Emanuel Kapfinger | Essay |

„Es ging ihm darum, das Unwahrscheinlichste zu tun“

Was Carl Hegemann über Hans-Jürgen Krahl erzählte

Am 9. Mai 2025 ist der Dramaturg und Autor Carl Hegemann verstorben. Seine Arbeit an der Berliner Volksbühne war nicht nur bahnbrechend, sondern wirkte weit über das Theater hinaus. Weniger bekannt ist, wie wichtig die Begegnung mit Hans-Jürgen Krahl für Hegemanns intellektuelle Biografie war. Darüber hat der Philosoph Emanuel Kapfinger ausführlich mit Hegemann gesprochen. Der Dramaturg erzählt von seiner Beziehung zu dem früh verunglückten Cheftheoretiker der 68er und verortet sein Denken in einer spezifischen Rezeptionslinie kritischer Theorie.

- Die Redaktion

Es war im Sommer des vergangenen Jahres, als Julian Volz und ich uns an einem schönen Abend mit Carl Hegemann im Café Südblock in Kreuzberg trafen. Wir hatten uns verabredet, um über seine Erinnerungen an Hans-Jürgen Krahl zu sprechen. Der 1943 geborene Adorno-Schüler Krahl war um 1968 der Hauptvertreter des praktisch-revolutionären Flügels der Kritischen Theorie und stand als Mitglied des SDS-Vorstands im Zentrum der Studierendenbewegung. Diese war aus den Protesten gegen den Vietnamkrieg und die faschistischen Kontinuitäten der Bundesrepublik hervorgegangen und begründete in Abgrenzung vom Marxismus-Leninismus eine neue, antiautoritäre Linke. Aufgrund der Auflösungserscheinungen der Studierendenbewegung und deren Zerfall in leninistische K-Gruppen ab Ende 1968 hatte Krahl einen politischen Neuanfang mit jüngeren Studierenden versucht. Zu diesem Kreis gehörte der 1949 geborene Hegemann, der an Krahls Diagnose anknüpfte, dass die Krise der antiautoritären Bewegung auch aus einer Krise ihrer Theorie rührte.

Dass das mit Carl Hegemann an diesem Abend so enthusiastisch begonnene Gespräch über Krahl nicht fortgesetzt werden würde, hatten wir nicht geahnt. Im Gegenteil, der Abend stand im Zeichen eines Auftakts. Mit Begeisterung erzählte Hegemann von Krahl. Mehrere Monate hatte er fast jeden Tag mit ihm verbracht, bis sie einen schweren Verkehrsunfall erlitten, der Krahl das Leben kostete. Viel zu früh, so Hegemann. Krahl sei der „beste Theoretiker“ der 68er-Bewegung gewesen, mit dem auch Rudi Dutschke und Bernd Rabehl nicht mithalten konnten. Hegemann entwickelte on the fly ein Theaterstück über die Suche nach dem verlorenen letzten Vortrag Krahls, überlegte, eine Veranstaltung zu Krahl in der Volksbühne auf die Beine zu stellen. Julian Volz und ich wiederum hatten 2022 gemeinsam mit Meike Gerber den Sammelband Für Hans-Jürgen Krahl herausgegeben und mussten Hegemann versprechen, ihn über unsere Forschungen und Aktivitäten in Sachen Krahl auf dem Laufenden zu halten. Insbesondere ein bis dato unbekanntes Nietzsche-Referat, das wir kurz zuvor im Krahl-Nachlass im Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung entdeckt hatten, weckte sein Interesse.

Am 9. Mai 2025 ist Hegemann verstorben. Unser Gespräch wird nicht fortgesetzt werden. Zu seinem Andenken schreibe ich hier auf, was er uns an diesem Abend über Krahl erzählte. Mein Anliegen ist es, aufzuzeigen, wie stark Hegemanns eigenes Denken von Krahl und dem Milieu der Kritischen Theorie in Frankfurt geprägt wurde.[1]

Die Zeit mit Krahl

Hegemann hatte Krahl das erste Mal erlebt, als er im Juni 1967, noch als Schüler, mit Hans-Bernhard Schlumm zu einem Kongress des Aktionszentrums Unabhängiger und Sozialistischer Schüler (AUSS) fuhr. In den Monaten zuvor hatten Hegemann und Schlumm mit Gleichgesinnten in Paderborn eine sozialistische Schülergruppe im Rahmen des vom SDS unterstützten AUSS aufgebaut. Aus der erzkonservativen Provinz stammend, beeindruckte sie die antiautoritäre Stimmung auf dem Kongress sehr. Ende September 1969 zogen die beiden dann nach Frankfurt, um Philosophie und Soziologie zu studieren. Dort lernte Hegemann nach einigen Wochen Krahl kennen, wegen einer politischen Meinungsverschiedenheit, auch wenn Krahl selbst nicht an ihr beteiligt war: In ihrer ersten Wohnung in Frankfurt, in der Jürgen Ossenberg sie durch Vermittlung des SDS aufgenommen hatte, begann eines Abends eine Diskussion über Mao Zedong. Als Hegemann dabei halb ironisch, halb ernst äußerte, Mao sei ein „liberaler Scheißer“, sei die Hölle losgewesen und er musste noch am selben Abend aus der WG ausziehen. Als sie einige Wochen später mit Krahl im „Nuttenlouis“ zusammensaßen (so nannten die SDS-Leute die Kneipe an der Bockenheimer Warte, die eigentlich „Zur Straßenbahn” hieß und heute „Dr. Flotte”), sagte Krahl zu Hegemann, dass er mit seiner Distanz zu Mao total recht habe. Von da an habe er zu Krahl gehalten.

Hans-Jürgen Krahl selber verbrachte sehr viel Zeit mit Hegemann und seiner Gruppe von Erstsemestern in ihrer neuen Wohnung in der Robert-Mayer-Straße. Mit dem SDS hatte er sich zu dieser Zeit völlig überworfen – dort herrschte, so Krahl, ein „Kleinkrieg aller gegen alle“. Jedenfalls war der SDS, so Hegemann, „total sauer“ auf Krahl gewesen, und Krahl hatte bei diesen Erstsemestern, zu denen auch Dalia Moneta, Hans-Bernhard Schlumm und Hermann Kocyba gehörten, ein neues Umfeld gefunden. Ihnen gab er eine Art Privatunterricht – in der Regel nachts, so dass sie am Vormittag nie Unikurse besuchen konnten, immer erst nachmittags. Nicht zuletzt über Novalis konnte Krahl stundenlang reden – und er kokettierte zuweilen damit, aus dem Hause Hardenberg zu stammen, wie Novalis bürgerlich hieß.

Eine besonders absurde Situation sei entstanden, als Krahl ihnen seinen Text „Ontologie und Eros – Zur spekulativen Deduktion der Homosexualität” in einem etwa eineinhalb Stunden langen Referat vorgetragen habe. Krahl erklärt darin die Trennung von männlicher Hetero- und Homosexualität aus der patriarchalen Arbeitsteilung, in einem langen geschichtlichen Bogen von der Antike bis heute. Diese (wie man heute sagen würde) queertheoretischen Überlegungen schienen Hegemann und den anderen aber damals so absurd, dass sie den Vortrag für einen Jux von Krahl hielten. Sie hätten gedacht, Krahl sei betrunken gewesen und hätte einfach rumgesponnen. Als der Text dann 1971 in Konstitution und Klassenkampf tatsächlich gedruckt erschien, staunten sie nicht schlecht: Krahl hatte den Vortrag an diesem Abend also nicht spontan gehalten, sondern bereits seit Längerem daran gearbeitet. Krahl galt zwar damals allgemein als schwul, aber er hatte, so Hegemann, auch Beziehungen mit Frauen. Zu Hegemann sagte er, er sei pansexuell. Hegemann selbst sagte uns im Juli 2024, dieser Text von Krahl sei erstaunlich, so abstrakt und trotzdem so pointiert, dass man ihn eigentlich für die Bühne inszenieren müsse.

Eine Anekdote aus dieser Zeit, durchaus aufschlussreich für Krahls emanzipatorische Haltung, dreht sich um Krahls Begeisterung für die Musik des Schlagersängers Heintje. Jedes Mal, wenn Krahl den „Nuttenlouis” betreten hatte, sei er zuallererst zur Jukebox gegangen und habe dort den Song „Mama” des Kinderstars aufgelegt. Das Lied sei nur schwer auszuhalten gewesen. Er tat dies, so Hegemann, im Sinne einer antiautoritären Performance. Es ging ihm darum, das Unwahrscheinlichste zu tun, indem er das Gegenteil dessen, was damals als coole Musik galt – etwa die Stones oder die Beatles – auflegte, um zu zeigen, dass Emanzipation auch heißen kann, das Schlechte unserer Zeit – einen Schlagersong, Kitsch – zu lieben.

Der Verkehrsunfall

Im Jahr 1969 hatten zwei Politaktivisten aus Paderborn das hiesige Gymnasium in Brand gesteckt. Anschließend flüchtete einer der beiden nach Frankfurt in Hegemanns WG, um erstmal von der Bildfläche zu verschwinden. Hegemann gelang es, ihn zu überreden, sich zu stellen, da er sich sonst sein ganzes weiteres Leben verbauen würde. Zudem war Hegemanns Vater Richter in Paderborn und auch der habe ihm geraten, sich sofort zu stellen, weil er dann noch nach Jugendstrafrecht verurteilt würde. Der Brandstifter stimmte zu, aber nur unter der Voraussetzung, dass parallel in Paderborn ein Teach-in über die politische Notwendigkeit von Brandstiftungen stattfinden sollte. Natürlich war der Cheftheoretiker Hans-Jürgen Krahl die perfekte Person, um über die politische Theorie der Brandstiftung zu referieren. Er sagte sofort zu.

Am 13. Februar 1970 fuhren Krahl, Hegemann und drei weitere Genoss*innen nach Paderborn. Es war bereits das zweite Mal, dass Krahl mit Hegemann nach Paderborn fuhr, um dort ein Teach-in zu halten. Dem Flugblatt kann die Stoßrichtung des Teach-ins entnommen werden: „Eine Gesellschaft, die Schulen hat, in denen überkommene Autoritätsprinzipien nicht abgebaut, sondern immer wieder erneuert werden, braucht sich nicht zu wundern, wenn jemand dem unerträglichen Druck […] eines Tages nicht mehr standhält und zum Streichholz greift […] Diese Stadt und diese Gesellschaft müssen verändert werden […] Dieser Kampf wird sicher nicht durch die verzweifelten Kurzschlussreaktionen einzelner gewonnen, sondern nur durch kontinuierliche und konsequente Arbeit.“

Sie fuhren in einem R4 nach Paderborn – einem ganz kleinen Auto, in dem hinten nur eine Holzbank eingebaut ist, was Unfälle besonders gefährlich macht. Auf dem Weg wurde die Landschaft immer idyllischer und immer weniger industriell, so dass Krahl mehrfach ausgerufen habe: „Und in diese schöne Landschaft wollen wir die Revolution bringen!” Dann aber geriet das Auto wegen Glatteis ins Schleudern, gerade als auf der anderen Fahrbahn ein LKW entgegenkam. Es waren dramatische Sekunden. Bis zum letzten Augenblick sei nicht klar gewesen, ob das Auto mit dem LKW zusammenstoße oder nicht. Leider kollidierten die beiden Fahrzeuge jedoch. Krahl war sofort tot. Hegemann sei heftig aus dem Auto herausgeschleudert worden. Er erlitt mehrere Brüche und sei im Krankenhaus sogar für tot erklärt worden. Der Unfall sei ein traumatisches Erlebnis gewesen, das ihn nie wieder losgelassen habe. Franz-Josef Bevermeier verstarb einige Tage später an den Folgen des Unfalls, Dalia Moneta und der Fahrer des Autos überlebten mit ebenfalls schweren Verletzungen.

Dieser Unfall schien aufgrund von Krahls Bedeutung im SDS, der zu diesem Zeitpunkt weitgehend zerfallen war, das Zeichen für sein endgültiges Ende zu sein. Unmittelbar nach Krahls Beerdigung wurde der SDS auch formell aufgelöst.

Krahls politisches Vermächtnis

Im Kofferraum des Unfallautos lag das Tonband mit dem sogenannten „Schweppenhäuser-Referat”, Krahls letztem Referat, das er am 6. Februar 1970 in Hermann Schweppenhäusers Seminar zum Problem der Marx‘schen Krisentheorie gehalten hatte. Schweppenhäuser war Professor in Lüneburg, lehrte aber seit Ende der 1960er auch an der Frankfurter Universität. Das Referat kam laut Hegemann einem politischen Fanal gleich, weil Krahl sich darin deutlich gegen die sogenannte „Betriebsarbeit” gewandt hatte, also den Aktivismus in den Betrieben, der die Proletarier*innen für die Revolution gewinnen sollte. Die Betriebsarbeit sei, so Krahl in Hegemanns Erzählung, vertane intellektuelle Produktivkraft der Bewegung. Das Tonband, das ein politisches Vermächtnis Krahls hätte werden können, war dann aber leer, möglicherweise, so spekulierte man, sei es durch die Erschütterung beim Unfall gelöscht worden.

Krahl hatte jedoch einen Teil des Referats bereits zur Vorbereitung gehalten und auf Tonband aufgezeichnet. Die Aufnahme wurde später transkribiert und in Konstitution und Klassenkampf unter dem Titel „Produktion und Klassenkampf“ veröffentlicht. Darin stellte er die Marx‘sche Theorie der Revolution infrage: Ob es tatsächlich so einfach sei, dass die Krise zur Entlarvung der Ideologien führe, und damit zu Klassenkampf und Revolution? Krahl bezweifelt das. Er meint, dass man über Marx hinausgehen müsse und Sprache und Kommunikation als wesentliche Bildungselemente des Klassenbewusstseins einzuschließen seien. Um das auszuarbeiten, setzt Krahl sich kritisch mit Jürgen Habermas‘ Thesen zu Sprache und Kommunikation auseinander.

Die wohl wichtigste antiautoritäre Organisation in Frankfurt, die die Betriebsarbeit aufnahm, war der revolutionäre kampf (RK). Der RK war eine relativ große Sponti-Organisation, die aus einem Schulungskreis von Ernst-Theodor Mohl hervorgegangen war und ab Ende 1969 die Betriebsarbeit vorbereitete. Mohl war damals Assistent von Adorno am Institut für Sozialforschung und wurde später Professor in Hannover. Die Schulung sollte ursprünglich gemeinsam mit Krahl abgehalten werden, wurde aber aufgrund hoher Teilnehmerzahlen in zwei Kreise aufgeteilt. Die Mitglieder des RK gingen ab 1970 in Betrieben arbeiten, insbesondere dem Opelwerk in Rüsselsheim, um dort Beziehungen mit den Arbeiter*innen aufzubauen und Aktionen zu organisieren. Krahl habe den RK jedoch, so berichtet Hegemann, „total scheiße” gefunden, und Leuten, die zum RK wollten, Prügel angedroht. Tatsächlich stand der RK in Opposition zu den damals entstehenden K-Gruppen. Er wollte nicht einfach die Arbeiter für die Revolution „agitieren“, sondern er verstand die Betriebsarbeit als Untersuchungsarbeit, als parteiliche empirische Forschung, deren theoretischen Konzepte sich nicht zuletzt an Krahl orientierten. Vielleicht hätte dieser sein hartes Urteil über den RK revidiert, wenn er dessen Entwicklung weiter hätte verfolgen können.

Doch im Wintersemester 1969/70 waren Gegensätze bei der strategischen Einschätzung nicht von der Hand zu weisen. Denn Krahl stand zu dieser Zeit – nach dem Abflauen der Bewegung – eine andere strategische Option als die Betriebsarbeit vor Augen. Es war, so Hegemann, Krahls Vorhaben, sich für 10 Jahre aus der Praxis zurückzuziehen und Theoriearbeit zu machen, weil er in der proletarischen Wende, die der Großteil der Bewegung genommen hatte, keine politische Perspektive sah. Stattdessen sah Krahl jahrelange Aufenthalte in den „Eiswüsten der Abstraktion“ vor sich, wie Hermann Kocyba es formuliert,[2] um eine adäquate revolutionäre Theorie überhaupt erst wieder zu erarbeiten. Krahls Plan sei es gewesen, so Hegemann, Adorno funktionell, das heißt in seiner zentralen diskursorganisierenden Funktion, zu beerben. Das hätte auch bedeutet, eine Laufbahn als Hochschullehrer einzuschlagen.

Nach Krahls Tod

Nach Krahls Tod führte Hegemann – wie er uns erzählt – sein Studium genau so durch, wie der es ihm nahegelegt hatte. Er las die Texte, von denen Krahl gesagt hatte, dass man sie lesen solle, auch wenn er schließlich statt bei Novalis bei Hölderlin gelandet war – Krahl möge es ihm verzeihen. Auch Krahls eigene Texte las er und war tief beeindruckt. Mit seiner Gruppe veröffentlichte er einige von ihnen in der Raubdruck-Ausgabe (der sogenannten Helsinki-Ausgabe), die 1970 noch vor der offiziellen Ausgabe Konstitution und Klassenkampf (1971) erschien. In der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre transkribierte Hegemann zusammen mit Hermann Kocyba, Hans-Bernhard Schlumm und Lothar Wolfstetter die Tonbandaufzeichnungen von Krahls Hegel-Schulungen, die sie dann als Hegel-Kommentar Erfahrung des Bewußtseins herausgaben.

In unserem Gespräch hob er immer wieder hervor, dass er sich in seinem Studium exakt an Krahls Vorgaben gehalten habe. Das gelte zumal für seine Dissertation Identität und Selbst-Zerstörung, in der er die Konstitution des Subjekts und dessen innere Widersprüche untersuchte. „Ich habe alles, was in meiner Arbeit vorkommt, in nuce in meinem ersten Semester mit Krahl besprochen. Ich habe einen Fragenkatalog entwickelt in der Auseinandersetzung mit Krahl, könnte man sagen, den ich in meiner Doktorarbeit abgearbeitet habe.“ Obwohl er kaum explizit auf Krahl Bezug nehme, seien dessen Überlegungen, so Hegemann, vollständig in seiner Dissertation enthalten. Denn nach Krahl müsse die objektive Analyse des Marxismus notwendig durch eine Subjekttheorie ergänzt werden, obwohl die eigentlich im Gegensatz zum Marxismus stehe. Hegemann schien der Weg dahin „Zurück zu Fichte“ zu führen, mit dessen Philosophie er in der Dissertation versuchte, universelle Strukturen der Subjektkonstitution herauszuarbeiten. Bei Fichte und vor allem bei Hölderlin – den man aber mit Fichte lesen müsse – sei Krahls Theorie, so Hegemann, schon angelegt gewesen. „Hölderlin hat die Theorie, von der ich glaube, dass Krahl sie vor Augen hatte, in Grundzügen entwickelt.“

Aber in diesem Beharren auf anthropologischen, überhistorischen Konstanten des Subjekts habe er sich an Krahls Verständnis des Historischen Materialismus orientiert. Krahl sagte, dass man, um das historisch Spezifische kritisieren zu können, das Überhistorische brauche. So wie Marx beschreibe, was menschliche Arbeit überhaupt sei, um ihre kapitalistische Form kritisieren zu können. Entsprechendes versuchte Hegemann mit der Subjektkonstitution und ihrer spezifischen Realisierung im Kapitalismus. Auch dabei knüpft er an Krahl an, in dessen Denken die Konstitutionsproblematik Schlüsselcharakter hat, weshalb sie auch Eingang in den Titel von Konstitution und Klassenkampf fand. Während Krahl Konstitution aber vor allem erkenntnistheoretisch verstand, als Konstitution der fetischistischen Gegenstandswelt, und dafür Marx mit Kant zusammenbrachte, bezog Hegemann diese Problematik auf die Subjektkonstitution, die er mit Marx und Fichte bearbeitete. Der Bezug auf Kant respektive Fichte begründet sich hierbei aus dem jeweiligen erkenntnis- beziehungsweise subjekttheoretischen Ausgangspunkt der beiden Philosophen.

Hegemanns Wende zur Kunst

In den späten 1970er-Jahren war man sich gemeinhin einig, dass die Revolution gescheitert war. Die Bewegung war am Ende. Ihnen standen damals, so Hegemann, zwei Wege offen: Der eine führte in die Politik und wurde etwa von Joschka Fischer (den Hegemann ebenfalls aus der Frankfurter Studienzeit kannte) beschritten, der andere in die Kunst.[3] Der politische Weg habe sich als nicht zielführend erwiesen, da gerade die Grünen, also auch seine früheren Weggefährten, zu den größten Bellizisten geworden seien. Hegemann hatte, wie viele andere 68er*innen, den Weg der Kunst eingeschlagen, allerdings der politischen Kunst, um die Revolution zumindest in diesem Bereich des Spiels und des Scheins verwirklichen zu können. Diese ästhetische Wende zur Kunst habe er Ende der 1970er bewusst vollzogen, weil er keine Perspektive für eine radikale Gesellschaftsveränderung mehr gesehen habe und die Kunst der einzige Ort war, an dem Radikalität noch möglich war. Krahl habe er dabei jedoch nie vergessen.

Hegemanns Theaterschaffen drehte sich um das „Drama des Subjekts“, wie er es in seiner Dissertation theoretisch entwickelt hatte: zwischen Identität und Selbstzerstörung, zwischen Selbstknechtschaft und scheinhafter Befreiung. Dazu gehörte aber auch das praktische Setzen seiner selbst angesichts des Widerstandes des Anderen, der Welt wie anderer Menschen, und das Scheitern dieses Selbst-Setzens in einer Welt, die nach den Prinzipien von Warenform und Konkurrenz strukturiert ist. Hegemann verhandelte diese Fragen nun nicht mehr in akademischen Untersuchungen, sondern auf der Bühne und in essayistischer Tätigkeit. Das Thema seiner Dissertation verfolgte er kontinuierlich weiter, wie bereits seine Essay- und Buchtitel zeigen: „Das Begehren nach Unsterblichkeit“, „Glück ohne Ende“, „Endstation. Sehnsucht“, „Plädoyer für die unglückliche Liebe“, „Einbruch der Realität“, „Wie man ein Arschloch wird“, „Nichtigkeit und Lebenswut“, „Lob der kognitiven Dissonanz“. Titel, die durchaus mit Krahls Analysen zur Subjektivität im Spätkapitalismus resonieren: „An die Stelle langfristiger lebensgeschichtlicher Erwartungen, Hoffnungen und Befürchtungen sind heute kurzfristige Reaktionen im Hinblick auf die Erwartung von Gratifikationen und Befürchtung vor Sanktionen getreten. […] Das Prinzip Hoffnung wird aus dem Bewusstsein der Individuen eliminiert, oder, wie Marcuse versucht hat zu entfalten: selbst das unglückliche Bewusstsein soll absterben.“[4]

Während seiner Zeit als Dramaturg und auch als Professor in Leipzig hielt er das Gedenken an Krahl weiter aufrecht. Er wies seine Schüler auf Krahl hin, trat in Kontakt mit einem Berliner Krahl-Arbeitskreis. Als Dramaturg an der Volksbühne widmete er Krahl das Programmheft einer Castorf-Inszenierung und holte Christian Frankes Theaterstück „Wut und Gedanke“ über Krahl aus Frankfurt an die Volksbühne.

In unserem Gespräch zeigte Hegemann sich überzeugt, dass, wäre Krahl nicht bereits 1970 gestorben, seine eigene Biographie und auch die vieler anderer anders verlaufen wäre. Auch hätte der Abbau der Kritischen Theorie an der Frankfurter Universität, der 1970 unmittelbar nach Adornos Tod begonnen und, angeführt von Habermas, mit einer knallharten Machtpolitik durchgesetzt wurde, aufgrund von Krahls theoretischem Gewicht nicht in dieser Weise vollzogen werden können.

„Für die ganze Entwicklung der Linken ist der Tod von Krahl wirklich verheerend. Ich glaube, wir wären jetzt in einer anderen Situation. Die beiden in meinen Augen politisch wichtigsten Künstler – oder Denker, nämlich Hans-Jürgen Krahl und Christoph Schlingensief, sind viel zu früh gestorben.“

Nach mehr als drei Stunden angeregter Unterhaltung, gegen Mitternacht, sagte Hegemann zu uns, es tue ihm wirklich leid, aber er müsse das Gespräch für diesen Abend beenden. Es freue ihn wirklich, dass sich wieder Leute für Krahl interessierten, und eine Form der generationellen Weitergabe stattfinde. Doch habe er vorhin beim Rauchen kurz den Regisseur Ersan Mondtag getroffen und mit diesem müsse er nun noch dringend sprechen, bevor der den Südblock verlasse. Mensch, so verabschiedete er sich schwungvoll, hier in Kreuzberg sei ja wirklich was los. Schade, dass er im langweiligen Prenzlauer Berg lebe…

  1. Neben unseren Notizen stütze ich mich dafür auf das Interview, das Norbert Saßmannshausen am 22. September 2022 im Frankfurter Archiv der Revolte mit Hegemann führte und aufzeichnete, sowie auf Hinweise von Norbert Saßmannshausen und Hans-Bernhard Schlumm (zu diesem auch im Folgenden).
  2. Vgl. Hermann Kocyba, Hans-Jürgen Krahl und das Problem einer Rekonstruktion revolutionärer Theorie, in: Meike Gerber/Emanuel Kapfinger/Julian Volz (Hg.), Für Hans-Jürgen Krahl. Beiträge zu seinem antiautoritären Marxismus, Wien/Berlin 2022, S. 85–98, hier S. 96.
  3. Hegemann wollte hier vermutlich pointiert die beiden für ihn politisch relevantesten Optionen benennen. Es gab noch weitere, so schlugen andere die Hochschullaufbahn ein oder gingen in die subkulturelle Alternativbewegung, für die der TUNIX-Kongress von 1978 an der TU Berlin den Startschuss gab.
  4. Hans-Jürgen Krahl, Thesen zum allgemeinen Verhältnis von wissenschaftlicher Intelligenz und proletarischem Klassenbewusstsein (1969), in: ebd, Konstitution und Klassenkampf. Zur historischen Dialektik von bürgerlicher Emanzipation und proletarischem Klassenkampf, Frankfurt am Main 2008, S. 336–353, hier S. 346.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Kapitalismus / Postkapitalismus Kritische Theorie Philosophie Politik Politische Ökonomie Universität Wissenschaft

Emanuel Kapfinger

Emanuel Kapfinger promoviert an der FU Berlin in Philosophie. Er ist assoziierter Doktorand am Centre Marc Bloch an der HU Berlin und Dozent für Internationale Politik und politische Theorie im Bildungswerk Berlin der Heinrich-Böll-Stiftung. Seine derzeitigen Arbeitsschwerpunkte sind Hegel, Krahl, Faschismustheorie und Kulturtheorie. Website: www.emanuel-kapfinger.net.

Alle Artikel

PDF

Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.

Empfehlungen

Till Hahn

„Schade, dass Beton nicht brennt!“

Rezension zu „Beton. Massenkonstruktionswaffe des Kapitalismus“ von Anselm Jappe

Artikel lesen

Newsletter