Nicole Holzhauser | Essay |

Klassiker und Klassikerinnen der Soziologie

Zur empirischen Realität des soziologischen Kanons

1. Einleitung

In der Geschichte der Soziologie haben sich bestimmte Werke und Autoren als Klassiker etabliert. Getreu dem antiken Wortursprung handelt es sich bei ihnen um „Bürger der ersten Klasse“, die aus der Masse herausragen. Diese in ihrer Sichtbarkeit und Anerkennung privilegierten „Klassiker im Goldrahmen“[1] beeinflussen bis heute maßgeblich das wissenschaftliche Verständnis und den soziologischen Diskurs innerhalb des Faches. Als Heilige Dreifaltigkeit werden dabei in der soziologischen Theorie insbesondere Karl Marx, Émile Durkheim und Max Weber verehrt.[2] Abseits dieser drei Riesen, auf deren Schultern wir uns gemäß der wissenschaftsgeschichtlichen Metapher befinden,[3] gibt es noch zahlreiche weitere Personen,[4] die in der Soziologie oder den Sozialwissenschaften mit dem Prädikat des Klassikers oder der Klassikerin[5] ausgezeichnet wurden und werden. Allerdings gibt es Variationen hinsichtlich der Zusammensetzung des Personenkreises, deren Werke als klassisch beziehungsweise kanonisch beschrieben werden, je nachdem, welche Kriterien von wem in welchem Kontext für die Auswahl angelegt werden.

Eine als Kanon bezeichnete Sammlung von Schlüsseltexten beziehungsweise zentralen Autoren und Autorinnen dient nicht nur als Orientierungshilfe für Studierende und Forschende, sondern ist stets auch Ausdruck der Machtverhältnisse und Wertesysteme, die eine Fachdisziplin formen. Bemerkenswert dabei sind die Unterrepräsentanz von Klassikerinnen und die Marginalisierung bestimmter Gruppen, die sowohl historische als auch aktuelle Strukturen der Exklusion widerspiegeln.

Mit der Zusammenstellung eines Kanons stellt sich nicht nur die Frage nach den Methoden und Kriterien, nach denen die Auswahl der Klassiker und Klassikerinnen beziehungsweise der klassischen Werke der Soziologie erfolgt, sondern auch die Frage nach den Konsequenzen, welche die Auswahlkriterien, der Auswahlprozess und dessen Ergebnis für das Fach, dessen Angehörige und deren Erkenntnisse haben. Bevor ich auf diese Fragen eingehe, will ich allerdings kurz erörtern, welche Funktionen ein Kanon überhaupt erfüllt und warum es sich lohnt, die Rolle und Bedeutung von Klassikern kritisch zu hinterfragen. Zu diesem Zweck nehme ich, ausgehend von empirischen Befunden, die Zusammensetzung des vorherrschenden Kanons in den Blick und beleuchte auch jene Positionen und Perspektiven, die darin nicht oder nur unzureichend vertreten sind.

2. Definition, Funktion und Kritik des soziologischen Kanons

Die Auswahl, Rolle und Bedeutung der (vielen) Klassiker und (wenigen) Klassikerinnen in der soziologischen Theoriebildung ist vielfach analysiert worden.[6] Wenn wir von Klassikern und Klassikerinnen in der Soziologie sprechen, sind oft Werke beziehungsweise Autoren und Autorinnen gemeint, die einen maßgeblichen und nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung der Disziplin, ihre Paradigmen, Begriffe und methodologischen Ansätze hatten. Dieser Einfluss manifestiert sich in der anhaltenden Aktualität und Relevanz eines Werkes, etwa für die soziologische Theoriebildung, die Lehre oder die Forschungspraxis. Ein Werk erfüllt diese Kriterien dann, wenn es heutige gesellschaftliche Phänomene wie Kapitalismus, Bürokratie, Rationalisierung, Desintegration oder Ungleichheit bereits in deren Entstehungszeit analysiert hat und seine Problembeschreibungen und Antworten noch heute ein besseres Verständnis des Sozialen ermöglichen.

Kurzum, die Klassiker und Klassikerinnen gelten als unerlässliche Referenzpunkte der Disziplin, und zwar sowohl für aktuelle als auch für zukünftige Forschungen. Aber wie wird jemand oder etwas zum Klassiker oder zur Klassikerin?[7] Bei klassischen Werken handelt es sich nicht nur um Texte, die allein aufgrund ihrer wissenschaftlichen Qualität als herausragend angesehen werden. Vielmehr handelt es sich häufig auch um Werke, die etablierte wissenschaftliche Standards verschoben, neue Perspektiven eröffnet oder Paradigmen verändert und so die Soziologie in bedeutender Weise geprägt haben.[8] Das heißt, es sind nicht ausschließlich die inhärenten Qualitäten eines Werks oder die mutmaßliche Genialität eines Autors respektive einer Autorin ausschlaggebend für den Status als Klassiker beziehungsweise Klassikerin. Gerade als Soziolog:in weiß man: Oft sind es auch soziopolitische, kulturelle, ökonomische, institutionelle und publizistische Faktoren,[9] die darüber entscheiden, welche Werke oder Autoren und Autorinnen im Rampenlicht stehen und welche aus selbigem wieder verschwinden oder von Anfang an im Schatten bleiben.

Zunächst scheint es also eine wichtige Voraussetzung zu sein, dass ein Werk signifikante Konsequenzen für ein wissenschaftliches Feld hatte (und gegebenenfalls noch immer hat), die zu einer maßgeblichen Entwicklung oder Veränderung der Disziplin (gegebenenfalls auch im Kontext anderer Disziplinen) führten.[10] Zeit im Sinne einer fortdauernden Rezeptions- und Wirkungsgeschichte scheint ebenfalls ein relevanter Faktor zu sein. Damit ist gemeint, dass ein Werk nicht nur in seinem zeitgenössischen Kontext, sondern auch unabhängig von diesem in späteren historischen Zeiträumen seine Bedeutung behält oder neuerlich an Bedeutung gewinnt. Damit einher geht der Faktor der Aneignung und Weiterentwicklung des Werkes durch nachfolgende Generationen, zum Beispiel durch Schüler und Schülerinnen eines Autors beziehungsweise einer Autorin. Im besten, das heißt der Klassikerbildung günstigsten Fall finden sich unter den Rezipientinnen und Rezipienten Personen, die in ihrer jeweiligen Zeit selbst über Reputation und Einfluss verfügen und das betreffende Werk in ihre eigene Forschung integrieren und so lebendig halten.

Dieser Aspekt leitet über zum nächsten Punkt, nämlich zur Reproduktion des Wissens in der soziologischen Ausbildung. Hierfür ist entscheidend, ob ein Werk regelmäßig in Lehrpläne integriert und in der Lehre aktiv diskutiert wird.[11] Während eine Integration in das soziologische Studium und damit in die wissenschaftliche Sozialisation späterer Generationen von Soziologen und Soziologinnen den Grundstein zu legen scheint für die fortgesetzte Rezeption eines Werkes, spielen auch der akademische Diskurs und die tatsächlich praktizierte Anerkennung durch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler qua Zitationen eine entscheidende Rolle.[12] Nur wer häufig zitiert wird, hat eine Chance auf Kanonisierung.[13] Damit verbunden ist die Frage der Verfügbarkeit eines Werkes. Werke, die leicht zugänglich sind, wenig kosten und weit verbreitet sind, haben eine größere Chance, von einer breiteren Gemeinschaft gelesen und anerkannt zu werden.[14]

Bis hierhin handelte es sich bei den genannten Aspekten um vermeintlich wissenschaftsimmanente Faktoren.[15] Frei nach dem Motto: Wenn ein Werk exzellent ist, dann setzt es sich auch durch, das heißt, es wird in der Lehre verwendet, im wissenschaftlichen Diskurs zitiert und über Generationen hinweg weitergegeben. Doch ganz so einfach ist es nicht, denn auch der Erwerb beziehungsweise die Vergabe wissenschaftlicher Meriten erfolgen auf Basis sozialer, kultureller, ökonomischer und institutioneller Prozesse und der in ihnen wirksamen Machstrukturen.[16] Beispielsweise können Werke, die bestimmte Ideologien oder Weltanschauungen unterstützen, zu verschiedenen Zeitpunkten und/oder in verschiedenen politischen Systemen eher als klassisch oder nicht klassisch erachtet werden, je nachdem, ob sie in den jeweiligen sozialen Kontext passen. Gleichzeitig gilt für all jene, die in einer bestimmten Zeit oder in einem bestimmten Gesellschaftssystem gegen den akademischen Strom schwimmen, dass sie eher nicht kanonisiert werden (und aufgrund von kumulativen Effekten auch später geringere Chancen auf Kanonisierung haben).[17] Die Konstruktion von wissenschaftlicher Autorität im Zeitverlauf ist ein hochgradig soziokultureller Prozess und es geht dabei nicht nur darum, wer was sagt und zu wem, sondern auch darum, wie und in welchem Kontext dies geschieht.[18] Auch werden Werke mit größerer Wahrscheinlichkeit kanonisiert, das heißt, ihre wissenschaftliche Leistung wird als exzellenter beurteilt, wenn ihre Rezeption in einem sozialen Netzwerk von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verankert ist.[19] Kurzum, gesellschaftliche Machtstrukturen in den jeweiligen zeitgenössischen Feldern innerhalb und außerhalb der Wissenschaft spielen eine entscheidende Rolle in Bezug auf die Frage, wer oder was jeweils als Klassiker oder Klassikerin anerkannt wird. Das kann dazu führen, dass bestimmte Stimmen – bisher zumeist die von Frauen, People of Color und anderen marginalisierten Gruppen – aus dem Mainstream-Diskurs ausgeschlossen bleiben oder in ihm nur unzureichend repräsentiert sind.[20]

Das auffällige Fehlen von Frauen in den entsprechenden Kompilationen und Nachschlagewerken der Soziologie ist auf diese Ursachen zurückzuführen.[21] Historisch gesehen waren Frauen in den frühen Tagen der Soziologie oft vom akademischen Diskurs ausgeschlossen.[22] Selbst, wenn sie Beiträge zur Forschung leisteten, wurden diese häufig nicht mit der gleichen Anerkennung bedacht wie die ihrer männlichen Kollegen.[23] Hinzu kommt ein andauernder Gender-Bias: Es gibt Belege dafür, dass Werke von Frauen seltener zitiert werden, und zwar selbst dann, wenn sie denen ihrer männlichen Kollegen inhaltlich und qualitativ ebenbürtig sind.[24] Die Folge ist, dass über einen langen Zeitraum Themen, die eher für Frauen und soziale Minderheiten relevant waren, aus dem soziologischen Diskurs weitgehend ausgeblendet blieben.[25]

Dieser Ausschluss wiegt deshalb so schwer, weil die (vielen) männlichen und (wenigen) weiblichen Klassiker:innen eine zentrale Rolle in der Soziologie spielen. Sie bieten Orientierung, und zwar sowohl für Studierende als auch für erfahrene Forschende. Sie bilden gewissermaßen das Fundament, auf dem das Fach aufbaut.[26] Zudem dient die Bezugnahme auf Klassiker:innen der Legitimation: Wer seine Arbeit in den Kontext etablierter und anerkannter Werke stellt, kann die Relevanz und Legitimität seiner eigenen Forschung untermauern. Darüber hinaus vermitteln die als klassisch geltenden Autorinnen und Autoren ein Gefühl von Tradition und Kontinuität. Sie definieren zentrale Themen und Debatten und tragen somit zur Bildung einer kollektiven Fachidentität bei. Angesichts dieser zentralen Funktionen und der zuvor diskutierten Kritik an den bei ihrer Auswahl wirksamen Selektionskriterien, die deutliche Biases aufweisen,[27] ist es sinnvoll und notwendig, sich empirisch mit der Kanonbildung und den dabei wirksamen Mechanismen (und Methoden) auseinanderzusetzen.[28]

Denn trotz der bedeutenden Funktionen des Kanons gibt es auch erhebliche Kritikpunkte und negative Implikationen. Ein Kanon kann wie eine Art Gatekeeper wirken, insofern durch ihn definiert wird, welche Stimmen als legitim und wichtig gelten und welche ungehört bleiben.[29] Durch die Fixierung auf bestimmte Personen oder Themen kann ein Kanon zu einer Einengung des Diskurses führen und somit die Offenheit der Soziologie für neue Ideen, Theorien und Perspektiven limitieren.[30] Dies bringt die inhärente Gefahr mit sich, dass der Kanon nicht die volle Bandbreite soziologischer Perspektiven und Untersuchungen widerspiegelt, sondern lediglich einen engen, oft westlich-zentrierten Ausschnitt.[31] Diese Exklusivität kann dazu führen, dass die Soziologie a) in ihrer Fähigkeit eingeschränkt wird, gesellschaftliche Prozesse und Phänomene umfassend zu verstehen und zu analysieren, und b) bestimmte soziale Gruppen von der Partizipation an der Soziologie ausgeschlossen bleiben. Das kann eine Art Echokammer-Effekt zur Folge haben.[32] Schließlich kann die übermäßige Fokussierung auf den Kanon auch dazu führen, dass aktuelle, relevante Forschungsergebnisse und Theorien, die außerhalb des Kanons liegen, nicht die Anerkennung und Aufmerksamkeit erhalten, die sie verdienen. Es ist also von entscheidender Bedeutung, den Kanon nicht als starres und unveränderliches Set von Autor:innen und Werken zu betrachten, sondern als etwas, das ständig hinterfragt und neu bewertet werden muss (und das sich im Übrigen empirisch über die Zeit gerade eben nicht als starr, sondern als dynamisch und variabel darstellt).[33]

3. Empirische Befunde zur Kanonbildung

Widmen wir uns der empirischen Betrachtung real existierender Kanones in der Soziologie.[34] Um es einfach zu halten, lasse ich hierbei die Fragen außer Acht, ob es einen globalen Kanon gibt, ob es verschiedene nationale Kanones gibt – es gibt auf jeden Fall im Detail nationale Unterschiede –, und ob es überhaupt so etwas wie einen verbindlichen Kanon geben kann, schließlich existiert ja, anders als in der römisch-katholischen Kirche, keine offizielle Instanz, die zu einer solchen dogmatischen Festlegung befugt wäre.

Die meisten empirischen Untersuchungen dieser Art wollen herausfinden, wie der betreffende Kanon zusammengesetzt ist, und diese Zusammensetzung sowie die damit verbundenen Implikationen sodann explizit machen. Diesem Vorgehen ist ein gewisser Vorschlagscharakter zu eigen, weil durch die Explikation des Kanonisierungsprozesses auch Fakten geschaffen beziehungsweise Effekte verstärkt werden, sodass die zutage geförderten empirischen Ergebnisse, ob gewollt oder nicht, ihrerseits Einfluss auf künftige Kanonisierungsprozesse haben. Anders ausgedrückt: Indem wir Kanonisierungsforschung betreiben, tragen wir ebenfalls zur Kanonisierung bei, sei es in affirmativer oder kritischer Absicht, sei es für oder gegen den bestehenden Kanon.

Auf eine methodenkritische Diskussion der verschiedenen Erhebungsmethoden muss aus Platzgründen an dieser Stelle verzichtet werden.[35] Ich halte nur fest, dass die drei veranschaulichten Untersuchungsmethoden unterschiedlich viele Personen – von wenigen Expert:innen bis hin zu näherungsweisen ganzen Wissenschaftsgemeinschaften – involvieren und auf unterschiedlichen Wegen – zum Beispiel über Analysen bewusster oder unbewusster, direkter oder indirekter Anerkennungspraktiken – zu ihren Ergebnissen kommen. Im Weiteren werde ich mich bei der kritischen Betrachtung der Kanones im Hinblick auf die Sichtbarmachung von Frauen und anderen unterrepräsentierten Gruppen aus Platzgründen auf die exemplarische Hervorhebung weiblicher Stimmen beschränken.

Im Folgenden analysiere ich drei verschiedene Kanones. Dabei schaue ich mir zuerst solche an, die von Expert:innen zusammengestellt wurden, wie zum Beispiel Dirk Kaeslers Klassiker der Soziologie oder George Ritzers Major Social Theorists. Anschließend diskutiere ich eine Umfrage unter den Mitgliedern der International Sociological Association (ISA), in der die Books of the 20th Century erfragt wurden. Und schließlich nehme ich einen Kanon in den Blick, der auf einer Zitationshäufigkeitsanalyse basiert.

3.1 Von Expert:innen erstellte Kanones

Ein gängiges Instrument zur empirischen Untersuchung eines Kanons ist der inhaltsanalytische Vergleich. Bei diesem Verfahren werden meist Inhaltsverzeichnisse, manchmal aber auch ganze Texte ausgewählter Lehrbücher miteinander verglichen, sei es auf nationaler oder internationaler Ebene. Hierbei findet ein doppelter Auswahlprozess durch Expert:innen statt: erstens übernehmen Expert:innen die Auswahl der Klassiker:innen beziehungsweise der klassischen Werke, die in die Kompendien aufgenommen werden, und zweitens wählen wiederum Expert:innen die Kompendien aus, die für die Analyse der Kanones herangezogen werden und damit als Klassiker:innendefinitionsbasis anerkannt werden.

Eine in Deutschland recht bekannte Studie stammt von Eva Barlösius,[36] die französische, deutsche und US-amerikanische Lehrbücher aus verschiedenen Jahrzehnten miteinander verglichen hat – einmal ausgewählte Kompendien aus dem Zeitraum von 1967–1978,[37] und einmal solche aus der Zeit von 1997–2000.[38] Mich interessieren im Folgenden vor allem die länderübergreifenden Gemeinsamkeiten.

1967–1978 (Barlösius-Studie)1997–2000 (Barlösius-Studie)
Auguste Comte (1798–1857)Auguste Comte (1798–1857)
Karl Marx (1818–1883)Karl Marx (1818–1883)
Vilfredo Pareto (1848–1923)Vilfredo Pareto (1848–1923)
Émile Durkheim (1858–1917)Émile Durkheim (1858–1917)
Georg Simmel (1858–1918)Georg Simmel (1858–1918)
Max Weber (1864–1920)Max Weber (1864–1920)
 Herbert Spencer (1820–1903)
 George Herbert Mead (1863–1931)
 Alfred Schütz (1899–1959)
 Talcott Parsons (1902–1979)
 Jürgen Habermas (geboren 1929)
 Pierre Bourdieu (1930–2002)

Tabelle 1: Auszug aus den Ergebnissen der Lehrbuch-Vergleiche von Eva Barlösius, Die Nennung der Namen erfolgt in chronologischer Reihenfolge, sortiert nach Geburtsjahr. (Darstellung nach Barlösius 2004)

Die offensichtlichsten Befunde in aller Kürze: Für die 1960er- und1970er-Jahre findet Barlösius sechs von 23 Personen übereinstimmend in allen drei Ländern in einem Lehrbuch thematisiert (Comte, Marx, Pareto, Durkheim, Simmel und Weber).[39] In keinem der drei betrachteten Lehrbücher findet sich unter den Klassikern eine Frau, auch nicht weiße oder nicht westliche Personen finden keine Erwähnung.

In den 1990er-Jahren bleiben die genannten Übereinstimmungen stabil. Zusätzlich kommen nun weitere sechs Personen in allen untersuchten Lehrbüchern hinzu (Spencer, Mead, Schütz, Parsons, Habermas und Bourdieu). Während Spencer, Mead und Schütz bereits in einigen Lehrbüchern der 1960er- und 1970er-Jahre thematisiert wurden, handelt es sich bei Parsons, Habermas und Bourdieu um echte Neuzugänge. Insgesamt lässt sich damit für 12 von 45 Personen eine länderübergreifende Übereinstimmung feststellen.[40]

Weder in Deutschland noch in Frankreich wird eine Frau oder eine nicht westliche Person genannt. Allerdings finden sich in George Ritzers US-amerikanischem Lehrbuch Major Social Theorists[41] nun zwei Frauen, nämlich Harriert Martineau (1802–1876) und Charlotte Perkins Gilman (1860–1935).[42] Martineau war eine der ersten Soziologinnen, die die Bedeutung sozialer Institutionen und Hierarchien sowie die Rolle der Geschlechter in der Gesellschaft untersuchte. Sie übersetzte außerdem die Werke von Comte ins Englische und betonte die Bedeutung der wissenschaftlichen Methode sowie der empirischen Forschung für die Soziologie. Sie argumentierte, dass Gesellschaften von unten nach oben analysiert werden müssten, wobei der Fokus auf den alltäglichen Erfahrungen der Menschen liegen sollte.[43] Gilman war eine US-amerikanische Sozialreformerin und Schriftstellerin. Sie thematisierte in Werken wie Women and Economics die untergeordnete Stellung der Frau in der Gesellschaft und sprach sich für die wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen aus. Ihr Engagement für Frauenrechte und soziale Reformen machte sie zu einer zentralen Figur der frühen feministischen Bewegung.[44]

Insgesamt sind ein starker Eurozentrismus sowie eine thematische Abwesenheit von feministischen, queeren sowie postkolonialen und postmigrantischen Ansätzen auffallend. Auch andere theoretische Strömungen, wie modernisierungs- und entwicklungstheoretische oder poststrukturalistische Ansätze werden nur randständig thematisiert.

Im Zeitvergleich der verschiedenen Lehrbücher zeigt sich, dass die Zahl der behandelten Personen insgesamt zugenommen hat und dass die neu hinzugekommenen Personen mehrheitlich später geboren sind als diejenigen, die bereits in den Publikationen der 1960er- und 1970er-Jahre behandelt wurden. Der Anteil an Übereinstimmungen hinsichtlich aller in den verschiedenen Ländern behandelten Personen liegt im zeitlichen Verlauf prozentual stabil bei 26 Prozent beziehungsweise 27 Prozent, das heißt, es scheint keine Angleichung der Kanones stattzufinden. Es sei aber darauf hingewiesen, dass der Anteil derer, die nur in einem Land gewürdigt werden, von 44 Prozent auf 31 Prozent gesunken ist, was für ein wenig mehr Internationalisierung spricht.[45]

Halten wir also fest: Selbst Fachleute aus dem Kreis der Disziplin stimmen in ihren Urteilen nicht so sehr überein, dass von einem einheitlichen Kanon der Soziologie gesprochen werden könnte. Was sich aber immerhin findet, ist eine stabile Basis an Übereinstimmungen. Als Lehrbücher haben diese Werke einen relativ großen Einfluss auf die Sozialisation nachfolgender Generationen von Soziolog:innen und sind folglich einigermaßen wirkmächtig. Den Autor:innen beziehungsweise Herausgeber:innen der entsprechenden Kompendien kommt damit eine große Verantwortung zu, sind sie es doch, die maßgeblich mit darüber entscheiden, wessen Verdienste um das Fach wie und in welchem Umfang gewürdigt werden. Das wirft die Frage auf, ob diese Verantwortung nicht besser von mehreren oder gar möglichst vielen als nur von einigen wenigen Personen geschultert werden sollte.

3.2 Befragungen der soziologischen Wissensgemeinschaft

Diesen Ansatz verfolgen beispielsweise Studien, die Befragungen von Kollektiven soziologischer Peers als Grundlage für die empirische Erhebung oder Erstellung eines soziologischen Kanons zugrunde legen.[46] Diese können je nach Forschungsinteresse und dafür notwendiger Befragungsgruppe Forschende, Studierende oder auch ganz andere Personen (wie etwa Wissenschaftsjournalist:innen oder Zeitschriftenherausgeber:innen) sein. Exemplarisch betrachte ich nachfolgend die internationale Meinungsumfrage unter den Mitgliedern der ISA mit dem Titel Books of the XX Century[47] aus dem Jahr 1997. Bei dieser Umfrage wurde nicht nach Klassiker:innen gefragt, sondern nach den für die Disziplin einflussreichsten Werken des 20. Jahrhunderts. 455 Personen nahmen an der Umfrage teil, das entspricht 16 Prozent der damaligen ISA-Mitglieder.

RangBooks of the XX Century (ISA-Umfrage)%
1Max Weber (1864–1920): Economy and Society21%
2C. Wright Mills (1916–1962): The Sociological Imagination13%
3Robert K. Merton (1910–2003): Social Theory and Social Structure11%
4Max Weber (1864–1920): The Protestant Ethic and the Spirit of Capitalism10%
5Peter L. Berger (1929-2017) & Thomas Luckmann (1927–1990): The Social Construction of Reality10%
6Pierre Bourdieu (1930–2002): Distinction: A Social Critique of the Judgement of Taste10%
7Norbert Elias (1897–1990): The Civilizing Process7%
8Jürgen Habermas (geb. 1929): The Theory of Communicative Action6%
9Talcott Parsons (1902–1979): The Structure of Social Action6%
10Erving Goffman (1922–1982): The Presentation of Self in Everyday Life6%

Tabelle 2: Auszug aus der Umfrage Books of the XX Century (Darstellung nach ISA 1997)

Auch hier nur die wichtigsten Punkte: Es gibt im Grunde drei Gruppen in den Top Ten dieser Umfrage. Mit Wirtschaft und Gesellschaft führt Weber die Liste der als besonders relevant erachteten Bücher mit großem Abstand an. Er ist zudem der einzige Autor, der noch mit einem zweiten Titel unter den ersten zehn Plätzen vertreten ist, nämlich mit Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus auf Rang 4. Damit bildet er gewissermaßen eine Gruppe für sich. Die zweite Gruppe umfasst die auf den Rängen 2 bis 6 gelisteten Titel, die es allesamt auf je rund 10 Prozent der abgegebenen Stimmen bringen. Nur C. Wright Mills’ Werk Sociological Imagination auf Rang 2 hat mit 13 Prozent noch einen leicht erhöhten Wert im Vergleich zu den anderen. Zur dritten Gruppe gehören die Bücher auf den Rängen 7 bis 10, die bei jeweils rund 6 Prozent der Nennungen liegen. Es gibt also bereits innerhalb dieser zehn Positionen ein recht großes Gefälle hinsichtlich der Anerkennung unter soziologischen Peers.

Schauen wir auf die (hier nicht abgebildeten) hinteren Ränge der Tabelle. Das erste Werk von einer Frau in der Liste findet sich mit 5 Stimmen auf Rang 56.[48] Es handelt sich um Hannah Arendts The Origins of Totalitarianism. Mit dieser Beschreibung von sozialen und politischen Dynamiken und Mechanismen, die zu totalitären Systemen führen, leistete Arendt wesentliche Beiträge zur politischen Soziologie.[49] Auch Maria Mies wird mit Patriarchy and Accumulation on a World Scale: Women in the International Division of Labour fünfmal genannt. Mies war eine deutsche Soziologin und marxistische Feministin, die mit ihren Arbeiten zur Globalisierung und deren Auswirkungen auf Frauen bekannt wurde. Ihr intersektionaler Ansatz verbindet Geschlechter-, Klassen- und ethnische Analysen. Ihre konzeptuelle Kopplung von Patriarchat und Kapitalismus hat den Diskurs über Geschlechter und globale Ungleichheiten geprägt.[50]

Unter den Werken mit vier Nennungen ist Arendt erneut vertreten, und zwar mit The Human Condition. Ebenfalls vertreten sind auch Simone de Beauvoir mit Le deuxième sexe und Ruth Benedict mit Patterns of Culture. De Beauvoirs Buch gehört zu den Grundlagenwerken der feministischen Theorie. Ihr Beitrag positioniert sie als eine der einflussreichsten Denkerinnen des 20. Jahrhunderts.[51] Die US-amerikanische Anthropologin Benedict ist eher als Klassikerin der Kulturanthropologie bekannt. Allerdings gibt es Überschneidungen zwischen den Disziplinen und ihre Arbeit hat zweifellos auch soziologische Relevanz. Sie untersuchte ethnografisch, wie kulturelle Normen und Werte Geschlechterrollen formen, unter anderem auch in Japan.[52]

Ester Boserup wird mit Women’s Role in Economic Development dreimal genannt, ebenso wie Magali Sarfatti Larsons[53] The Rise of Professionalism, Lilian B. Rubins Worlds of Pain sowie Gita Sen und Caren Grown mit Development, Crises and Alternative Visions: Third World Women’s Perspectives. Belassen wir es hier dabei.[54] Nur kurz angemerkt sei noch, dass der afro-amerikanische Soziologe und Bürgerrechtler W.E.B. Du Bois, der inzwischen nicht selten als Klassiker der Soziologie Anerkennung findet, in dieser Umfrage (noch) nicht genannt wurde. Frantz Fanon, ein afro-karibischer Vertreter postkolonialer Theorie, wurde mit dem Werk Les damnés de la terre[55] dreimal erwähnt.

Zusammengefasst: In den Top Ten der soziologischen Bücher des 20. Jahrhunderts – deren Erhebungszeitraum, zur Erinnerung, im Jahr 1997 lag – finden sich ausschließlich Werke von männlichen Autoren europäischer oder nordamerikanischer Herkunft. Publikationen aus den Bereichen Feminismus, Poststrukturalismus und postkoloniale Theorien fehlen auf den vorderen Rängen. Nimmt man jedoch die ganze Liste in den Blick, so finden sich zumindest unter den nur vereinzelt erwähnten Büchern einige Werke der betreffenden Ansätze.

Auffällig ist, dass durch die Begrenzung auf das 20. Jahrhundert die Schriften von Karl Marx per definitionem aus dem so erhobenen Kanon herausfallen, während Weber und Durkheim noch mit spät veröffentlichten Werken enthalten sind.[56] Im Design dieser Studie findet sich also auch eine interessante implizite Aussage: Vor 1900 veröffentlichte Bücher werden indirekt durch ihren Ausschluss aus der Studie als nicht mehr oder weniger relevant klassifiziert.

Mit insgesamt 978 verschiedenen genannten Büchern weisen die zusammengefassten Antworten damit jenseits der ersten sechs Plätze eine beachtliche Heterogenität auf. Und selbst das mit großem Abstand für am wichtigsten erachtete Werk, Max Webers Wirtschaft und Gesellschaft, wurde insgesamt nur von jeder fünften Person als „most influential“ gekennzeichnet. So beachtlich dieser Wert auf den ersten Blick scheint, im Umkehrschluss bedeutet er, dass von nahezu 80 Prozent der befragten Personen das Buch nicht genannt wurde. Mit Blick auf die ISA kann man also nur schwerlich von einer über das gesamte soziale Feld der internationalen Soziologiegemeinschaft hinweg reichenden Standardisierung von einzelnen Werken sprechen.

Auch für diese Studie lässt sich demnach angesichts des Faktes, dass die Ergebnisse stark heterogen sind und es kein einziges Werk gibt, das auch nur von der Hälfte oder gar einem Viertel aller Befragten genannt würde, festhalten, dass es nur wenige breit geteilt als Klassiker anerkannte Werke gibt. Zugleich findet sich eine sehr große Variation auf den hinteren Rängen, was für ein erhebliches Maß an Theorienvielfalt sowie für eine weitere Verzweigung des Faches in relativ unabhängige Subdisziplinen spricht.

4. Empirische Kanon-Erhebung qua Zitationsanalyse

Als Alternative zur Befragung von Expert:innen oder soziologischen Peers kann man – insbesondere im Zeitalter von digitaler Bibliometrie – auch Zitationsmetriken, also die Nennungshäufigkeiten von Personen und Werken in Fachpublikationen, zur Bestimmung ihres Wirkungsgrades heranziehen. Dieses Verfahren beruht auf der Annahme, dass die Häufigkeit der Nennungen beziehungsweise Zitationen einer Person oder einer Veröffentlichung deren Bedeutsamkeit widerspiegelt.

Ich will diese Erhebungsform hier am Beispiel von Philip Koroms[57] Studie zu den meistzitierten Gelehrten der Soziologie in Enzyklopädien, Handbüchern, Zeitschriften und Lehrbüchern der 1970er- bis 2010er-Jahre veranschaulichen. Aus Platzgründen verzichte ich sowohl auf eine methodische Einordnung[58] als auch auf eine ausführliche Diskussion möglicher Einschränkungen.[59]

Platz1970er (Korom-Studie)2010er (Korom-Studie)
1Talcott Parsons (1902–1979)Pierre Bourdieu (1930–2002)
2Max Weber (1864–1920)Max Weber (1864–1920)
3Robert K. Merton (1910–2003)Émile Durkheim (1858–1917)
4Émile Durkheim (1858–1917)Erving Goffman (1922–1982)
5Seymour M. Lipset (1922–2006)Talcott Parsons (1902–1979)
6James S. Coleman (1926–1995)Anthony Giddens (geboren 1938)
7Kingsley Davis (1908–1997)Manuel Castells (geboren 1942)
8Peter M. Blau (1918–2002)Michel Foucault (1926–1984)
9George P. Murdock (1897–1985)Robert K. Merton (1910–2003)
10Sigmund Freud (1856–1939)Charles Tilly (1929–2008)

Tabelle 3: Auszug aus den Ergebnissen der Studie von Philipp Korom, Reihenfolge der Meistzitierten (Darstellung nach Korom 2020)

Die wichtigste Gemeinsamkeit der beiden Listen besteht darin, dass Weber, Durkheim und Parsons sowie Merton in beiden vertreten sind. Auffällig ist zudem, dass Marx auch hier in keiner der beiden Listen vertreten ist. Das liegt daran, dass Korom seine Analyse auf Autorinnen und Autoren begrenzt hat, die nicht vor dem Ersten Weltkrieg verstorben sind oder noch leben.[60] Auch in diesem Fall wurden Marx und andere frühe Autor:innen wie Comte, Tocqueville oder Martineau von vornherein aus der Studie ausgeschlossen.[61] Vor dem Hintergrund der bis hierhin referierten Befunde der anderen Studien scheint die neuerliche Abwesenheit von Frauen kaum noch erwähnenswert.

In den 1970er-Jahren finden wir bei Korom einen Schwerpunkt auf dem Strukturfunktionalismus (Parsons, Merton, Davis, Lipset) sowie auf Rational-Choice-Ansätzen (wie etwa in den Werken von Coleman und Blau). Diese Schwerpunkte sind im späteren Kanon weniger gewichtig (Strukturfunktionalismus) beziehungsweise verschwunden (Rational-Choice). Im Zeitraum der 2010er-Jahre kommen stattdessen eher gegenwartsorientierte Theorien hinzu. Mit Foucault ist etwa auch ein Vertreter des (Post-)Strukturalismus enthalten. Feministische und postkoloniale Theorien bleiben weiterhin aus den Top-Ten ausgeschlossen.

Blicken wir auch hier in die vollständigen, insgesamt jeweils 50 Namen umfassenden Listen und suchen nach den darin enthaltenen Frauen: In den 1970er-Jahren findet sich einzig Margaret Mead auf Rang 23. Die US-Amerikanerin, obwohl primär als Kulturanthropologin bekannt, hat mit ihren Studien über Geschlechterrollen, Sexualität und soziale Prägung wichtige Beiträge zu sozialwissenschaftlichen Debatten geleistet. Mit ihrer Arbeit forderte Mead westliche Annahmen über die Universalität bestimmter sozialer Normen heraus und betonte die Variabilität menschlichen Verhaltens in unterschiedlichen kulturellen Kontexten, womit sie die Diskussion zum Verhältnis von Natur und Kultur bereicherte.[62]

Unter den in den 2010er-Jahren am häufigsten zitierten Sozialwissenschaftler:innen befinden sich Arlie Russel Hochschild (Rang 27), Saskia Sassen (Rang 31) und Judith Butler (Rang 49). Der Anteil an häufig zitierten Frauen – zumindest US-amerikanischen (Soziologie-)Professorinnen[63] – scheint sich also über die Zeit, wenn auch langsam, zu vergrößern. Zu den drei gerade angeführten Theoretikerinnen: Hochschild hat die Arbeitssoziologie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und insbesondere die Soziologie der Emotionen entscheidend geprägt.[64] Sassen hat mit ihren Pionierarbeiten zu Global Cities und Globalisierungsdynamiken, insbesondere zu transnationalen Netzwerken und deren Auswirkungen auf lokale Kontexte, wesentlich zur modernen Stadtsoziologie und zur Soziologie der Globalisierung beigetragen.[65] Und Butler hat mit ihren Theorien zur performativen Geschlechtsidentität nicht nur die Geschlechterforschung, sondern auch das Verständnis von Identität, Macht und Diskurs in der Soziologie insgesamt revolutioniert.[66]

Interessant ist, dass es jenseits der genannten Konstanten auch in den hier untersuchten Erwähnungen eine größere Fluktuation zu geben scheint, die auch, aber nicht nur auf die Berücksichtigung neuer, später geborener Personen zurückzuführen ist. Diese Indizien sprechen dafür, dass auch der auf diese Weise erhobene Kanon nicht in Stein gemeißelt beziehungsweise in Gold gerahmt ist, dass es sich vielmehr um einen dynamischen und keineswegs linear ablaufenden Prozess handelt, der prinzipiell für neue Arrangements offen ist und den wir sowohl gegenwärtig als auch zukünftig aktiv (mit-)gestalten.

5. Schlussbetrachtung

Zusammenfassend kann man feststellen, dass die Analyse der verschiedenen Erhebungen und Studien zum soziologischen Kanon die Dynamik und Komplexität der Kanonbildung offenbart. Mit den vorgestellten Erhebungsmethoden und den unterschiedlich zusammengensetzten Kanones lässt sich exemplarisch veranschaulichen, dass es den einen ‚wahren‘ Kanon so nicht gibt und per se (das lässt sich hier nicht ausführlich diskutieren) auch nicht geben kann. Die Ergebnisse zeigen zudem deutlich, dass die Zusammensetzung des Kanons nicht nur ein Abbild der wissenschaftlichen Leistungen und des Einflusses bestimmter Werke und Autor:innen ist, sondern auch von soziopolitischen, kulturellen und institutionellen Faktoren beeinflusst wird. Dies zeigt sich insbesondere in der bislang marginalen Repräsentation von Frauen und nicht westlichen Perspektiven im Kanon.

Betrachten wir zum Ende noch eine sehr kleine, sehr schnelle Erhebung der meistzitierten Profile in Google Scholar, um ganz allgemein die Grenzen der Verallgemeinerbarkeit von zwangsläufig durch ihr Untersuchungsmaterial limitierten Analysen zu illustrieren, die Pseudo-Objektivierung des Kanons zu problematisieren und einen Ausblick zu wagen.

Dies sind die meistzitierten Profile:

PlatzProfile: „Sociologist“Profile: „Sociology“
1Pierre Bourdieu (1930–2002) Pierre Bourdieu (1930–2002)
2Erving Goffman (1922–1982)Erving Goffman (1922–1982)
3Theodor Adorno (1903–1969)Gary Becker (1930–2014)
4Émile Durkheim (1858–1917)Theodor Adorno (1903–1969)
5Robert K. Merton (1910–2003)Émile Durkheim (1858–1917)
6Mark Granovetter (geboren 1943)Robert K. Merton (1910–2003)
7Talcott Parsons (1902–1979)Talcott Parsons (1902–1979)
8Alejandro Portes (geboren 1944)Alejandro Portes (geboren 1944)
9Paul DiMaggio (geboren 1951)John Urry (1946–2016)
10Kenneth Bollen (geboren 1951)Loic Wacquant (geboren 1960)

Tabelle 4: Meistzitierte „Sociologist“- und „Sociology“-Profile in Google Scholar, abgerufen am 07.10.2023. 

Im Vergleich zu den zuvor betrachteten Listen springt förmlich ins Auge, dass diesmal neben Marx auch Weber fehlt. Während sich das für Marx schlagartig ändert, wenn man anstelle der englischen Begriffe „Sociologist“ und „Sociology“ nach den deutschsprachigen Labeln „Soziologe“ und „Soziologie“ sucht – Marx schnellt dann auf Platz 1 der unter „Soziologie“ rangierenden Profile –, taucht Weber auch dort nicht auf. Im Übrigen sei nur kurz erwähnt, dass Pierre Bourdieu nicht nur Eingang in alle in diesem Text vorgestellten Kanones jüngeren Datums gefunden hat, sondern sich darüber hinaus inzwischen zur dominierenden Figur des gegenwärtigen Kanons zu entwickeln scheint. Wie sich die Konkurrenz zwischen Bourdieu und Weber perspektivisch entwickeln wird, ist eine interessante Frage. Ich weiß, auf wen ich setzen würde. Und Sie?

Für Webers gegenwärtige Abwesenheit in dieser letzten Top-Ten-Liste gibt es indessen eine einfache Erklärung: Im gesamten Google-Scholar-Universum gibt es überraschenderweise kein Personenprofil zu Weber, und so gehört er sozusagen zu den Missing Data einer profilorientierten Klassiker:innen-Erbehung qua Google Scholar. Ähnlich verhält es sich übrigens auch mit Georg Simmel: Für ihn gibt es zwar ein Profil, dort ist jedoch keinerlei Berufs- oder Fachbezeichnung genannt. Wenn Forschende, Studierende oder andere Interessierte also „einfach mal schauen wollen“, welche explizit als solche bezeichneten Soziolog:innen denn am häufigsten zitiert werden und dies der Einfachheit halber über die entsprechenden Profile in Google Scholar tun, werden sie von Weber und Simmel keine Notiz nehmen. Solange niemand ein Profil für Weber anlegt, erzeugt seine Abwesenheit in dieser Liste also potenziell ebenso negative (Folge-)Effekte für seine zukünftige Sichtbarkeit im Diskurs, wie es seine permanente Anwesenheit in anderen Klassiker:innenlisten im positiven Sinne bisher getan hat.

Ohne hier näher darauf eingehen zu können, verweise ich in diesem Zusammenhang nur auf den von Robert K. Merton und Harriet Zuckerman konstatierten Matthäus-Effekt des kumulativen Vorteils von (Fach-)Eliten. Gemäß dem damit verbundenen Prinzip, dass dem, der da hat, (noch mehr) gegeben wird, müssen sich Weber-Fans also vermutlich nicht allzu viele Sorgen machen. Zumindest für die unmittelbare Zukunft steht nicht zu erwarten, dass sein Name aus den einschlägigen Listen der einflussreichsten Personen und Werke der Soziologie verschwinden wird. Dennoch weist uns das Beispiel des verschwundenen Weber darauf hin, dass auch Klassiker der Zeit nicht enthoben sind und auch ihre Halbwertzeit begrenzt ist, und sei es nur, weil technologische Veränderungen, wie die Digitalisierung der Wissenschaft und des wissenschaftlichen Arbeitens, veränderte Praktiken des Lernens und Recherchierens nach sich ziehen und zusammen mit etablierten Praktiken auch damit verbundene Ordnungen über den Haufen werfen können. Und dabei haben wir innerwissenschaftliche beziehungsweise fachdisziplinäre Paradigmen- und Generationenwechsel, wie Thomas S. Kuhn sie beschrieben hat, noch nicht einmal gestreift.[67]

Und mit diesem Befund einer gewissen Widersprüchlichkeit möchte ich mit einigen grundsätzlichen Überlegungen schließen. Die Idee einer Kanonisierung geht mit der eingangs beschriebenen Vorstellung einher, dass kanonisierte Werke eine überzeitliche, in gewisser Weise den historischen Entwicklungen entzogene Bedeutung und Relevanz für das Fach haben, indem sie Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten behandeln, die sich unterhalb oder außerhalb der historischen Prozesse verorten lassen und die eine so allgemeine Bedeutsamkeit besitzen, dass sie auch bei im historischen Verlauf sich ändernden sozialen Konfigurationen und Praktiken als sinnvoller Beitrag zur Disziplin zu betrachten sind. In dieser Vorstellung heben sich solche Werke also nicht nur von den historisch sich wandelnden zeitgebundenen Theorieentwürfen und empirischen Erhebungen ab, sondern auch von den sich historisch wandelnden sozialen Konfigurationen und Praktiken selbst. Damit ist eine gewisse Pseudoobjektivierung der kanonisierten Werke als Beiträge verbunden, die jenseits der sozialen Welt, aus der sie stammen, von etwas zu sprechen scheinen, das diese soziale Welt transzendiert und einen Blick hinter die historischen Kulissen des Sozialen erlaubt. Das mag für ein Fach, dessen wesentliche Erkenntnisse gerade auf die soziale Bedingtheit derselben so großes Augenmerk richten, theoretisch im Hinblick auf die Disziplinentwicklung nicht ganz unproblematisch sein. Veränderte soziale Bedingungen mögen dazu führen, dass die Relevanz der einzelnen Beiträge (im Kanon heroisierte wie aus dem Kanon exkludierte) sich grundlegend ändert (anders als die Kanonisierung zu jedem gegebenen Zeitpunkt suggerieren mag), und das theoretische und begriffliche Rüstzeug für die aktuelle Analyse durch den Rekurs auf den vermeintlich ahistorisch pseudoobjektiven kanonisierten, tatsächlich aber ebenso historischen wie partikularen Begriffsapparat hinter den Möglichkeiten zurückbleibt.

Auch wenn sich der Kanon aufgrund seiner Konstruktionsprinzipien bisweilen recht statisch gibt, so ist er doch von der angeführten sozialen Bedingtheit geprägt und dies verleiht ihm – genau wie anderen sozialen Prozessen – eine gewisse Dynamik. Diese bildet zumindest ein moderates Gegengewicht gegen die Prozesse der Exklusion nicht nur von marginalisierten Gruppen, sondern auch von all jenen, die der Majorität angehören, aber in der sozialen Konkurrenz nach den jeweiligen gültigen Selektionskriterien unterlegen waren beziehungsweise sind, und die ebenso wie die marginalisierten Gruppen in der Fachgeschichte in Vergessenheit geraten. Diese Perspektive auf Kanonisierungsprozesse macht uns als soziologische Peers unsere eigene große Verantwortung deutlich, müssen wir uns doch darüber im Klaren sein, dass wir bei der Wahl von Klassiker:innen – sei es in Umfragen wie der zu den Books of the XX Century oder im Rahmen von Forschung und Lehre – wie auch in unseren ganz alltäglichen wissenschaftlichen Praktiken des Forschens und Publizierens immer auch Kanonsierungspraxis betreiben. Da es sich demnach um ein idealisierendes und teilweise potenziell auch ideologisches Instrument der Disziplinierung handelt, das längst nicht jene eindeutige Realität des einen ‚wahren‘ oder ‚idealen‘ Kanons aufweist, die uns einzelne Darstellungen eines Kanons suggerieren mögen, gibt Anlass auch die Kanonisierungspraxis selbst zu hinterfragen.

Kanonbildung ist ein kontinuierlicher, dynamischer Prozess, der immer wieder kritisch theoretisch und empirisch hinterfragt und neu bewertet werden muss. Nur so gewinnen wir ein tieferes Verständnis dafür, wie Machtstrukturen und soziale Netzwerke innerhalb der Wissenschaft die Anerkennung und Sichtbarkeit von Werken und Autor:innen beeinflussen. Es wird deutlich, dass die Konstruktion eines Kanons weit mehr ist als eine bloße Sammlung herausragender Werke; sie spiegelt die jeweiligen sozialen, politischen und kulturellen Kontexte wider, in denen sie stattfindet. In diesem Sinne ist die kontinuierliche Neuinterpretation und Neubewertung des Kanons nicht nur eine wissenschaftliche Notwendigkeit, sondern auch ein Schritt hin zu einer inklusiveren und gerechteren wissenschaftlichen Praxis.

  1. Eva Barlösius, „Klassiker im Goldrahmen“. Ein Beitrag zur Soziologie der Klassiker, in: Leviathan 32 (2004), 4, S. 514–542.
  2. Gavin Williams, The Holy Trinity, or the Reduced Marx, Weber, Durkheim, in: Toyin Falola (Hg.), Christianity and Social Change in Africa: Essays in Honor of J.D.Y. Peel, Durham, N.C. 2005, S. 591–608.
  3. Robert K. Merton, Auf den Schultern von Riesen. Ein Leitfaden durch das Labyrinth der Gelehrsamkeit, übers. von Reinhard Kaiser, Frankfurt am Main 1980.
  4. Für den deutschsprachigen Raum siehe beispielsweise Dirk Kaesler, Klassiker der Soziologie, Bd. 1: Von Auguste Comte bis Alfred Schütz, 6. Aufl. München 2012; ders., Klassiker der Soziologie, Bd. 2: Von Talcott Parsons bis Anthony Giddens, 5. Aufl., München 2007; Sven Papcke / Georg W. Oesterdiekhoff (Hg.), Schlüsselwerke der Soziologie, Wiesbaden 2001; Samuel Salzborn, Klassiker der Sozialwissenschaften. 111 Schlüsselwerke im Porträt, 3. Aufl., Wiesbaden 2021; Jürgen Gerhards, Top Ten Soziologie. Welche soziologischen Texte sollten Studierende der Soziologie gelesen haben?, in: Soziologie 43 (2014), 3, S. 313–321.
  5. Claudia Honegger / Theresa Wobbe (Hg.), Frauen in der Soziologie. Neun Porträts, München 1998; Patricia Madoo Lengermann / Gillian Niebrugge (Hg.), The Women Founders: Sociology and Social Theory 1830–1930. A Text/Reader, Long Grove, IL 2007; Nicole Holzhauser, Die unsichtbare Hälfte. Frauen in der Geschichte der Soziologie, in: Soziopolis, 21.06.2023; dies., Zur Marginalisierung von Frauen in der frühen deutschsprachigen Soziologie, untersucht am Handwörterbuch der Soziologie von 1931, in: Martin Endreß / Stephan Moebius (Hg.), Zyklos 4. Jahrbuch für Theorie und Geschichte der Soziologie, Wiesbaden 2018, S. 101–120.
  6. Siehe zum Beispiel Randall Collins, The Sociological Eye, New Brunswick 1986; ders., A Sociological Guilt Trip: Comment on Connell, in: American Journal of Sociology 102 (1997), 6, S. 1558–1564; Jeffrey C. Alexander, The Meanings of Social Life. A Cultural Sociology, Oxford 2003; Raewyn Connell, Which Way Is Up? Essays on Sex, Class, and Culture, Sydney 1983; ders., Why is Classical Sociology Classical?, in: American Journal of Sociology 102 (1997), 6, S. 1511–1557; Richard Swedberg, Theorizing in Sociology and Social Science: Turning to the Context of Discovery, in: Theory and Society 41 (2012), 1, S. 1–40; Barbara Grüning / Marco Santoro, Is There a Canon in This Class?, in: International Review of Sociology 31 (2021), 1, S. 7–25; Peter Baehr, Founders, Classics, Canons. Modern Disputes over the Origins and Appraisal of Sociology’s Heritage, 2. Aufl., New Brunswick u.a. 2016.
  7. Nicole Holzhauser, Who Gets To Be a Classic in the Social Sciences?, in: LSE Impact Blog, London School of Economics, 18.10.2021; dies., Quantifying the Exclusionary Process of Canonisation, or How to Become a Classic of the Social Sciences, in: International Review of Sociology 31 (2021), 1, S. 97–122.
  8. Dirk Kaesler, Was sind und zu welchem Ende studiert man die Klassiker der Soziologie?, in: ders., Klassiker der Soziologie, Bd. 1, S. 11–38; siehe auch Robert K. Merton, Zur Geschichte und Systematik der soziologischen Theorie, in: Wolf Lepenies (Hg.), Geschichte der Soziologie. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität einer Disziplin, Bd. 1, Frankfurt am Main 1981, S. 15–74.
  9. Stephen P. Turner, The Impossible Science. An Institutional Analysis of American Sociology, Newbury Park u.a. 1990; Pierre Bourdieu, Homo academicus, Paris 1984 (dt.: Homo academicus, übers. von Bernd Schwibs, 7. Aufl., Frankfurt am Main 2018; Robert K. Merton, The Matthew Effect in Science, in: Science 159 (1968), 3810, S. 56–63.
  10. Thomas S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago, IL 1962 (dt.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, übers. von Kurt Simon, 24. Aufl., Frankfurt am Main 2014).
  11. Paulo Freire, Pedagogía del oprimido, New York 1970 (dt: Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit, übers. von Werner Simpfendörffer, Reinbek b. Hamburg 1998); Bell Hooks, Teaching to Transgress: Education as the Practice of Freedom, New York 1994 (dt.: Die Welt verändern lernen. Bildung als Praxis der Freiheit, übers. von Helene Albers, Münster 2023).
  12. Bourdieu, Homo academicus; Merton, The Matthew Effect in Science.
  13. Vgl. Holzhauser, Quantifying the Exclusionary Process of Canonisation.
  14. Nancy Fraser, Rethinking the Public Sphere: A Contribution to the Critique of Actually Existing Democracy, in: Social Text (1990), 25/26, S. 56–80; Marshall McLuhan / Quentin Fiore, The Medium is the Massage. An Inventory of Effects, New York 1967 (dt.: Das Medium ist die Massage. Ein Inventar medialer Effekte, 5. Aufl., Stuttgart 2020).
  15. Tatsächlich sind auch die oben genannten Punkte nur sehr begrenzt als meritokratisch anzusehen, da die Praktiken der gegenseitigen Anerkennung im akademischen Diskurs wie auch der Werksauswahl für die Lehre ebenso stark von anderen, insbesondere sozialen Selektionskriterien abhängig sind. Auch die Zugänglichkeit zu Werken ist stark mit dem Grad der forschungsökonomischen Abhängigkeit eines wissenschaftlichen Feldes vom Verlagssystem verbunden.
  16. Bourdieu, Homo academicus.
  17. Edward W. Said, Orientalism, New York 1978 (dt.: Orientalismus, übers. von Hans Günter Holl, 7. Aufl., Frankfurt am Main 2021); Kimberle Crenshaw, Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence against Women of Color, in: Stanford Law Review 43 (1991), 6, S. 1241–1299; Nicole Holzhauser, In Erinnerung an Hans Oppenheimer (18. Juni 1901 – 20. März 1945), in: Martin Endreß / Klaus Lichtblau / Stephan Moebius (Hg.) Zyklos 2. Jahrbuch für Theorie und Geschichte der Soziologie, Wiesbaden 2015.
  18. Joan W. Scott, The Evidence of Experience, in: Critical Inquiry 17 (1991), 4, S. 773–797.
  19. Richard Münch, Die akademische Elite. Zur sozialen Konstruktion wissenschaftlicher Exzellenz, Frankfurt am Main 2007.
  20. Patricia Hill Collins, Black Feminist Thought: Knowledge, Consciousness, and the Politics of Empowerment, New York 1990; Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak?, in: Lawrence Grossberg / Cathy Nelson (Hg.), Marxism and the Interpretation of Culture, Urbana, IL 1988, S. 271–313.
  21. Londa Schiebinger, The Mind Has No Sex? Women in the Origins of Modern Science, Cambridge, MA 1989 (dt.: Schöne Geister. Frauen in den Anfängen der modernen Wissenschaft, übers. von Susanne Lüdemann und Ute Spengler, Stuttgart 1993).
  22. Holzhauser, Die unsichtbare Hälfte. Frauen in der Soziologiegeschichte; dies., Zur Marginalisierung von Frauen in der frühen deutschsprachigen Soziologie.
  23. Margaret W. Rossiter, Women Scientists in America: Struggles and Strategies to 1940, Baltimore, MD 1982.
  24. Vincent Larivière / Chaoqun Ni / Yves Gingras / Blaise Cronin / Cassidy R. Sugimoto, Bibliometrics: Global Gender Disparities in Science, in: Nature 504 (2013), 7479, S. 211–213.
  25. Siehe hierzu den Beitrag von Felicitas Heßelmann in diesem Dossier.
  26. Siehe hierzu den Beitrag von Dirk Kaesler in diesem Dossier. Für eine ausführliche Darstellung vgl. Kaesler, Was sind und zu welchem Ende studiert man die Klassiker der Soziologie?.
  27. Sandra Harding, Whose Science? Whose Knowledge? Thinking from Women’s Lives, Ithaca, NY 1991 (dt.: Das Geschlecht des Wissens. Frauen denken die Wissenschaft neu, übers. von Helga Kelle, Frankfurt am Main / New York 1994).
  28. Raewyn Connell, Southern Theory: The Global Dynamics of Knowledge in Social Science, Cambridge u.a. 2007.
  29. Michel Foucault, L’archéologie du savoir, Paris 1969 (dt.: Die Archäologie des Wissens, übers. von Ulrich Köppen, 17. Aufl., Frankfurt am Main 2015); Pierre Bourdieu, La distinction. Critique sociale du jugement, Paris 1979 (dt.: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, übers. von Bernd Schwibs und Achim Russer, 28. Aufl., Frankfurt am Main 2021).
  30. Spivak, Can the Subaltern Speak?; Collins, Black Feminist Thought.
  31. Said, Orientalism; Julian Go, For a Postcolonical Sociology, in: Theory and Society 42 (2013), 1, S. 25–55.
  32. Cass R. Sunstein, #Republic. Divided Democracy in the Age of Social Media, Princeton, NJ 2017.
  33. Michel Foucault, L’Ordre du discours, Paris 1971 (dt.: Die Ordnung des Diskurses, übers. von Walter Seitter, mit einem Essay von Ralf Konersmann, 15. Aufl. d. erw. Ausg., Frankfurt am Main 2019; ders., L’archéologie du savoir; Hooks, Teaching to Transgress.
  34. Nicole Holzhauser, Warum die Flugzeuge nicht landen. Einige Bemerkungen zu „Top Ten Soziologie“, Wissenschaft und Pseudowissenschaft, in: Soziologie 44 (2015), 1, S. 33–55.
  35. Siehe dazu ausführlich Holzhauser, Warum die Flugzeuge nicht landen; dies., Quantifying the Exclusionary Process of Canonisation.
  36. Eva Barlösius, „Klassiker im Goldrahmen“.
  37. Raymond Aron, Les étapes de la pensée sociologique, Paris 1967 (dt.: Hauptströmungen des soziologischen Denkens, 2 Bde., übers. von Franz Becker, Köln 2018); Dirk Kaesler, Klassiker des soziologischen Denkens, Bd. 1: Von Comte bis Durkheim, München 1976; ders., Klassiker des soziologischen Denkens, Bd. 2: Von Weber bis Mannheim, München 1978; Coser, Masters of Sociological Thought.
  38. Pierre Demeulenaere, Histoire de la théorie sociologique, Paris 1997; Annie Devinant, Les grands courants de la pensée sociologique par les textes, 2 Bde., Paris 1999; Kaesler, Klassiker der Soziologie; Georg Ritzer, The Blackwell Companion to Major Classical Social Theorists, Malden, MA u.a. 2000.
  39. 10 von 23 Personen und damit rund 44% kommen nur in einem der Lehrbücher vor.
  40. 14 von 45 Personen und damit 31% kommen nur in einem der drei Länder vor, der Anteil an Personen, die nur im länderspezifischen Kontext gewürdigt werden, hat demnach abgenommen.
  41. Ritzer, The Blackwell Companion to Major Classical Social Theorists.
  42. Mit W.E.B. Du Bois ist auch ein afro-amerikanischer Soziologe in diesem Lehrbuch enthalten.
  43. Lengermann/Niebrugge-Brantley, The Women Founders; Michael R. Hill / Susan Hoecker-Drysdale (Hg.), Harriet Martineau. Theoretical and Methodological Perspectives, New York 2001; Harriet Martineau, Society in America, London 1838.
  44. Charlotte Perkins Gilman, Women and Economics, Boston, MA 1898; Carol Farley Kessler, Charlotte Perkins Gilman: Her Progress Toward Utopia with Selected Writings, Liverpool 1995; Ann J. Lane, To Herland and Beyond: The Life and Work of Charlotte Perkins Gilman, New York 1990; Lengermann/Niebrugge-Brantley, The Women Founders.
  45. Allerdings hat Barlösius im zweiten Untersuchungszeitraum für Frankreich nur zwei Lehrbücher herangezogen, insofern sind die Ergebnisse vorsichtig zu interpretieren.
  46. Z.B. https://www.isa-sociology.org/en/about-isa/history-of-isa/books-of-the-xx-century; Gerhards, Top Ten Soziologie.
  47. https://www.isa-sociology.org/en/about-isa/history-of-isa/books-of-the-xx-century
  48. Alle Bücher auf den Rängen 56 bis 71 haben 5 Stimmen. Zum Vergleich: Das letzte Werk aus den Top Ten, Erving Goffmans The Presentation of Self in Everyday Life, wurde mit 25 Stimmen fünfmal so häufig genannt.
  49. Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism, New York 1951 (dt.: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt am Main 1955); Peter Baehr, Hannah Arendt, Totalitarianism, and the Social Sciences, Stanford, CA 2010; Seyla Benhabib, The Reluctant Modernism of Hannah Arendt, Thousand Oaks, CA 1996 (dt.: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne, übers. von Karin Wördemann, Hamburg 1998); Craig Calhoun (Hg.), Social Theory and the Politics of Identity, Oxford 1994.
  50. Chandra Talpade Mohanty, Feminism Without Borders: Decolonizing Theory, Practicing Solidarity, Durham, NC 2003; Maria Mies, Patriarchy and Accumulation on a World Scale: Women in the International Division of Labour, London 1986 (dt.: Patriarchat und Kapital. Frauen in der internationalen Arbeitsteilung, übers. von Stefan Schmidlin, Zürich 1988); dies. / Vandana Shiva, Ecofeminism, in: State Crime Journal 4 (1993), 1, S. 99–103 (dt.: Ökofeminismus. Beiträge zur Praxis und Theorie, übers. von Andrea Hunziker u. Margrit Klingler-Clavijo, Zürich 1995); Maria Mies / Veronika Bennholdt-Thomsen, The Subsistence Perspective: Beyond the Globalised Economy, London u.a. 1999.
  51. Simone de Beauvoir, Le deuxième sexe, Paris 1949 (dt.: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, übers. von Eva Rechel-Mertens und Fritz Montfort, Hamburg 1951); Margaret A. Simons (Hg.), Feminist Interpretations of Simone de Beauvoir, University Park, PA 1995.
  52. Ruth Benedict, Patterns of Culture, New York 1934.
  53. In der Liste der ISA ist ihr Name falsch geschrieben als Magali Sarfati Larson.
  54. Ich werde hier weder die Liste der Frauen bis herunter zu einer Nennung nachverfolgen noch auf nicht weiße oder nicht westliche Männer in der Liste eingehen.
  55. Frantz Fanon, Les damnés de la terre, Paris 1961 (dt.: Die Verdammten dieser Erde, übers. von Traugott König, Frankfurt am Main 1966).
  56. Zu Durkheim sei hier nur kurz angemerkt, dass er auf den Rängen 13, 34 und 35 gelistet ist. Allerdings hätten die Bücher De la division du travail social und Les Règles de la méthode sociologique, die auf den Rängen 34 und 35 rangieren, in der Erhebung überhaupt nicht berücksichtigt werden dürfen, da sie im französischen Original bereits Ende des 19. Jahrhunderts und damit vor Beginn des Erhebungszeitraums erschienen sind. Émile Durkheim, Les formes élémentaires de la vie religieuse, Paris 1912 (dt.: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, übers. von Ludwig Schmidts, Frankfurt am Main 1981); ders., De la division du travail social, Paris 1893 (dt.: Über die Teilung der sozialen Arbeit, übers. von Ludwig Schmidts, Frankfurt am Main 1977); ders., Les règles de la méthode sociologique, Paris 1895 (dt.: Die Regeln der soziologischen Methode, übers. von René König, Neuwied/Berlin 1961).
  57. Philipp Korom, The Prestige Elite in Sociology. Toward a Collective Biography of the Most Cited Scholars (1970–2010), in: The Sociological Quarterly 61 (2020), 1, S. 128–163.
  58. Hier ist, wie gesagt, nicht der Ort für Methodendiskussionen, aber Zitationsanalysen haben durchaus ihre methodischen Probleme, obwohl sie als vermeintlich besonders neutrales Erhebungsinstrument daherkommen (siehe exemplarisch weiter unten).
  59. Für die konkrete Studie sei nur erwähnt: Das unverhältnismäßig gute Abschneiden US-amerikanischer Fachvertreter lässt vermuten, dass der untersuchte Korpus einen Bias in Richtung nordamerikanischer Literatur aufweist.
  60. Philipp Korom, The Prestige Elite in Sociology. Toward a Collective Biography of the Most Cited Scholars (1970–2010), in: The Sociological Quarterly 61 (2020), 1, S. 128–163.
  61. Nur am Rande sei bemerkt, dass auch die Marx-Rezeption nicht frei von Exklusionseffekten ist, bleibt doch Friedrich Engels als Co-Autor regelmäßig unerwähnt. Ich danke Stephan Moebius für den Hinweis auf diese Auslassung im Diskurs. Siehe dazu auch: Gustav Mayer, Friedrich Engels. Eine Biographie, 2 Bde, neu hrsg. u. eingel. von Stephan Moebius, Wiesbaden 2022.
  62.  
  63.  
  64.  
  65.  
  66. Meads Werk wurde kontrovers diskutiert, insbesondere von Derek Freeman, der vor allem aufgrund ebenjener Kritik Bekanntheit erlangt hat. Für eine Analyse und kritische Auseinandersetzung mit dieser Kontroverse siehe Paul Shankman: The Trashing of Margaret Mead: Anatomy of an Anthropological Controversy, Madison, WI 2009. Shankman kommt zu dem Schluss, dass die Kritik an Meads Methoden und Schlussfolgerungen, insbesondere die von Freeman, überzogen gewesen sei und zu einer falschen Wahrnehmung von Mead und ihrer Arbeit geführt habe. Obwohl es zum Teil legitime wissenschaftliche Einwände gegen ihre Methodik und Interpretationen gibt, scheint es, dass die Art und Intensität der Kritik, die sie erfahren hat, auch als Teil eines breiteren Musters von Frauenfeindlichkeit in der Wissenschaft gesehen werden kann. In der Wissenschaftsgeschichte wurden Forscherinnen oft besonders hart beurteilt oder ihre Beiträge heruntergespielt. Das gilt auch für Pionierinnen wie Mead. Auf jeden Fall führte die Kontroverse zu einer intensiven Debatte innerhalb der anthropologischen Gemeinschaft über Feldforschungsmethoden und die Interpretation kultureller Daten.
  67. Thomas S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago, IL 1962 (dt.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, übers. von Kurt Simon, 24. Aufl., Frankfurt am Main 2014).

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Epistemologien Feminismus Geschichte der Sozialwissenschaften Methoden / Forschung Universität Wissenschaft

Nicole Holzhauser

Dr. rer. soc. Nicole Holzhauser, Soziologin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin (Postdoc) am Institut für Soziologie der Technischen Universität Braunschweig sowie Leiterin des dort angesiedelten Theodor-Geiger-Archivs.

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