Sebastian Dute, Hans Cord Hartmann | Veranstaltungsbericht | 15.11.2022
Fit für die Zukunft
Bericht von der Tagung „Transformationen des Politischen. Radikaldemokratische Theorie für die 2020er Jahre“ vom 20. bis 22. Oktober 2022 am Freiburger Institute for Advanced Studies
Welchen Ansatzpunkt besitzen Theorien radikaler Demokratie in einer Zeit, in der der lange alternativlos scheinende (Neo-)Liberalismus nachhaltig herausgefordert ist? Diese Frage stellte sich die Tagung „Transformationen des Politischen. Radikaldemokratische Theorie für die 2020er Jahre“, die vom 20. bis 22. Oktober am Freiburger Institute for Advanced Studies (FRIAS) stattfand. Wie die Organisatoren KARSTEN SCHUBERT (Freiburg), LUCAS VON RAMIN (Dresden) und VINCENT GENGNAGEL (Flensburg)[1] in ihrem Eröffnungsvortrag feststellten, ist die Destabilisierung der liberalen Demokratie – einst das Ziel radikaler Demokratietheorien – mittlerweile tatsächlich realisiert worden; jedoch vor allem durch rechtspopulistische Kräfte und Verschwörungserzählungen, und damit unter falschen Vorzeichen. Für einen Theoriestrang, der den Liberalismus stets im Namen einer Intensivierung der Demokratie kritisierte, kann das kein haltbarer Zustand sein. Wenn nicht nur die liberale Demokratie, sondern auch die Demokratie an sich in Zweifel gezogen werde, sei, so die Organisatoren, der radikaldemokratische Ruf nach einer Disruption der liberalen Ordnung womöglich nicht mehr angemessen.[2] Vielmehr sei zu überlegen, ob man mittlerweile die bestehende Demokratie gegen ihre Feinde verteidigen und sich für die massiv infrage gestellte Vernunft als Grundlage unserer Gesellschaft einsetzen müsse.

Vor dem Hintergrund dieser möglichen Einwände gegen die radikale Demokratietheorie entfaltete deren in Freiburg auf die Tagesordnung gesetzte kritische Revision ihre Dringlichkeit. Ist nicht das beharrlich gesungene Lied eines von der institutionellen Politik unterschiedenen Politischen – weil sich nur so die etablierte Ordnung unterbrechen und befragen lasse – heute eher die Begleitmusik eines Scheingefechts? Denn angesichts der mittlerweile real existierenden Alternativen zur liberalen Demokratie und aktueller geo- und klimapolitischer Verwerfungen drohe den Organisatoren zufolge das womöglich schon geringe zeitdiagnostische Potenzial radikaler Demokratietheorien noch weiter zu sinken. Somit könnten die bekannte Institutionenkritik und die Forderungen nach einer Entgrenzung des Politischen als Relikte aus einer anderen theoretischen Epoche erscheinen. Höchste Zeit also, die eigenen Grundüberzeugungen kritisch zu prüfen und, so die Pointe des programmatischen Auftakts, die radikale Demokratietheorie „fit für die Zukunft“ zu machen.
Die Herrschaft des Demos
OLIVER MARCHART (Wien) verdeutlichte in seinem Vortrag, dass man angesichts dieser Herausforderung nicht zwangsläufig an den eigenen theoretischen Grundfesten rütteln muss. Denn im Gegensatz zu anderen demokratietheoretischen Spielarten, die die Demokratie mit ihr äußerlichen Prinzipien (liberal, sozial etc.) zu verbinden suchten, hätten Theorien radikaler Demokratie wirklich die Herrschaft des Demos selbst zum Thema – und nicht etwa seine Beteiligung oder sogar Einschränkung. Die Qualifizierung „radikal“ zeige somit die fehlende Überschreibung durch möglicherweise sogar demokratiefeindliche Ideologeme an. In einer affirmativen Vermessung der sozialontologischen, historischen und systematischen Wurzeln von Demokratie plädierte Marchart anschließend für einen postfundamentalistischen Ansatz. Demnach gebe es miteinander konkurrierende Bestrebungen, die Gesellschaft auf verschiedenen politischen Prinzipien und metaphysischen Figuren zu gründen. In demokratischen Ordnungen müssten die politischen Handelnden Subjekte diese antagonistische Verfasstheit des gesellschaftlichen Fundaments als solche anerkennen. Die modernen Revolutionen galten Marchart als einschneidende Kämpfe um Demokratisierung, deren Verläufe als historische Anhaltspunkte dienen könnten und in deren Folge Konflikt und Kontingenz zu unhintergehbaren Bestandteilen politischen Denkens und Handelns geworden seien. In der prinzipiell grenzenlosen Universalisierung von Freiheit, Gleichheit und Solidarität sah der Referent den systematischen Kern der Demokratie. Eine solche Ausweitung des Herrschaftsprinzips könne ihren Endpunkt, den absoluten Universalismus, allerdings niemals erreichen, weil sie immer wieder mit neuen Grenzziehungen und Ausschlüssen einhergehe. Darin bestehe der nicht auflösbare Widerspruch zwischen demokratischer Politik und Ethik.
Einen Anspruch auf Herrschaft, der sich nicht mit deren bloßer Kritik begnügt, rückte auch DAGMAR COMTESSE (Münster) in den Fokus ihres Beitrags. Unter Rekurs auf Rousseau verteidigte sie einen radikaldemokratischen Begriff von „Volkssouveränität“ – sowohl gegen Versuche von rechts, diesen essenzialisierend zu vereinnahmen, als auch gegen souveränitätsskeptische Vorbehalte von links. Den absoluten Herrschaftsanspruch des Volkes, bestehend aus den Untertanen, deutete Comtesse folgendermaßen aus: Alle, die unter einem Gesetz stehen, haben das Recht, dieses auch zu bestimmen. Eine mitunter auch gegen den Staat verbriefte Volkssouveränität schütze das Volk gerade vor denjenigen, die es beherrschen wollen. Im Gegensatz zur Kritik von Herrschaft, die de facto nur privilegierten gesellschaftlichen Instanzen vorbehalten bleibe, sichere institutionalisierte Volkssouveränität den Herrschaftsanspruch und die konstituierende Macht der Massen gegenüber der verfassten Staatsgewalt.
Normativität und Institutionen
FRANZISKA MARTINSEN (Duisburg/Essen) nahm einen hartnäckigen Vorwurf zum Ausgangspunkt ihres Vortrags:[3] Theorien radikaler Demokratie verfügen trotz der von ihnen gepredigten normativen Enthaltsamkeit über eine sogenannte Kryptonormativität. Außerdem erklären sie die Absage an sämtliche Standards zum Standard und nehmen damit einen normativen Standpunkt ein, der aufgrund seiner unklaren Implikationen problematisch ist – soweit die Kritik. Martinsen konzedierte, dass ein fundierender Begriff von „Normativität“, auf den sich also eine radikaldemokratische Praxis gründen ließe, tatsächlich fehle. Gleichzeitig verwies sie aber auf analytische Kriterien wie Pluralität und Inklusion, die radikale Demokratietheorien bei ihrer Befragung des gesellschaftlichen Ist-Zustands anwenden könnten. Dies mache radikaldemokratische Analysen zu keineswegs neutralen, sondern kritischen Operationen mit durchaus normativen Implikationen.
MANON WESTPHAL (Münster) ging noch einen Schritt weiter und positionierte sich gegen die Institutionenskepsis mancher theoretischer Mitstreiter:innen. Um den postfundamentalistischen Prinzipien des Ansatzes treu zu bleiben, dürfe auch eine institutionentheoretische Erweiterung radikaler Demokratietheorien keine normativen Modelle von Institutionen vorgeben. In kritischer Auseinandersetzung mit bestehenden Institutionen könne sie aber durchaus produktive Verbesserungsvorschläge machen. Dafür empfahl Westphal einen doppelten Fokus: zum einen auf institutionell ermöglichte Gegenhegemonie, zum anderen auf die institutionell garantierte Unterbrechung von Herrschaftsreproduktion.
Als Sand im Getriebe des Bestehenden stört die radikale Demokratietheorie dessen normale Abläufe und zeichnet sich durch eine eigene Theorieform aus, die quer zu den traditionellen politiktheoretischen Angeboten liegt.
Anhand der Debatten um nicht ausgewiesene normative Grundlagen und bezüglich fehlender Verbesserungsvorschläge für demokratische Institutionen sprach FRIEDER VOGELMANN (Freiburg) von einer ihren Kinderschuhen entwachsenen Theorie, die nun die Forderungen der Großen erfüllen will – allen voran die Erwartung, ein stabiles (Post-)Fundament für weitergehende theoretische wie praktische Entwicklungen zu legen. Dagegen beharrte Vogelmann auf dem von ihm als perturbistisch bezeichneten Charakter radikaler Demokratietheorie: Als Sand im Getriebe des Bestehenden störe sie dessen normale Abläufe und zeichne sich durch eine eigene Theorieform aus, die quer zu den traditionellen politiktheoretischen Angeboten liege. Sie entziehe sich dem Ruf nach Ordnung, liefere eben keine sicheren Grundlagen und verweigere sich der Rechtfertigung des Bestehenden. Allerdings, so Vogelmanns Diagnose, reflektiere die radikale Demokratietheorie ihre spezifische Theorieform bislang zu wenig. Als Gesprächspartnerin für solche Diskussionen verwies er insbesondere auf die politische Epistemologie, deren skeptischer Grundimpuls der – im Positiven – störenden Theorieform entspräche.
Anhand dieses Knotenpunkts – der Verknüpfung von wissenschaftspolitischen und theoretischen Grundsatzfragen – entwickelten sich mehrere Diskussionen im Laufe der Tagung zu einer Art Strategiegespräch. Vogelmann warnte die radikalen Demokrat:innen davor, sich in dem Versuch, die eigenen Geltungsansprüche stark zu machen, in normative Gefilde zu begeben. Martinsen hielt dagegen, indem sie darauf hinwies, dass gerade der Vorwurf einer Kryptonormativität im hochschul- und wissenschaftspolitischen Alltag immer wieder dazu diene, radikale Demokratietheorien zu delegitimieren. Um ihn zu widerlegen, sei es geboten, die – im weitesten Sinn – normativen Ressourcen der radikalen Demokratietheorie kenntlich zu machen.
Jenseits der Grundlosigkeit
Was radikale Demokratietheorien von feministischen Theorien der Positionierung und der Intersektionalität lernen können, stellte MAREIKE GEBHARDT (Münster) vor. Im Zentrum ihrer Kritik stand Jacques Rancières Figur der politischen Subjektivierung. Diese bezeichnet einen Vorgang, in dem die von der gegebenen politischen Ordnung (von Rancière als „polizeilich“ markiert) Ausgeschlossen den ihnen zugewiesenen Platz verlassen und sich hinsichtlich ihres Anspruchs auf Gleichheit Gehör verschaffen. In einem solchen emanzipativen Akt negiert das politische Subjekt für Gebhardt die ihm zugeschriebene Identität, die sich aus Position, Ort und Ordnung zusammensetzt. Die Identität eines von Mehrfachdiskriminierungen betroffenen Individuums sei jedoch etwas fundamental Verschiedenes, so Gebhardt, wodurch sich Rancières schematischer Dualismus von Politik und Polizei erheblich verkompliziere. Zum einen könnten Momente des Politischen damit schon innerhalb der polizeilichen Logik aufscheinen und Macht- und Herrschaftsverhältnisse sichtbar machen, zum anderen ließe sich der Akt der Emanzipation nicht mehr ausschließlich als ein einzelnes Loslösen von einer Identifizierung denken.
Auch ANN-KATHRIN KOSTER (Berlin) erweiterte Rancières Politikverständnis. Für ihn waren repräsentative Meinungsumfragen und statistische Hochrechnungen nichts anderes als Versuche, das Volk in statistischen Kennzahlen ganzheitlich zu erfassen und von der quantifiziert erfassten öffentlichen Meinung zu überzeugen. Allerdings hätte seine Kritik an diesen Instrumenten, so Koster, eine allzu technikdeterministische Schlagseite, die sich auch im aktuellen demokratietheoretischen Mainstream finde. Letzterem hielt sie eine von den Science and Technology Studies inspirierte Perspektive entgegen, in der Technik in ihrem komplexen Verhältnis zu gesellschaftlichen und politischen Strukturen in den Blick genommen und auf ihr Ermöglichungspotenzial hin befragt wird. Formen des Hashtag-Aktivismus in antirassistischen und antisexistischen Bewegungen dienten Koster als Beispiel für politische Aneignungsprozesse technischer Strukturen. Technik könne eine entscheidende Vermittlungsrolle für eine Politik à la Rancière einnehmen, die sich im Raum zwischen den Institutionen und materiellen Verhältnisse abspiele.
Mit einer relationalen Perspektive lassen sich die von der polizeilichen Ordnung gekappten oder präformierten Beziehungen problematisieren.
Mit Rancière bezogen sich mehrere Tagungsbeiträge auf einen Autor, der den Postfundamentalismus – das sozialontologische Paradigma der konstitutiven Grundlosigkeit von Gesellschaft – letztlich nicht ins Zentrum seiner Theorie rückt. Dennoch machte sich in den Diskussionen bemerkbar, dass der Postfundamentalismus zumindest im deutschsprachigen radikaldemokratischen Diskurs nach wie vor fest verankert zu sein scheint – unabhängig davon, ob dieser theoretische Weg nun mit[4] oder ohne[5] Referenz auf Heidegger beschritten wird und ob er eher kritische Befragungen (Martinsen) oder demokratische Proteste und gegenhegemoniale Politiken (Marchart) motiviert. In der an Gebhardts Vortrag anschließenden Diskussion blickten die Referentin sowie Koster und die zugeschaltete Paula-Irene Villa Braslavsky ein Stück weit über den (deutschsprachigen) radikaldemokratischen Tellerrand hinaus, indem sie eine relationale Perspektive stark machten. Mit dieser ließen sich etwa die von der polizeilichen Ordnung gekappten oder präformierten Beziehungen problematisieren sowie Vulnerabilität als Kategorie politischer Herrschaft, aber auch als geteilte Voraussetzung für politische Mobilisierung konzeptualisieren.
Dieses politische Potenzial relationaler Spielarten ontologischen Denkens reicherten in den letzten Jahren auch Anhänger:innen feministischer Neo-Materialismen an. Um es weiter auszuloten, bietet sich ein erneuter Blick in den Kanon der radikalen Demokratietheorie selbst an: etwa auf Jean-Luc Nancys plurale Ontologie des Mit-Seins oder aber – abzüglich von dessen Hang zum Philosophismus[6] und mit stärkerer politischer Gewichtung – auf Étienne Balibars transindividuelle Spinoza-Lektüren.[7] Mittlerweile scheint das Bewusstsein für die elementare Kontingenz sozialer Ordnungen stärker geschärft zu sein als zur Zeit der ersten Postdemokratie-Diagnosen. Angesichts einer solchen politischen und theoretischen Konstellation könnte sich der Versuch lohnen, spezifische Möglichkeiten politischer Transformation nunmehr auch in den Handlungsspielräumen und wechselseitigen Beziehungen der politischen Subjekte zu lokalisieren.
Fußnoten
- GEORG SPOO (Freiburg), ebenfalls Teil des Organisationsteams, konnte nicht vor Ort an der Tagung teilnehmen.
- Dem ließe sich hinzufügen, dass mit den gleichen Argumenten auch die typische radikaldemokratische Forderung, besonders sensibel für die von Demokratien produzierten Ausschlüsse zu sein, in der gegebenen Situation als strategisch verfehlt kritisiert werden könnte.
- Diesen Vortrag hätte sie eigentlich gemeinsam mit OLIVER FLÜGEL-MARTINSEN (Bielefeld) halten sollen, der allerdings, wie einige andere ursprünglich angekündigte Teilnehmer:innen, verhindert war.
- Oliver Marchart, Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Berlin 2010.
- Oliver Flügel-Martinsen, Linksheideggerianismus?, in: Paul Sörensen / Nikolai Münch (Hg.), Politische Theorie und das Denken Heideggers, Bielefeld 2013, S. 175–190.
- Marchart, Die politische Differenz, S. 110–117.
- Étienne Balibar, Spinoza. From Individuality to Transindividuality, Delft 1997; ders., Potentia multitudinis, quae una veluti mente ducitur. Spinoza on the Body Politic, in: Stephen H. Daniel (Hg.), Current Continental Theory and Modern Philosophy, Evanston, IL 2005, S. 70–99.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.
Kategorien: Demokratie Gesellschaftstheorie Politik Politische Theorie und Ideengeschichte Recht Staat / Nation Technik
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