Jens Bisky | Zeitschriftenschau |

Aufgelesen

Die Zeitschriftenschau im Februar 2023

Einiges spricht dafür, dass die Grenzen zwischen anspruchsvoller und unterhaltender Kunst gegenwärtig weniger streng bewacht werden als noch vor einem halben Jahrhundert. Eliten und Bessergestellte kultivieren heute oftmals einen vielfältigen Geschmack, der tradierte Wertungen dem Anschein nach souverän ignoriert. Kulturelle Offenheit und Neugier stehen in hohem Ansehen, die Kenntnis des jeweiligen Kanons der unterschiedlichen Künste scheint nicht mehr so wichtig für die Position im sozialen Raum. Gleichwohl ist kulturelles Kapital als individuelles Vermögen wie als soziales Distinktionsmerkmal nach wie vor gesellschaftlich präsent und wirksam, was die Frage nach den veränderten Regeln seines Erwerbs und seiner Inszenierung aufwirft.

Einen interessanten Zugang zur Beantwortung dieser Frage präsentieren Annick Prieur, Mike Savage und Magne Paalgard Flemmen in einem Forschungsbericht, der vor wenigen Tagen auf den Seiten des British Journal of Sociology vorab veröffentlicht wurde. In „Distinctions in the making: A theoretical discussion of youth and cultural capital” untersuchen sie den Kulturkonsum junger und weniger junger Leute im Alter zwischen fünfzehn und dreißig Jahren sowie deren Beurteilungskriterien und Wertmaßstäbe. Geschickt umgehen sie damit die ausgetretenen Pfade der Diskussion um „kulturelle Allesfresser“, sie schließen unmittelbar an Pierre Bourdieus Konzept des kulturellen Kapitals an und konfrontieren es mit einer Fülle neuerer Studien.

Bourdieu unterschied bekanntlich institutionalisiertes, objektiviertes und inkorporiertes kulturelles Kapital. Prieur, Savage und Flemmen skizzieren gleich zu Beginn ihres Berichts wesentliche Veränderungen für alle drei genannten Formen: Bildungsabschlüsse verlieren an Wert; die weitere Karriere ist weniger vom formalen Abschluss abhängig als vom Prestige der Universität, an der er erworben wurde; und schließlich eröffnet die Digitalisierung gerade Jüngeren neue Möglichkeiten des Kulturkonsums neben oder anstelle von Kunst- und Büchersammlungen: „New generations of the cultural capital-rich will probably not stock up on books, records, and movies (although there are countertrends, like the revival of vinyl).“ (S. 5) Dieser Trend verdiente, wie es im Aufsatz heißt, in der Tat genauere Untersuchungen, zumal es angesichts des Kunstmarktgeschehens schwerfallen dürfte, die Demonstration kulturellen Kapitals von der Investition in ökonomisches Kapital trennscharf zu unterscheiden. Der Kauf des richtigen Kunstwerks zum richtigen Zeitpunkt wirft heutzutage unter Umständen mehr Gewinn ab als der einer Immobilie.

Im Zentrum des Interesses der Autoren stehen aber vor allem die inkorporierten Dispositionen. Bourdieu hob die ausgestellte Interesselosigkeit des gehobenen Geschmacks hervor, Folge und Ausdruck dessen, dass man Not und Zwängen enthoben ist, Ergebnis einer langen, am besten schon in jungen Jahren begonnenen Erziehung. Wie die Autoren zeigen, sind die Gegenstände des Kulturkonsums heute weniger wichtig als die Arten und Weisen, in denen er zelebriert wird. Auch unter kulturellen Allesfressern gibt es, pointiert gesagt, feine und grobe Unterschiede: Die einen nehmen, was ihnen vorgesetzt wird, die anderen wählen sorgfältig und mit Sinn für Nuancen.

Im zweiten Teil behandeln Prieur, Savage und Flemmen vier „key dimensions of young people’s cultural capital“: die Rolle der klassischen Hochkultur, die Attraktivität der Popkultur, Distinktion im Digitalen und moralisch-politische Positionen. In ihrer Analyse konzentrieren sie sich auf neuere Studien zu nord- und westeuropäischen Ländern, wobei ihr besonderes Augenmerk Norwegen gilt, weil dieser Fall besonders gut untersucht ist und interessante Eigenheiten aufweist: So ist Norwegen einerseits für seine egalitäre Kultur bekannt, und obwohl die Einkommensungleichheit seit den 1990er-Jahren zugenommen hat, ist sie nicht so stark gestiegen wie etwa in Großbritannien, Frankreich oder Deutschland. Andererseits sind Vermögen in Norwegen sehr ungleich verteilt (Gini-Koeffizient: 0,83); die Luxemburg Income Study zeigt nur für die USA und Schweden eine größere Ungleichheit in der Vermögensverteilung.

Wie unterscheiden sich nun, so die Ausgangsfrage, junge Menschen aus kulturell privilegierten Familien von anderen? Wenig überraschend ist der Befund, dass die Bedeutung der klassischen Hochkultur und das Interesse an ihr auch bei ihnen abgenommen haben, doch sind junge Menschen mit höherer Bildung nach wie vor häufiger vertraut mit den kanonischen Werken aus Musik, Literatur und Kunst. Die Autoren verweisen auf den Fall einer Eliteschule in Oslo, die von vielen Schüler:innen aus kulturell privilegierten Familien besucht wird, die sich, auch in Abgrenzung zu anderen Schulen, für klassische Kultur und akademische Werte begeistern. Sie vereinen Weltoffenheit, „more ,cosmopolitan‘ tastes“ und Interesse für neue, anspruchsvolle Literatur mit Enthusiasmus für Latein, antike griechische Philosophie und klassisches Theater – ohne dies jedoch demonstrativ zur Schau zu stellen. Den Autoren zufolge sind es gerade jene Jugendlichen, die aus Familien mit großem kulturellem oder ökonomischem Kapital stammen, die dazu neigen, ihre Position und ihren Lebensstil in Begegnungen mit weniger Privilegierten herunterzuspielen. Ähnlich wie viele Vertreter der Wirtschaftseliten bemühen sie sich um ein weniger elitäres, demonstrativ bescheidenes und durchschnittliches Auftreten. Snobismus ist bei ihnen verpönt. Exklusiv geht es bei ihnen dennoch zu, wird doch die klassische Hochkultur zum Erkennungszeichen derer, die dazugehören, über den angemessene Code verfügen – „what might be seen as the sociological equivalent of the Freemasons handshake“ (S. 8). Vor allem aber geht die neue Bescheidenheit, wie auch Studien über Wohlhabende in Manhattan oder Kreative in London zeigen, mit Prozessen sozialer Schließung einher. Kurz: Man behandelt weniger Privilegierte nicht mehr von oben herab, bleibt aber trotzdem lieber unter sich.

Dieses Verhalten prägt nach Ansicht der Autoren auch und gerade den Umgang der Jugendlichen mit populärer Kultur. Man ist aufgeschlossen, meidet jedoch das allzu Vulgäre oder Leichte. Stattdessen wird Kennerschaft demonstriert, die Fähigkeit, Qualität auch auf popkulturellem Gebiet zu erkennen. Oder man amüsiert sich bewusst unter Niveau: „I love crap TV“ – der Satz drückt aus, dass man nicht verbissen ist und die kulturellen Codes bestens kennt, besser als jene, die hilflos dem Kommerz verfallen sind und die Ausschussware der Kulturindustrie nicht spielerisch, sondern stumpf konsumieren. Mit Bourdieu sprechen Prieur, Savage und Flemmen hier von „condescending strategies“ (S. 9). In der demonstrativen Überschreitung der Grenze nach unten signalisiert man dem eigenen Milieu, Gleichrangigen und Höhergestellten, dass man die Modi des Kulturkonsums kennt, während man zugleich den Anschein elitären Gehabes gegenüber anderen vermeidet.

Etwas knapp fallen die Bemerkungen der Autoren zu „digital distinctions“ aus. Die Jüngeren, die mit der digitalen Revolution groß geworden sind, haben sich demnach überwiegend von traditionellen Medien abgewandt. Allerdings lassen sich in ihrem Nutzungsverhalten gleichwohl Unterschiede feststellen: die einen informieren sich auf Nachrichtenseiten, andere in sozialen Medien; die einen nutzen das Netz für ihr Studium, die anderen suchen Unterhaltung; die einen folgen Greta Thunberg, die anderen Influencer:innen. Wichtig ist das Netz schließlich für die Politisierung von Lebens- und Lebensstilentscheidungen, etwa im Hinblick auf Ernährungsfragen. Gerade jene, die über viel kulturelles Kapital verfügen, mischen dabei häufig politisch-moralische Erwägungen mit ästhetischen. „This mode of politicised distinction and boundary drawing operates an interplay between cultural capital and age, as the complex manouevring requires both symbolic mastery of cultural capital and alertness to new issues.” (S. 11) Mit der Politisierung von Lebensstilentscheidungen werden nicht nur Grenzen zu älteren Generationen gezogen, sondern auch zu anderen Klassen oder Milieus innerhalb der eigenen Kohorte.

Kulturelles Kapital bleibt wichtig, so das Fazit des Aufsatzes, „but it‘s form is undergoing subtle changes as it turns inwards“ (S. 12). Die Jüngeren aus bessergestellten Familien zeigen, dass sie die Regeln des Spiels kennen und beherrschen, auch wenn sie ökonomische, soziale und kulturelle Ungleichheiten kritisieren. Sie sind Virtuosen im Wechsel zwischen Genres und Medien. Sie fordern die Älteren und Etablierten heraus, aber jene aus wohlhabenden Elternhäusern positionieren sich damit auch als „well prepared inheritors. The inequities of cultural capital continue, though perhaps in a less overt and visible form.” (S. 12). Bei aller Aufmerksamkeit für Neuerungen und Wandel bleiben Prieur, Savage und Flemmen aber auch die Kontinuitäten nicht verborgen, allen voran die weiter bestehende kulturelle Dominanz der bürgerlichen Schichten.

Nach der Lektüre des Aufsatzes, der auf wenigen Zeilen verwickelte Verhältnisse und Entwicklungen charakterisiert, bleiben Fragen: Wie reagieren die Älteren? Wie agieren die Jüngeren, denen es an Mitteln und Möglichkeiten fehlt, mehr kulturelles Kapital zu erwerben? Es dürfte lohnen, den Streit um das, was als kulturell wertvoll und legitim gilt, näher zu analysieren. Zumal der ebenso dichte wie anregende Aufsatz den Eindruck erweckt, dass in erster Linie linksliberale, antirassistische und klimaschutzaktivistische Positionen zur Distinktion genutzt werden, als ob Rassismus, Abwertung von Frauen, homosexuellen oder nonbinären Lebensmodellen nur bei den „lower in the social space“ verorteten Schichten anzutreffen seien. „Exklusivität durch Offenheit“ hatten Sighard Neckel, Lukas Hofstätter und Marco Hohmann der „globalen Finanzklasse“ in einer Studie aus dem Jahr 2018 attestiert.[1] „Soziale Abschottung bei kultureller Öffnung“ könnte man in Anlehnung daran wesentliche Befunde von „Distinctions in the making“ zusammenfassen. Sieht so das Gesamtbild aus? Man ist geneigt, es zu vermuten, würde es aber gern genauer wissen.

Vermögen sind auch in Deutschland bekanntermaßen ungleich verteilt; jede fünfte Person hat keines, das eine Prozent der Reichsten verfügt über 35 Prozent des Gesamtvermögens. Dennoch haben sich die Vertreter:innen von Ungleichheitsforschung und Klassenanalyse nur wenig mit diesem Umstand befasst. Um das zu ändern, fragt Nora Waitkus in einer unbedingt empfohlenen Abhandlung nach den „Perspektiven einer klassensoziologischen Untersuchung von Vermögen“. Unter dem Titel „Ungleicher Besitz“ hat das Berliner Journal für Soziologie den Text jüngst veröffentlicht – online first. Die Ungleichheit in der Vermögensverteilung ist weder im diachronen noch im synchronen Vergleich eine Ausnahme, aber dennoch ein Problem. Sie wird problematisiert, weil mit Vermögen Prestige und Macht, Anerkennung und Einflussmöglichkeiten einherzugehen pflegen. Außerdem steht sie, so Waitkus „in Widerspruch zu den Idealen einer meritokratischen Gesellschaft“ – ein Faktum, das gerade manche Liberale gerne übersehen. Mit Arbeiten und Sparen kommen die wenigsten zu einem Vermögen, das Macht und Prestige verspricht. Derlei wird, wie spätestens seit Thomas Pikettys Instant-Klassiker Das Kapital im 21. Jahrhundert alle wissen,[2] vererbt. Allerdings sehen sich diejenigen, die es sich irgend leisten können, zum „Aufbau von Vermögen“ veranlasst und aufgefordert, ihren Wohlstand zu mehren, sei es in Form selbstgenutzter oder/und vermieteter Immobilien, sei es in Form privater Versicherungen oder Rücklagen. Die „Vermarktlichung von Wohlfahrtsleistungen“ sowie die Sorgen um Lebensunterhalt und Status im Alter oder im (gar nicht so unwahrscheinlichen) Fall persönlicher Krisen zwingen dazu. Soziologisch wäre, so Waitkus, danach zu fragen, „inwiefern diese Vermögensunterschiede selbst als Klassenunterschiede verstanden werden können“. Die im niederländischen Tilburg lehrende Soziologin will „Vermögensungleichheiten als Klassenungleichheiten“ diskutieren. In dieser Absicht vergleicht sie drei analytisch-empirische Perspektiven: das Berufsklassenkonzept, das Eigentums- beziehungsweise Besitzklassenkonzept und ein von ihr in Anlehnung an Bourdieu entwickeltes Konzept der Portfolioklassen. Was sieht man wie am besten? Welches Konzept ist geeignet, „Vermögensdifferenzen klassensoziologisch abzubilden“?

Mit guten Gründen wundert sich die Autorin, warum Vermögen in der soziologischen Klassenanalyse vor allem dann eine Rolle spielte, wenn es um ökonomische Eliten ging. Wenigstens für Karl Marx stand das Eigentum an Produktivvermögen beziehungsweise das Fehlen desselben im Zentrum. Die empirische Klassensoziologie hat jedoch meist „individuelle Positionen auf Arbeitsmärkten“ untersucht, obwohl Vermögen nicht ausschließlich als deren Ergebnis verstanden werden kann. Für die Berufsklassenanalyse legt Waitkus daher Daniel Oeschs Klassenschema zugrunde, das sowohl nach Arbeitslogik (unabhängig, technisch, interpersonell-dienstleistungsorientiert usw.) als auch nach marktgängigen Fähigkeiten (etwa: professionell/geschäftsführend, allgemein/beruflich gebildet, gering/ungelernt) differenziert.

Daneben behauptet sich gut die vor allem von Aage B. Sørensen revitalisierte Eigentumsklassenanalyse, die davon ausgeht, dass Klassen auf unterschiedlichen Eigentumsrechten basieren. Zu unterscheiden wäre in dieser Perspektive zwischen Kapitalistinnen/Investorinnen, Eigenheimbesitzerinnen und Mieterinnen.[3] In bourdieuscher Perspektive entwirft Waitkus ein Portfolioklassenmodell und unterscheidet damit ökonomische Elite, finanzialisierte obere Mittelklasse, Hauseigentümerinnenmittelklasse, Einkommensmittelklasse, verschuldete Mittelklasse und Vermögensarme. Damit kommt vor allem die „Zusammensetzung der Vermögen in den individuellen ökonomischen Kapitalportfolios“ in den Blick – und nicht allein die Höhe von Einkommen und Vermögen. Für den Vergleich der Leistungsfähigkeit der drei Konzepte nutzt Waitkus Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP).

Legt man das Portfolioklassenmodell zugrunde, zeigt sich, „dass Personen mit einem ähnlichen Einkommensniveau durchaus erheblich unterschiedliche Portfoliostrukturen aufweisen können, die auf unterschiedliche Anlagestrategien und damit Reproduktionsstrategien hindeuten“. Die Zusammensetzung der Portfolios ist aber entscheidend, wenn man wissen will, ob es sich in der Tat um „sozialstrukturell divergente Gruppen“ oder lediglich um „Klassen auf dem Papier“ handelt. Inwiefern prägt Immobilienbesitz oder das Streben nach diesem den Habitus? Gewiss gibt es keinen Grund, davon auszugehen, dass der Immobilienmarkt als „Ort der Verteilung von Lebenschancen“ wichtiger sei als der Arbeitsmarkt. Wer aber Klassenlagen und Ungleichheiten in ihrer Mehrdimensionalität beschreiben und verstehen will, kann sich mit einfachen Daten über Einkommensungleichheiten und die Höhe von Haushaltsnettovermögen nicht begnügen. Es machen sich ja schon Feuilletonisten darüber lustig, dass sechshundert Euro mehr oder weniger Nettomonatseinkommen über Schichtzugehörigkeit entscheiden sollen, als ob der Zahnarzt in Dessau zur selben Klasse gehörte wie ein Maschinenbaumeister aus Stuttgart.

Waitkus beginnt zurecht mit dem Hinweis auf Marx, um dann mit guten Gründen Differenzierungen einzufordern, die nötig sind, weil Marx’ These von einem großen, alle anderen Unterschiede vernichtenden Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat sich bekanntlich nicht bewahrheitet hat.

Da es die Zusammensetzung des Kapitals berücksichtigt und Differenzen selbst bei ähnlichen Einkommen sichtbar macht – Einkommen aus Arbeit und Vermögen korrelieren nur moderat –, ist das portfoliobasierte Klassenmodell besonders vielversprechend. Für Waitkus ersetzt es allerdings nicht die anderen. Ein detailliertes Berufsklassenkonzept könne „der einfachere Weg zur Operationalisierung auch von horizontalen Portfoliodifferenzen insbesondere der mittleren Klassenlagen sein“. Selbst die einfache Eigentumsklassenanalyse hat Vorzüge: Sie zeigt etwa, dass Eigenheimbesitzerinnen „im Durchschnitt fast sieben Mal so viel Nettovermögen wie die Mieterinnen“ besitzen, während die Kapitalistinnen „fast neun Mal so viel Vermögen“ aufweisen „wie die Eigenheimbesitzerinnen und fast 63 Mal so viel wie die Mieterinnen“.

„Von den Eltern zur Belohnung / und zur eigenen Nervenschonung / und zur ständigen Naherholung / kriegen wir jetzt eine Eigentumswohnung“, singt Christiane Rösinger auf ihrem 2017 erschienenen Album Lieder ohne Leiden.[4] Eine Gesellschaftsanalyse, die den Unterschied zwischen Eigentümerinnen und Mieterinnen vernachlässigt, geht ebenso fehl, wie eine, die allein nach der Höhe des Vermögens fragt und nicht danach, worin es besteht. Ob eine ein Eigenheim bewohnt, ein Kleinunternehmen führt oder über großen Aktienbesitz verfügt, hat für Habitus und Klassenbewusstsein durchaus verschiedene Folgen. Nora Waitkus weist in „Ungleicher Besitz“ verschiedene Wege, dem analytisch beizukommen.

Zeitdiagnostiker kennen viele Kriterien, anhand derer sich die vermeintliche Besonderheit der Gegenwart beschreiben lässt. Ein solches Kriterium ist das Zugleich und Ineinander von Schließung und Öffnung. Mit dem Mauerfall begann – so kann man es in Steffen Maus Sortiermaschinen nachlesen[5] – die Hochzeit der befestigten, scharf bewachten Grenzen. Seit dem Corona-Schock mehren sich die besorgten Fragen nach dem Schicksal der Globalisierung. Der russische Überfall auf die Ukraine hat ihnen neue Dringlichkeit verliehen. Das aktuelle Heft des Journal of Modern European History widmet dem Thema ein eigenes Forum unter dem Titel „Global Dis:connections“. Globalisierung bestehe, schreibt Ronald Wenzlhuemer einleitend, aus vielen kleinen, zusammenhängenden, komplementären Vorgängen: „the term dis:connectivity (…) privileges neither connective nor disconnective processes, but focuses instead on their interplay, which becomes the decisive factor in grasping the social force of globalization” (S. 4). Acht Historiker:innen nutzen die Fragen der Gegenwart als Erkenntnisinstrumente, um zu zeigen, wie sich Einst und Jetzt wechselseitig erhellen. Dabei geht es unter anderem um den Suez-Kanal, um Häfen, Kriegsberichterstattung aus der Feder von Soldaten und Offizieren oder die kaum gesehenen Verbindungen zwischen internationalen Organisationen und lokaler Lebenstüchtigkeit.

Tom Menger behandelt in seinem Beitrag ein Problem, das bis vor Kurzem nur Fachleute interessierte, heute aber alle beschäftigt, die eine Rechnung ihres Energieversorgers im Briefkasten finden: „Energy Dis:connectivity in Europe’s Oil an Gas Supply“. Wie Menger zeigt, war Energieversorgung stets mit geopolitischen Machtverschiebungen verbunden und auf materielle Infrastrukturen angewiesen, die teuer und schwer zu ersetzen waren. Der Sowjetunion fehlte in den 1960er-Jahren die Infrastruktur, um von den gerade entdeckten Gasvorkommen in Sibirien zu profitieren. Es mangelte an „large-diameter pipes and high-performance pumping stations that where needed to domestically transport this gas” (S. 6). Also wandte sich der Kreml an westliche Staaten, und zwar, dies nur zur Erinnerung, in den Jahren nach dem Bau der Berliner Mauer, nach der Kuba-Krise, nach dem Einmarsch in die Tschechoslowakei und der brutalen Niederschlagung des „Prager Frühlings“. 1968 wurde ein erster Vertrag mit Österreich geschlossen, bald darauf weitere Verträge mit der Bundesrepublik und Frankreich. Manche fürchteten damals durchaus, Moskau – unter Leonid Breschnew – könnte die Gaslieferungen im Falle eines Konflikts einstellen. Hätten die Lieferungen aus Algerien und Norwegen dann ausgereicht? Heute wissen wir, dass in der Sowjetunion Überlegungen zur etwaigen Nutzung der Energielieferungen in (geo-)politischer Absicht seinerzeit nicht angestellt wurden; die Kommunisten hatten den Ehrgeiz, verlässliche Geschäftspartner zu sein. Außerdem war die Infrastruktur wichtig für die Integration der in den 1940er-Jahren besetzten baltischen Staaten wie des gesamten sowjetischen Einflussbereiches. 1974 beschloss der Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), dass die DDR, Bulgarien, Ungarn, Polen und die Tschechoslowakei im Gegenzug für den Bau einer Erdgasleitung Gas und auch Öl erhalten sollten. In der DDR wurde die Drushba-Trasse eine große Sache, Zentrales Jugendobjekt der FDJ.

Kaum jemand weiß, dass die sowjetische Regierung sich in dramatischen Augenblicken entscheiden musste, wen sie angesichts fehlender Kapazitäten beliefern würde. Die Entscheidung fiel zugunsten der Europäer westlich der UdSSR, weshalb die ukrainischen Sowjetbürger:innen im Kältewinter 1971/72 aufs Heizen notgedrungen verzichten mussten. Schulen und kommunale Behörden in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik wurden kurzerhand geschlossen. Zum Glück für ihr Gewissen erfuhren die Westeuropäer davon nichts. Sie waren über eine Pipeline mit der Sowjetunion verbunden, aber abgeschirmt von Nachrichten aus dem Inneren des Imperiums: auch das ein Fall von „dis:connection“.

  1. Siehe Sighard Neckel / Lukas Hofstätter / Marco Hohmann, Die globale Finanzklasse. Business, Karriere, Kultur in Frankfurt und Sydney, Frankfurt am Main / New York 2018.
  2. Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, übers. von Ilse Utz und Stefan Lorenzer, München 2014.
  3. Nora Waitkus verwendet in ihrer Abhandlung das generische Femininum.
  4. lyricstranslate.com/de/christiane-r%C3%B6singer-eigentumswohnung-lyrics.html
  5. Vgl. Steffen Mau, Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert, München 2021.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Familie / Jugend / Alter Geld / Finanzen Gesellschaftstheorie Globalisierung / Weltgesellschaft Kapitalismus / Postkapitalismus Konsum Kunst / Ästhetik Methoden / Forschung Politische Ökonomie Soziale Ungleichheit Sozialstruktur

Jens Bisky

Dr. Jens Bisky ist Germanist und arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteur der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Internetportals Soziopolis. (Foto: Bernhardt Link /Farbtonwerk)

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