Dietmar Dath | Essay |

Wieso dauernd dieser Überbaukrempel?

Georg Lukács als prosowjetischer Denker

Wenn westliche linke Gesellschaftskritik die Texte liest, in denen Georg Lukács die politischen und kulturellen Leitideen der reifen Sowjetunion und der nach dem Zweiten Weltkrieg ausgerufenen sozialistischen Staaten in deren Einflusssphäre erläutert und verficht, dann greift sie sich entsetzt an den Kopf, in dem jede Menge Zeug wohnt, das der jüngere Lukács geschaffen hat. Wie kann es sein, fragt sich die ergraute Minerva, dass dieser scharfsinnige Mensch Konzeptionen des „sozialistischen Realismus“ gegen „bürgerliche Dekadenz“ in Stellung bringt (mit welchen Kautelen und Verfeinerungsvorschlägen im Einzelnen auch immer)? Wie ist das möglich, dass er Größen vom Rang Nietzsches und Schopenhauers zu bloßen Verfallsdenkern im heranrollenden Imperialismus und im geistesgeschichtlichen Abschwung der Aufklärung stempelt? Wie geht es zu, dass er sogar anerkennende, ach was, bewundernde Sätze über Stalin schreibt?

Die sind ja nicht nur Wegwerferwähnung[1]en in von sozialistischen Verlagen gedruckten Aufzählungen der marxistischen Großen, wo Stalins Name zu dessen Lebzeiten möglichst hinter demjenigen Lenin genannt werden sollte. Es geht vielmehr um Stellen wie in der Abhandlung „Der junge Hegel“: „Die von Stalin initiierte ‚Leninsche Periode‘ der philosophischen Entwicklung müsste auf jedem Gebiet der Philosophie diese Wege des dialektischen Materialismus gehen und durch eine solche philosophische Praxis das Erbe der Periode der II. Internationale endgültig liquidieren“; oder die Passage aus „Die Zerstörung der Vernunft“, die lautet: „Sogar die Kommunistische Partei Deutschlands war unter dem Einfluss der ideologischen Fehler Rosa Luxemburgs am Anfang ihrer Entwicklung nicht frei von einem nationalen Nihilismus, den erst das Vorbild der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und namentlich die Stalinsche Lösung der nationalen Frage überwinden halfen.“[2]

Lukács rühmt Stalin an diesen beiden Stellen philosophische und politiktheoretische Verdienste nach, nicht einfach nur Steuermannsleistungen, geschickte Machtausübung, Strategie und Taktik. Die Ausgaben der Werke von Lukács, nach denen ich das zitiere, sind 1954, ein Jahr nach Stalins Tod, in der DDR erschienen, im Aufbau Verlag.

Einige meiner liebsten älteren Genossinnen und Genossen halten den Schaffensabschnitt des ungarischen Denkers, zu dem sie gehören, für seinen wertvollsten. Das sind Leute, deren Weltzugang man arg vergröbern und entstellen müsste, wollte man ihn „Stalinismus“ nennen. Sie sprechen bei jener Aufbau-Ausgabe in Anspielung auf deren Einbandfarbe von der „blauen Periode“ bei Lukács, die sie schätzen.

Merkwürdigerweise nun mögen nicht wenige Leute aus diesem Personenkreis, weil sie eben keine Stalinistinnen oder Stalinisten sind, auch die Kritik des späten Lukács an dem, was er „die Stalinsche Zeit“ nannte, und zwar, um eine jener Genossinnen (mit ihrer Einwilligung) direkt zu zitieren, weil „das, was Lukács dazu sagt, eben marxistische Kritik ist, nicht moralische, linksromantische, gewaltfrei-idealistisch-verträumte“.

Sie bezieht sich dabei etwa auf Sätze, die Lukács 1970 in einem Gespräch mit Dieter Brumm und Fritjof Meyer gesagt hat, einer Kennzeichnung des in den Staaten des Warschauer Vertrags eingerichteten gesetzgebenden Systems: „Das ist eine merkwürdige Zwitterform, die wir gemacht haben eben in der Stalinschen Zeit, als Stalin die allerdings schon ziemlich verkommenen Überreste der zentralen Arbeiterräte in Parlamente verwandelt hat. Meiner Ansicht nach hatte er, obwohl das Rätesystem damals lange nicht mehr das war, was es 1917 bis 1920 gewesen ist, unrecht gehabt und einen Schritt rückwärts gemacht; denn der Parlamentarismus ist ein System, das gewissermaßen zur Manipulation von oben eingerichtet ist. Ich meine, ursprünglich wurde, sagen wir, das englische Parlament von den Grundbesitzern manipuliert. Und lange Zeit war in England eben der der Abgeordnete, den der Grundbesitzer dieses Bezirks geschickt hat. Jetzt ist die Sache zu einer allgemeinen kapitalistischen Manipulation geworden, und im Grunde genommen ist also in den entscheidenden Ländern wie Amerika der ganze Parlamentarismus eine Geldfrage geworden.“[3]

Wer diese Passage versteht, hält den Schlüssel auch zur „blauen Periode“ in der Hand. Denn Lukács kritisiert hier etwas, das in sozialdemokratischer, grüner, rätekommunistischer, trotzkistischer und jedenfalls ganz sicher in liberaler oder rechter oder christlicher sowie allgemein westlicher Kritik an Stalin nicht vorkommt – gegen die Moskauer Prozesse, gegen die Lager, die Repression überhaupt reden und schreiben alle, aber wer außer Lukács hätte Stalin je eine zu große Nähe zu westlichen, kapitalistischen Einrichtungen vorgeworfen?

Mit seinem sowjetischen Waffenbruder Michail Alexandrowitsch Lifschitz, Verfasser von Werken wie „Marx und die Ästhetik“ (deutsch 1960) und „Krise des Hässlichen. Vom Kubismus zur Pop Art“ (deutsch 1971), den Lukács im sowjetischen Exil kennenlernte und dem er „Der junge Hegel“ widmete, hat Lukács einfach einen Blick auf Stalin und die gesamte sowjetische wie sozialistisch-staatliche Geschichte gemein, dessen Hauptaspekt bei Lifschitz im Aufsatzband „Die dreißiger Jahre“ (deutsch 1988) nachgelesen werden kann: „Im Kampf gegen die bürgerliche Reaktion des zwanzigsten Jahrhunderts verteidigt unser Land die fortschrittliche Weltanschauung“.

Das klingt stumpfer und schematischer, als es gemeint ist – man muss es nur mit historischem Inhalt füllen, um es einordnen zu können: Unter „die bürgerliche Reaktion des zwanzigsten Jahrhunderts“ fällt für Lukács vielerlei, das man im Westen, auch bei der westlichen Linken, nicht zusammenzudenken, nicht unter einen allgemeinen Mantelbegriff zu subsumieren gewohnt ist, nämlich der chauvinistische Verrat der Zweiten Internationale am Beginn des Ersten Weltkriegs wie das Verhalten der SPD beim Abwürgen des sozialistischen Revolutionsversuchs in Deutschland, aber auch die Niederschlagung des ungarischen, den Lukács persönlich erlebt hat, und dann der deutsche und italienische Weg in den Faschismus, dessen Sieg die dortigen Parlamente jedenfalls nicht aufhalten können.

Anders als die im Westen ersonnene Totalitarismus-Theorie, die Stalinzeit und Hitlerdiktatur zwei Aspekte einer Sache findet, hängen für Lukács Phänomene zusammen, die in der Totalitarismus-Theorie nicht als Weltübel betrachtet werden, eben die reformistisch gewordene, dann chauvinistische Sozialdemokratie, das amerikanische Geldparlament, der Faschismus und viele andere westliche Unerfreulichkeiten sehr unterschiedlichen Grades von Grauen. Worin sie zusammenhängen, das sind die ihnen allen gemeinsamen gesellschaftlichen Besitzformen, die herrschen, wo jene Phänomene vorkommen.

Was soll man dazu sagen, im Jahr 2021?

Wer Georg Lukács vorwurfsvoll nach Stalin fragt, verhält sich ein wenig wie die linkssozialistische, sozialdemokratische, anarchistische und kommunistische Kritik an Karl Kraus, die jenem, als er sich zu Engelbert Dollfuß bekannte, vorhielt, sein politisches Denken sei zusammengeschnurrt zu „Alles nur nicht Hitler“, worauf Kraus erwiderte, ganz recht, „ich denke an nichts als an Alles nur nicht Hitler“.

Als Stalin die Nationalität als politische Kategorie aufwertete, sah Lukács das in der „blauen Periode“ rückblickend als Vorausbedingung dafür, die Sowjetbevölkerung im „Großen Vaterländischen Krieg“ gegen die Wehrmacht zu mobilisieren, und Stalins Kanonisierung von Leninsätzen begriff Lukács als Riegel gegen die Sozialdemokratisierung, deren Folgen für die Arbeiterbewegung Lukács verabscheute.

Soweit er der Meinung war, Stalins Wirken vermeide die Wiederholung westlichen Unheils im Osten, billigte er es, soweit er aber dachte oder entdecken musste, dass dieses westliche Unheil auch in östlicher Form existierte und von Stalin sogar importiert wurde – als manipulierbares Parlament etwa – zog er seine Zustimmung wieder zurück.

Man kann an der Deutung, die ich hier für das Verhalten des reifen Lukács beim Urteilen über die sozialistische Geschichte gebe, natürlich zweifeln – etwa, indem man fragt: Wenn es Lukács wirklich so zentral, ja fast ausschließlich um den Weltklassenkampf zwischen Gesellschaften mit unterschiedlichen Besitzformen und Produktionsweisen ging, wieso schrieb er dann über Hegel, Nietzsche, Thomas Mann und Gottfried Keller, über Dilthey und den Expressionismus, statt Imperialismusanalysen zu verfassen wie Lenin, Luxemburg oder Bucharin oder gleich politische Publizistik zu treiben wie Ilja Ehrenburg oder Karl Eduard von Schnitzler?

Meine paradoxe Antwort: Weil er Marxist war.

Damit will ich nicht sagen, dass Lenin, Luxemburg, Bucharin, Ehrenburg und von Schnitzler nicht die Grundparameter der Weltbeschreibung und Welterklärung durch Marx geteilt sowie nach ihren sehr unterschiedlichen Fähigkeiten fortentwickelt hätten, oder dass sie nicht die von Marx mit diesen Parametern eng verlötete Programmatik geteilt hätten.

Aber Lukács, der sie ebenfalls teilte, war ausgebildeter Philosoph, und als solcher musste ihm das Verhältnis von Besitz- und Produktionstatsachen einerseits, vulgo „Basis“, und Kunst, philosophischer Doxastik und Geschichte andererseits, vulgo „Überbau“, geläufig und bedeutsam sein, das er bei Marx entworfen und in seinem eigenen Leben wie Denken bestätigt fand.

Der Überbau ist nun aber nur einer, weil er der Überbau einer Basis ist. Die Basis wieder, so geht Dialektik, ist ohne Überbau keine – der Überbau als sprachliche, schriftliche, semiotische Vermittlung der Basis macht diese als die Invariante unter den Variablen ihrer Denk- und Bildformen entweder sichtbar oder verbirgt und vernebelt sie.

Das Tier hat keine ökonomische Basis, weil es keinen Überbau kennt, es lebt von der Klaue in die Schnauze, von der Kralle in den Schnabel, von jetzt auf gleich. Es hat keine Geschichte. Überbau produziert soziale Form für sozialen Inhalt, alle seine Unterscheidungen (Dualismus/Monismus, Nominalismus/Realismus, Idealismus/Materialismus, Klassik/Romantik, Neopositivismus/Kritische Theorie, Strukturalismus/Poststrukturalismus, Theorie des kommunikativen Handelns/Systemtheorie, Klassenpolitik/Identitätspolitik, Globalisierung/Renationalisierung, Digitalisierung des Finanzwesens/Lieferketten der Produktenwirtschaft … ) sind jeweils Pole, zwischen denen gesellschaftliche Spannungen anliegen. Marx, von dem Lukács kommt, sagt, der soziale Inhalt all dieser sozialen Unterscheidungen seien Klassenkämpfe.

Was soll man dazu sagen, im Jahr 2021? Mit einem Denker wie Lukács vor dem inneren Auge (sagen wir: als Verfasser der Klage über das „Zerreißen des Menschen in ein Element der Warenbewegung und in einen objektiv-ohnmächtigen Zuschauer“) sowie den neuesten Nachrichten (sagen wir: Klinikschließungen in der Pandemie aus ökonomischem Grund) vor dem äußeren Auge wird diese kühne Behauptung von Marx, sofern man ohne Angstblinzeln und Tränenschleier hinschaut, täglich plausibler.

  1. Georg Lukács, Der junge Hegel, Berlin 1954, S. 642.
  2. Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Berlin 1954, S. 62.
  3. „Das Rätesystem ist unvermeidlich“. Georg Lukács im Gespräch mit Dieter Brumm und Fritjof Meyer, in: Georg Lukács, Ästhetik, Marxismus, Ontologie. Ausgewählte Texte, hg. von Rüdiger Dannemann und Axel Honneth, Berlin 2021, S. 496.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky.

Kategorien: Geschichte Gesellschaftstheorie Kapitalismus / Postkapitalismus Philosophie

Dietmar Dath

Dietmar Dath, Jahrgang 1970, war Chefredakteur der Zeitschrift Spex und ist Filmkritiker im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er schrieb Romane, Theaterstücke, Lyrik und Essays zu ästhetischen, wissenschaftlichen und politischen Themen. 2020 veröffentlichte er „Hegel. 100 Seiten“.

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