Harald Bluhm | Rezension |

Aus dem Schrifttum einer viktorianischen Klassikerin

Rezension zu „Harriet Martineau. Intellektuelle, Feministin, Soziologin. Kostproben ihres Schaffens“ von Bernd Lenz und Joanna Rostek (Hg.)

Bernd Lenz / Joanna Rostek (Hg.):
Harriet Martineau. Intellektuelle, Feministin, Soziologin. Kostproben ihres Schaffens
Krit Brit – Die Bibliothek des kritischen Britannien, hrsg. von Bernd Lenz, Manfred Pfister, Helga Quadflieg, Bd. 8
Deutschland
Würzburg 2023: Königshausen & Neumann
293 S., 28,00 EUR
ISBN 978-3-8260-7082-2

Harriet Martineau (1802–1876) war in ihrer Zeit keine Unbekannte. Mit ihrem Buch Society in America (1837) lieferte sie eine lesenswerte Ergänzung zu Alexis de Tocquevilles De la démocratie en Amérique (Bd. 1 1835, Bd. 2 1840) und avancierte zu dessen Gegenspielerin. Außerdem veröffentlichte sie eine wegweisende englische Übersetzung von Auguste Comtes Cours de philosophie positive (6 Bde., 1830–1842), die 1853 unter dem Titel The positive Philosophy of Auguste Comte, freely translated and condensed in London erschien. Comte gefiel diese stark komprimierte Version seiner Theorie so gut, dass er sie für seine Anhänger ins Französische rückübersetzen ließ. Und noch ein Dreivierteljahrhundert später war es kein Geringerer als John Maynard Keynes, der Martineau in seinem legendären Text The End of Laissez-faire (1926) als wirksame Popularisatorin der Politischen Ökonomie hervorhob. Dennoch blieb Martineau die Aufnahme in die Gilde der klassischen Sozialwissenschaftler_innen bis heute versagt. Diesem Missstand will der vorliegende Band abhelfen. Er reiht sich damit ein in die seit den 2000er-Jahren vor allem im angelsächsischen Sprachraum zu beobachtenden Bemühungen um eine Aufwertung Martineaus.[1]

Für das jüngere Interesse an Martineau und für die Relevanz des vorliegenden Bandes werden von den Herausgeber_innen mehrere Gründe genannt: Martineaus Interdisziplinarität, ihre Pionierrolle als Soziologin sowie postkoloniale und feministische Motive ihres Denkens (S. 35). Nicht alle der genannten Aspekte werden in dem Band gleichermaßen deutlich. Die Bezeichnung der ausgewählten Texte als Kostproben ist allerdings gut gewählt, denn das Buch bietet neben einer Erzählung, auf die noch einzugehen ist, eine Sammlung kleinerer Texte und Briefe (S. 173–249). Von den insgesamt 3.000 erhaltenen Briefen haben Bernd Lenz und Joana Rostek 24 ausgewählt, die teils komplett, teils aber auch nur in Auszügen wiedergegeben werden. Adressaten sind vornehmlich prominente Zeitgenossen wie etwa Lord Henry Peter Brougham (1778–1868), Lordkanzler von 1830 bis 1834 und Gründer der Edinburgh Review, der Society for the Diffusion of Useful Knowledge und anderer Bildungsinstitutionen; Florence Nightingale, die berühmte Krankenschwester, die unter anderem die Krankenpflege und insbesondere die Pflege Kriegsverwundeter neu organisierte; der US-amerikanische Schriftsteller Ralph Waldo Emerson, aber auch etwas weniger bekannte Personen wie Henry Reeves (1813–1895), seines Zeichens Tocqueville-Übersetzer und langjähriger Herausgeber der Edinburgh Review. Privates erfährt man aus den Schreiben an Adressaten aus dem Familien- und Bekanntenkreis. Überhaupt äußerte sich Martineau in ihren Briefen sehr offen, weshalb sie ihren Briefwechsel auch keinesfalls veröffentlicht sehen wollte.[2] Ein sehr schönes Beispiel für ihre Direktheit bietet eine Passage zu John Stuart Mill, über den es heißt: „[I]ch weiß seine guten Eigenschaften & Verdienste wohl zu schätzen; aber ich habe den Eindruck, & das bereits seit 20 Jahren, das er ungemein überschätzt wird.“ (Brief vom 21. Feb. 1859, S. 224). Die Einschätzung stammt, wie betont werden muss, aus der Zeit vor dem Erscheinen und der dann einsetzenden breiten Rezeption von Mills enorm wichtigen Schriften On Liberty (1859) und den Considerations on Representative Government (1861). Komplettiert wird der Band durch drei Rezensionen zu Schriften von Martineau, zwei Nachrufe und einen zehnseitigen Auszug aus ihren autobiografischen Erinnerungen. Anhand der Auswahl kann man einen guten Überblick gewinnen.

Das Ziel von Martineaus vielen Schriften ist es stets, ihren Leser_innen Mittel zur Selbstaufklärung und zur eigenständigen Urteilsbildung bereitzustellen. Dazu nutzt sie verschiedene Genres, und zwar auch, um divergierende Schichten ansprechen zu können. Dabei neigt sie nicht zur Selbstüberschätzung, sondern begreift sich als Popularisatorin mit eingeschränkten literarischen Fähigkeiten, die schreibt, ohne dauerhafte „Werke“ zu hinterlassen, wie es autobiografisch heißt (S. 271). Als Autorin, die ihren Unterhalt mit ihrer Feder bestreiten muss und im Umfeld männlicher Autoren in mehrfacher Hinsicht als Außenseiterin zu bezeichnen ist, stellt sie damit jedoch ihr Licht unter den Scheffel. Sie ist insgesamt gesehen nämlich eine sehr produktive Gründerfigur der weit verstandenen Sozialwissenschaften, deren Arbeiten sich keineswegs auf Sozialreportagen und Reiseberichte beschränken, sondern methodisch versierte Erkundungen anderer Gesellschaften ebenso beinhalten wie differenzierte Auseinandersetzungen mit ökonomischen und politischen Fragen.

Den Kern des vorliegenden Bandes bildet die Erzählung „Cousine Marshall“ von 1832. Dabei handelt es sich um eine jener berühmten, insgesamt 25 Erzählungen umfassenden Illustrations of Political Economy,[3] die sie für die Society for the Distribution of Useful Knowledge verfasste (vgl. S. 181 f.). Die Illustrations of Political Economy erschienen zwischen 1832 und 1834 zunächst monatlich. Die populären Erzählungen zu ökonomischen Fragen stützen sich besonders auf die systematischen Elements of Political Economy (1821) von James Mill und enden jeweils mit Zusammenfassungen der genutzten Prinzipien. Die komplette Ausgabe von Martineaus Illustrations, die 1834 erschien, war ein sensationeller Erfolg: Insgesamt wurden mehr als 10.000 Exemplare der Schrift verkauft. Damit erlangte sie zwar finanzielle Unabhängigkeit, aber die harte serielle Arbeit beanspruchte die Autorin erheblich und blieb nicht ohne Auswirkungen auf ihre Gesundheit. Die anschließende Artikelfolge Poor Laws and Paupers Illustrated (1833–1834) war zwar weniger erfolgreich. Sie zeigt jedoch die enorme Bedeutung, die Martineau dem gravierenden Problem der Armut zuschrieb. Ihre danach unternommene Amerika-Reise diente auch der Erholung von diesem Publikationsstress.

Die eigens für den vorliegenden Band ins Deutsche übersetzte Erzählung „Cousine Marshall“ (S. 47–171) ist ein gutes Beispiel für Martineaus Aufklärungsliteratur. An ihr lässt sich studieren, wie die Autorin in ihrer Geschichte mehrere Perspektiven gekonnt und einfühlsam miteinander verknüpft, um unterschiedliche Facetten der Armutsproblematik zu veranschaulichen: unverschuldete und selbst verschuldete Armut beziehungsweise Bedürftigkeit werden von ihr ebenso dargestellt wie die Sichtweisen verschiedener Arten von Helfern (ein Arzt, Personal im Armenhaus, Armenpfleger, Inspektoren, Richter, spendenbereite Personen und solche, die das nicht können oder verweigern). Das alles geschieht mit dem Ziel, durch Differenzierung die Komplexität der Thematik zu verdeutlichen. Statt auf ökonomische Kalküle rekurriert Martineau dabei vielfach auf Gefühle. Dazu zählen etwa die herzliche Empfindsamkeit, die immer zur Hilfe aufruft; die sich sedimentierende Einstellung, dass Armenhilfe selbstverständlich sei; der durch die Armenhilfe beförderte Leichtsinn der Bedürftigen. All dies mündet in die Frage, was Wohltätigkeit eigentlich bedeutet (S. 97). Aber auch die Perspektive der Armen im Armenhaus wird von Martineau eingenommen und durchgespielt. Vor diesem Hintergrund kommen dann die individuellen Wohltaten der Cousine Marshall zur Sprache, die sich aufopferungsvoll um ihre eigenen und die von ihr adoptierten Kinder kümmert. Daneben werden schließlich die Wohlfahrtspflege der Gemeinden und deren Effekte dargestellt. Erst im Anschluss daran formuliert Martineau einige Antworten auf die Frage der Wohltätigkeit, die für verschiedene soziale Gruppen divergierend ausfallen. Eigentumssicherung und Verminderung der Wohlfahrtsempfänger gelten ihr als besonders wünschenswert. Dabei werden von ihr auch seinerzeit gängige Vorschläge erwogen, wie eine Kennzeichnung der Armen, um deren Schande offensichtlich zu machen, oder der Ausschluss ehelich erzeugter Kinder von der Wohltätigkeit.

Die liberale Pointe der Erzählung, die man auch heute noch hören kann, kommt am deutlichsten in der Zusammenfassung zum Ausdruck. Dort heißt es: „Der Sozialfonds muss produktiv verwendet werden, zudem müssen sich Kapital und Arbeit frei entfalten können.“ (S. 170) Darüber hinaus wird ein genereller Anspruch aller Einwohner auf staatliche Unterstützung abgelehnt, da er nicht nur sachlich problematisch sei, sondern auch auf einer falschen Analogie von Familie und Staat beruhe, nach welcher der Staat die Aufgaben eines Familienoberhauptes übernehmen müsse. Neben Anleihen beim marktliberalen Ansatz sind Bezüge auf Thomas Robert Malthus und dessen These des geometrischen Bevölkerungswachstums, welche das bloß arithmetische Wachstum der Nahrungsmittelproduktion weit übersteige, in Martineaus Darstellung unübersehbar. Durch den Verweis auf diese Dynamik wird der dramatische Charakter der dargelegten Problematik forciert, denn viele Armenhäuser ebenso wie andere Unterstützungsleistungen erscheinen als Treiber weiterer Armut und Überbevölkerung. Martineaus Kritik an der Armengesetzgebung von 1834, die den Schwerpunkt von Hilfe durch Güter und Geld auf Hilfe vermittels von Armenhäusern verschob, ist harsch und wurde von Ökonomen wie John Stuart Mill nicht geteilt.

Die beiden im Anschluss an die Erzählung präsentierten Rezensionen zu „Cousine Marshall“ (S. 253–259) gewähren Einblicke in die zeitgenössische Rezeption der Erzählung. In der ersten Besprechung heißt es über die Hauptfigur, „der im gesamten Buch vermittelte Eindruck, zeigt ein armes, aber großherziges Geschöpf, das mehr Achtung verdient als Herzoginnen in ihren Roben und Gräfinnen mit ihren Juwelen und Kutschen. Miss Martineau ist die wahre Malerin der Armen.“ (S. 254) Die zweite Rezension gelangt zu einem entgegengesetzten Urteil. Sie wendet sich entschieden gerade gegen die liberale Pointe des Buches und die politökonomische Kritik an den Armengesetzen. Der anschließende Auszug aus Edward Lytton Bulwers (1803–1873) genereller Einschätzung zu den Illustrations of Political Economy setzt einen weiteren Akzent (S. 259–263). Der Schriftsteller und Politiker Bulwer streicht nämlich bei allem Lob der literarisch-plastischen Darstellungsweise den moralischen Charakter von Martineaus Erzählungen heraus und hält das darin präsentierte politökonomische Wissen für wenig bedeutend. Martineau selbst wollte mit „Cousine Marshall“ und der Serie von Illustrations vor allem aufklären und nennt in deren letztem Satz das an Jeremy Bentham erinnernde Ziel, nämlich die „happiness of the greatest number“.

Der vorliegende Band wirbt für die Autorin, die eine ausgesprochene Vielschreiberin war und von ihren Veröffentlichungen leben musste, und stellt die Breite ihres Schaffens heraus. Das ist eine Stärke, die sich schon in der instruktiven Einleitung von Bernd Lenz und Joanna Rostek über die „,eminente‘ Viktorianerin“ zeigt.[4] Die Vielfalt der Kostproben hat freilich eine Kehrseite, denn es fehlen aus sozialwissenschaftlicher Sicht entscheidende Texte. So wird das wegweisende (und bereits 1838 ins Deutsche übersetzte)[5] Buch Society in America, dessen erste Auflage nicht weniger als 3.000 Exemplare betrug, zwar erwähnt (S. 190), aber sachlich weitgehend ausgespart. Dabei findet man gerade in dieser sozialwissenschaftlichen Monografie eine Fülle interessanter Einsichten, von denen hier nur einige knapp angedeutet werden sollen.[6] An erster Stelle ist Martineaus weites Verständnis von Gesellschaft zu nennen, das Ökonomie, Politik (inklusive Parteien und Regierungsapparat), Häuslichkeit, Religion, Kinder und Medien umfasst, die stets im Hinblick auf Verhalten beziehungsweise Sitten und Ideen betrachtet werden. Ebenfalls bemerkenswert ist ihr Blick auf die Lage der Frauen, die mit Rekurs auf die nicht eingelöste Gleichheitsidee als faktische Sklaverei beschrieben wird. Schließlich muss auch ihre Betonung der politischen Apathie der Amerikaner erwähnt werden, die Martineau im Gegensatz zu Tocqueville heraushebt.

Mindestens ebenso schmerzlich ist der Verzicht auf Auszüge aus der umfangreichen Methodenschrift How to Observe (1838),[7] die sie während der Überfahrt in die USA entworfen, aber erst nach der Arbeit an Society in America fertiggestellt und publiziert hat. Ihre methodischen Überlegungen zur Gesellschaftsanalyse weisen Martineau in mehrfacher Hinsicht als äußerst reflektierte Beobachterin aus. Zum einen bedachte sie Voraussetzungen und Vorgehen bei Interviews, zum anderen reiste und forschte sie in den USA nicht allein, sondern hatte in Louisa Jeffrey eine kundige Begleiterin und Forschungsassistentin bei sich, die jedoch bereits im Februar 1836 nach England zurückkehrte, während Martineau erst am 1. August 1836 von New York aus zurücksegelte. Das gemeinsame Reisen und Forschen ermöglichte nicht nur eine Kompensation von Nachteilen – wie etwa Martineaus Schwerhörigkeit[8] –, sondern auch eine gemeinsame Vorbereitung und Verarbeitung der geführten Interviews sowie eine Verdichtung der dabei gemachten Beobachtungen und Ergebnisse. So führte Jeffrey vereinbarungsgemäß einen Teil der Interviews, was es Martineau erlaubte, stärker auf die Körpersprache der befragten Personen und die Umstände der Gesprächssituation zu achten. Weitere methodische Maßgaben umfassen die Notwendigkeit, die Beobachtungsgabe zu trainieren, das Beobachtete nur vorsichtig zu verallgemeinern, die verbreiteten Normen (Gleichheit und Freiheit der Unabhängigkeitserklärung) mit den faktischen Sitten und der Arbeitsweise von Institutionen ins Verhältnis setzen. Zu den von ihr in diesem Zusammenhang angesprochenen Untersuchungsfeldern gehören Märkte, Klassen (agrikulturelle, herstellende, kommerzielle), Gesundheit, Heiraten, Zeitungen, Schulen, Polizei und der Fortschritt. Nur am Rande sei vermerkt, dass sie damit weit mehr methodische Gedanken offenlegt als Tocqueville.

Martineau hat deutlich vor John Stuart Mill prominent zur Frauenfrage öffentlich Stellung bezogen; zuerst 1822 in einem Brief „On Female Education“.[9] Im Kampf für das Frauenwahlrecht in England spielte sie eine wichtige Rolle. Mill brachte das Thema 1866, als es ihm erstmals taktisch klug erschien, ins britische Parlament ein und Martineau gehörte zu den ersten Unterzeichnerinnen von Mills Petition. Aber im Gegensatz zu den ersten Suffragetten zog sie es vor, eher im Hintergrund zu wirken und wahrte in ihrem Streben nach Objektivität stets Distanz gegenüber der Frauenbewegung.

Wie der vorliegende Band akzentuiert, engagierte sich Martineau frühzeitig im Kampf für die Abschaffung der Sklaverei. Das aufgeheizte Klima in der sogenannten Rassenfrage in den USA hielt sie einige Zeit davon ab, sich in dieser Hinsicht öffentlich zu bekennen, aber auf dem Kongress der US-amerikanischen Abolitionisten bezog sie 1835 Stellung: „I will say [...] that I consider Slavery as inconsistent with the law of God“.[10] Sie ahnte zwar, dass die Bemerkung sich nachteilig auf ihr Vorhaben einer Erforschung der US-amerikanischen Gesellschaft auswirken und ihr den Zugang zu bestimmten Personen im Süden erschweren würde. Dennoch hielt sie das offene Bekenntnis nach der Verfolgung von William Lloyd Garrisson, der führenden Gestalt der Anti-Slavery-Society, und angesichts von Lynchmorden in Ohio für unumgänglich. Ausführlich zur Sklaverei äußerte sie sich in The Martyr Age of the United States (1839)[11] – ihrer lesenswerten Broschüre zur Abolitionist Movement.[12] Darin wird die Sklaverei als im Kern mit der US-amerikanischen Gesellschaft verwoben dargestellt, wie die Aristokratie mit der britischen. Es ist bedauerlich, dass dieser wichtige Text zum Kampf gegen die Sklaverei in den Band ebenso wenig aufgenommen wurde wie ihre Stellungnahmen zu Irland,[13] die für die Problematik des Kolonialismus wichtig sind. Allerdings hätte die Berücksichtigung dieser Texte Umfang und Aufwand des Buches erheblich vergrößert.

In England wurde Martineau geschätzt – wie die beiden Nachrufe aus The Illustrated London News (S. 266 f.) und die Auszüge aus The Times (S. 277–282) zeigen. Auch in den USA fand sie Anerkennung und wurde 1883 in Boston sogar mit einer Statue zur Erinnerung an ihren couragierten Kampf gegen die Sklaverei geehrt. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts jedoch geriet die einst gefeierte Autorin in Vergessenheit. Das änderte sich erst 1960 mit dem Erscheinen von Robert Kiefer Webbs quellengesättigter Biografie,[14] die sich sowohl von Martineaus Autobiography als auch daran anschließenden hagiografischen Darstellungen abhebt. Der Interpret kam jedoch mit der Komplexität und Radikalität seiner Autorin nicht zurecht, da er ihr zwar starke, sie zur Kritik befähigende Überzeugungen zuschrieb, aber nur einen begrenzten Intellekt. 1962 hat Seymour Martin Lipset eine um etwa die Hälfte gekürzte Fassung von Society in America ediert und die Ausgabe mit einer konzisen Einleitung versehen, in der er auch die methodischen Reflexionen der Autorin herausstellt.[15] Die feministische Rezeption Martineaus begann 1973 mit der Aufnahme des Frauenkapitels aus Society in America durch Alice Rossi in ihren Reader The Feminist Papers.[16] Inzwischen ist die Mehrzahl von Martineaus wissenschaftlich relevanten Schriften in Print oder online verfügbar.[17] Im angelsächsischen Raum ist sie bereits eine kanonische Autorin und findet auch in der Historiografie und in der Literaturwissenschaft breitere Aufmerksamkeit.[18]

Der vorliegende Band, der eine längere Produktionszeit hatte – an seinem Beginn stand ein Seminar Anfang der 2000er-Jahre –, beschließt die Reihe KritBrit, in der unter anderem Texte von William Morris, Mary Wollstonecraft (Reisen in Skandinavien) und Henri Mayhews (Arbeit und Armut in London, ursprünglich acht Bände) als ein „alternativer Kanon“ von Literary Studies publiziert wurden. Das Aus für die Reihe ist bedauerlich, aber in Zeiten von Künstlicher Intelligenz und vielen im Internet verfügbaren Übersetzungstools wohl kaum anders zu erwarten. Dennoch schaut man etwas wehmütig auf solche kollektiven Übersetzungsprojekte, die aus der Lehre entstanden sind und nicht nur die Übersetzerinnen bereichert haben – im Falle des Martineau-Bandes waren es: Manuela Brauer, Philip Jacobi, Stephan Karschay, Sabina Kirk, Katrin Langbauer, Bernd Lenz, Maria Milisavljević, Peggy Richter, Charlotte Rommerskirchen, Joanna Rostek und Dorothea Traupe –, sondern auch den Buchmarkt.

Die besprochenen Kostproben gestatten den von den Herausgeber_innen versprochenen „ersten Einblick“ (S. 43) in Martineaus Schaffen und sind ein Schritt, um auch hierzulande eine vertiefte Auseinandersetzung mit ihrem Schrifttum anzuregen. Ob sie wirklich in den Klassiker_innenkanon der Soziologie erhoben werden sollte, dessen Struktur und Nutzen unlängst auf diesem Portal diskutiert wurde,[19] könnte so geklärt werden. Vor allem ließe sich in diesem Zusammenhang erörtern, ob ein Kanon ohne die vielen anregenden Autor_innen, Populisator_innen, Grenzgänger_innen und Übersetzer_innen zwischen den Disziplinen und den divergierenden nationalen Wissenschaftskulturen überhaupt auskommen kann, wenn er mehr sein soll als nur eine höchst selektive Gipfelgeschichte der großen Gestalten. Harriet Martineau jedenfalls verstand sich auf jede dieser verschiedenen Rollen des Wissenschaftsbetriebs.

  1. Vgl. u.a. Michael R. Hill / Susan Hoecker-Drysdale (Hg.), Harriet Martineau: Theoretical and Methodological Perspectives, New York / London 2001; Lisa Pace Vetter, Harriet Martineau on the Theory and Practice of Democracy in America, in: Political Theory 36 (2008), 3, S. 424–455; Ella Dzelzainis / Cora Kaplan (Hg.), Harriet Martineau. Authorship, Society and Empire, Manchester / New York 2010; Valerie Sanders / Gaby Weiner (Hg.), Harriet Martineau and the Birth of Disciplines. Nineteenth-century Intellectual Powerhouse, London / New York 2017; sowie zuletzt Stuart Hobday / Gaby Weiner, Reintroducing Harriet Martineau: Pioneering Sociologist and Activist, London / New York, 2024.
  2. Der gesamte Briefbestand findet sich in: Deborah Anna Logan (Hg.), The Collected Letters of Harriet Martineau, 5 Bde., London 2007.
  3. Vollständige Ausgaben der Illustrations of Political Economy sind sowohl im Project Gutenberg als auch in der Online Library des Liberty Funds zu finden.
  4. Die Charakterisierung Martineaus als „eminente Viktorianerin“ ist zugleich eine Anspielung auf Lytton Stracheys Eminent Victorians (1918), „ein bahnbrechendes, begeistert aufgenommenes Buch, das die Gattung der biographischen Essays nachhaltig erneuerte“, „die moralische Heuchelei und den ethischen Hochmut der viktorianischen Zeit“ entlarvte und „zuvor heroisierte, historische Persönlichkeiten einer kritischen Neubewertung“ unterzog (S. 13).
  5. Harriet Martineau, Die Gesellschaft und das sociale Leben in Amerika, 2 Bde., nach dem Englischen von Dr. E. Brinkmeier, Cassel/Leipzig 1838.
  6. Vgl. Harald Bluhm, Harriet Martineau: Die Gesellschaft und das soziale Leben in Amerika (1837), in: Geschichte des politischen Denkens. Das 19. Jahrhundert, hrsg. v. Manfred Brocker, Berlin 2021, S. 265–277. Ich greife im Folgenden mehrfach auf Gedanken aus dieser Darstellung zurück.
  7. Harriet Martineau, How to Observe: Morals and Manners, London 1838. Die jüngste englische Neuausgabe erschien 2023.
  8. Nadav Gabay, „With the Practiced Eye of a Deaf Person“: Harriet Martineau, Deafness and the Scientificity of Social Knowledge, in: The American Sociologist 50 (2019), 3, S. 335–355.
  9. Vgl. Gayle Graham Yates, Harriet Martineau on Women, New Brunswick, NJ 1985, S. 88–93.
  10. Harriet Martineau, Autobiography, hrsg. v. Linda H. Peterson, Plymouth/Sidney 2007, S. 350.
  11. Vgl. https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=uc2.ark:/13960/t0wp9tv28&seq=5.
  12. Wichtige Texte zu diesem Themenfeld finden sich in: Harriet Martineau, Writings on Slavery and the American Civil War, hrsg. von Deborah Anna Logan, DeKalb, IL 2002.
  13. Harriet Martineau, Letters from Ireland, hrsg. von Glenn Hooper, Dublin / Portland, OR 2001.
  14. Robert K. Webb, Harriet Martineau: A Radical Victorian, London 1960.
  15. Vgl. Seymour Martin Lipset, Harriet Martineau’s America, in: Harriet Martineau, Society in America, hrsg., gekürzt und eingel. v. Seymour Martin Lipset, Garden City / New York 1962, S. 5–42.
  16. Alice S. Rossi (Hg.), The Feminist Papers. From Adams to de Beauvoir [1973], hrsg. mit einem neuen Vorwort, Boston, MA 1988, S. 125–143.
  17. Online-Ausgaben von Martineaus Schriften sind über The Online Books Page oder über die Online Library of Liberty zugänglich.
  18. Vgl. die Beiträge in: Sanders/Weiner (Hg.), Harriet Martineau and the Birth of Disciplines.
  19. Vgl. dazu die Beiträge des Dossiers „Ein (neuer) Kanon für die Soziologie?“.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

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Harald Bluhm

Harald Bluhm ist Seniorprofessor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. (Foto: © Marina Dafova)

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