die etwas?
Zunächst muss man zugestehen, dass diese Kommission ungewöhnlich erfolgreich gewesen ist, vieles aus ihrem Zwischenbericht wurde nahezu wörtlich in den Koalitionsvertrag übernommen. Allerdings waren die Empfehlungen in sich widersprüchlich und in vielerlei Hinsicht unausgegoren. Ein weiterer Widerspruch besteht schon in der Grundintention der Kommission. Einerseits wird ein handlungsfähiger Staat gefordert, der „Innovationen fördert“ und „Bremsklötze löst“ andererseits aber bei der Entwicklung von Gesetzen die Einführung von Klima-, Energie- und Sozialchecks eingefordert. Gegen die Förderung von Innovationen und das Lösen von Bremsklötzen wird – jedenfalls solange man nicht an einem Abhang steht – niemand etwas haben, aber es ist klar, dass die Einführung von Klima-, Energie- und Sozialchecks im Gesetzgebungsprozess, deren Einhaltung vom Normenkontrollrat überwacht wird, erst einmal nichts anderes als mit besten Intentionen angezogene Bremsklötze sind. Die Lösung der Probleme wird häufig in noch mehr Checks, noch mehr Koordinationsgremien gesehen. Wir wissen aus der Digitalisierungspolitik, dass diese Gremienvervielfältigung nicht dazu beiträgt, Prozesse zu beschleunigen. Im Gegenteil, sie verlangsamen sich, weil verschiedene Personen in diesen Gremien zusammengezogen werden. Nun sitzen in dieser Kommission – wie in anderen auch – hochintelligente Menschen mit vielen praktischen Erfahrungen. Es liegt nicht an ihnen, dass die Empfehlungen nicht überzeugen, es liegt an der Art, wie solche Kommissionen arbeiten. Da gibt es Expertengruppen, die zuarbeiten. Denen gehören wiederum Interessensvertreter:innen an, die ihre eigenen Logiken haben und immer reinrufen: „ich hab da was, ich hab da was“. Alle Vorschläge werden zusammengetragen und am Ende hat man eine wilde Mischung von Ideen, die nicht auf Konsistenz geprüft werden, da in den Kommissionen ja auch niemand eine Umsetzungsverantwortung hat. So kommen Listen zustande, die suggerieren, es gäbe ein Riesenproblem mit dem Staat – und dreißig Maßnahmen dagegen. Ich war sehr überrascht, wie positiv dieses Papier der Initiative für Staatsreform beurteilt und kommentiert worden ist. Das kann ich mir nur damit erklären, dass der Anti-Demokratie-Talk und das populäre Argument, Demokratieverdrossenheit hänge damit zusammen, dass unser Staat nicht handlungsfähig sei, derart etabliert sind, dass man gar nicht auf die Idee kommt, ein solches Papier auf Konsistenz zu prüfen.
Die Geschichte der Entbürokratisierungsversuche ist lang. Die Universitäten waren Labore dafür. Das Erste, was meist empfohlen wird, sind flachere Hierarchien, dann soll es Wettbewerb geben, zudem setzt man auf Selbststeuerung statt auf Detailmanagement und Anweisungen von oben. Nun sagen Sie, das hilft alles nicht weiter. Warum?
Da gibt es unterschiedliche Gründe, die man auseinanderhalten sollte. Enthierarchisierung, so lautet ein soziologisches Standardargument, führt zur Vermehrung von Machkämpfen. Organisationen, die sich enthierarchisieren, sind in der Regel langsamer und deutlich schwächer, wenn es darum geht, durchgreifende Entscheidungen zu treffen. Das Musterbeispiel ist der selbstverwaltete Betrieb. In dem finden Sie eine hohe Identifikation der Mitarbeiter:, aber kaum ein selbstverwalteter Betrieb ist zu Sprunginnovation in der Lage oder dazu, sehr schnell auf Krisen zu reagieren. Das ist eine Schwäche dieser Struktur, für die man ansonsten sehr viel Sympathie haben kann.
Hinter dem Gedanken der Verwettbewerblichung steht das Modell des Marktes, von dem man annimmt, er funktioniere effizienter, besser als der Staat. Das Problem ist, dass wir es in den seltensten Fällen mit einem wirklichen Markt zu tun haben. Daher erhöht sich die Bürokratielast. Man braucht dann eigene Organisationen, die nichts anderes tun, als hochbürokratisch die Erreichung der vereinbarten Ziele zu kontrollieren. Zugleich bleiben in den Verwaltungen die staatlichen Zielvorgaben erhalten, die Wenn-Dann-Programme, an denen sich die Leistungserbringer zu orientieren haben. Man bekommt also durch Verwettbewerblichung einen doppelten bürokratischen Prozess: die bürokratische Überwachung der Zielerreichung und die Einhaltung der staatlichen Reglementarien, also dass Personen entsprechend des öffentlichen Tarifs bezahlt werden, dass Bewirtungskosten entsprechend der geltenden Verordnungen abgerechnet werden, Reisekosten nach dem Bundesreisekostengesetz und so weiter und so fort.
Ähnliches gilt für die zielorientierte Führung: Verwaltungen funktionieren normalerweise nach dem Wenn-Dann-Prinzip, also wenn der Antrag reinkommt, ist erst dieses und dann jenes zu tun. Versucht man, die Verwaltungen auf Zielsteuerung umzustellen, hat das eine Vielzahl von Nebeneffekten zur Folge, die zusätzliche Energien binden. Das kennen wir alle aus „The Wire“.
Inwiefern?
„The Wire“ ist eine Serie, die alle an Soziologie Interessierten gut finden, sie dreht sich um Polizei und Stadtverwaltung in Baltimore. In der 3. Staffel wird die Polizei von Konditionalprogrammierung auf Zielprogrammierung umgestellt. Da heißt es: Ihr habt bestimmte Kriminalitätsreduzierungsvorgaben, an denen Ihr Euch orientieren müsst. Das führt in der Serie zu zwei nicht intendierten Nebeneffekten. Zum einen nehmen es die Polizist:innen mit der Gesetzesbindung nicht mehr ganz so genau, weil sie ja die Zielvorgabe haben, Kriminelle festzunehmen. Vor allem aber setzen sie, zweitens, eine Reihe der üblichen Tricks zur Erfolgsvortäuschung ein. Man weiß ja, wie man Zahlen so manipuliert, dass es am Ende gut aussieht. Die Zielorientierung führt dazu, dass die Aufmerksamkeit plötzlich auf Zahlen gerichtet ist, und die Polizist:innen beginnen, die Zahlen so zu konstruieren, dass sie Erfolge melden können. Das ist mit einem hohen bürokratischen Aufwand verbunden, da die Zielerreichung überwacht werden muss. Dafür werden eigene Behörden gegründet, eigene Berater:innen engagiert. Auch wer auf Zielsteuerung umstellt, befördert also Bürokratisierung.
Überspitzt kann man sagen, all das, was unter dem Label New Public Management in den zurückliegenden dreißig Jahren zum Zweck der Entbürokratisierung eingeführt worden ist, hat sich als starker Bürokratietreiber erwiesen. Das wird allerdings kaum thematisiert.
Würden Sie dem Umkehrschluss zustimmen? Wenn man effiziente, schmale Verwaltungen will, dann sollte man für klare Hierarchien sorgen, für Zentralisierung von Entscheidungsprozessen und für eiserne Regeln, damit sich Informalitäten in Ruhe am Rande entwickeln können. Wäre das eine richtige Schlussfolgerung?
Ja, hinzukommen müsste unbedingt ein in hohem Maße professionelles Selbstverständnis der Beamt:innen. Das war ja mal die Idee, das leitende Prinzip des preußischen Staates. Die damit verbundene Beamtenidentität hat sich lange gehalten, das Selbstverständnis: Wir als Beamt:innen sind die Fachexpert:innen für bestimmte Sachfragen und für die rechtskonforme Umsetzung nach sachlichen Kriterien getroffener Entscheidungen. Damit leisten wir Zuarbeit für die Politik. Nimmt man das hinzu, halte ich die Strategie der Zentralisierung, Hierarchisierung, der klaren Regeln für eine, über die man nachdenken sollte. Wenn aber eine verbreitete Vorstellung ist, die Zahl der Beamt:innen in Ministerien gehöre reduziert, um Bürokratie abzubauen, führt das zu Entprofessionalisierung; die Behörden werden von externen Dienstleister:innen abhängig. Und diese Art von Abhängigkeit führt wiederum zu neuen Bürokratisierungseffekten. Das Stichwort dafür lautet Vergabeverfahren. Es gibt gute Gründe für detaillierte Regeln bei der Vergabe öffentlicher Aufträge, aber das Verfahren verlangsamt die Leistungserbringung.
Es gibt ja noch die Entbürokratisierungsmethode mit der Kettensäge. Scheint diese nicht geboten, wenn – wie Sie gesagt haben – die bisherigen Entbürokratisierungsversuche zu mehr Bürokratie führen?
Angesichts dessen, was wir unter Milei in Argentinien, unter Musk in den USA beobachten, muss man zunächst die Frage stellen: Wem nützt das? Die Perspektive „cui bono“ führt in der Regel zu soziologisch plumpen Antworten, aber sie müssen deswegen ja nicht falsch sein. Für die USA ist sehr genau nachgewiesen worden, dass Musks „Entbürokratisierungs“maßnahmen vor allem in den Bereichen stattfinden, in denen er selber mit seinen Unternehmen aktiv ist. Wenn ich in der Raumfahrt operiere, ist es für mich vorteilhaft, Behörden zur Flugüberwachung oder für Genehmigungen so zu schwächen, dass sie ihre Kontrollfunktion faktisch kaum noch wahrnehmen können. Wenn ich im Bereich der Künstlichen Intelligenz aktiv bin, möchte ich auch die Regulierung dieses Feldes weitgehend loswerden. Man erkennt an Beispielen wie Argentinien oder den USA das große Problem des Entbürokratisierungsdiskurses. In Deutschland ist das bisher ja vor allem Rhetorik, ein Diskursphänomen. Wenn einem ein spezifisches Gesetz missfällt, gibt es ein probates Mittel dagegen: Man sagt einfach „Wir ersticken in Bürokratie“. Man missbraucht das allgemeine Bürokratie-Bashing, um gegen bestimmte Regeln vorzugehen, die man sich vom Hals schaffen will. Es deutet sich auch in Deutschland an, dass man damit erfolgreich sein kann. Man polemisiert dann nicht gegen die Intention, die hinter bestimmten Gesetzen steht, sei es der Exportkontrolle oder des Arbeitsschutzes, sondern sagt: Die Bürokratie stört. Das ist aus der Rationalität der Interessensverbände nachvollziehbar, trägt aber zu einer Delegitimierung des Staates bei. Anders als oft zu hören, trägt nicht die Bürokratie zur Delegitimierung des Staates bei, sondern die Form der Bürokratiekritik, die mit Interessen verbunden ist, die nicht klar artikuliert, sondern als Bürokratiekritik maskiert werden, die den Eindruck erweckt, dass der Staat nicht handlungsfähig ist. An dieser Stelle muss man den Diskurs drehen. Politiker:innen sagen ständig, das Staatsversagen gefährde die Demokratie. Stattdessen muss man sagen: Diejenigen, die ununterbrochen Bürokratie-Bashing betreiben, um ihre eigenen, sehr partikularen Interessen durchzusetzen, befördern die Delegitimierung des Staates.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky, Stephanie Kappacher.
Kategorien: Demokratie Digitalisierung Gruppen / Organisationen / Netzwerke Politik
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