Aaron Sahr, Eva Weiler, Sebastian Huhnholz | Interview | 21.10.2025
Nachgefragt bei Aaron Sahr, Eva Weiler und Sebastian Huhnholz
Fünf Fragen an die Herausgeber:innen des Leviathan-Sonderbandes „Politische Theorien öffentlicher Finanzen. Zur (De-)Politisierung von Geld, Eigentum und Steuern“
Welches ist der relevanteste finanzpolitische Konflikt der Gegenwart?
Aaron Sahr: Ungleichheit! Aber nicht so sehr im Sinne einer normativen Reibung mit egalitären Idealen. Die Globalisierung und die Finanzialisierung der Weltwirtschaft haben auf der einen Seite unfassbare Mengen an privatem Vermögen erzeugt, das, konzentriert bei ein paar Wenigen, um lukrative Anlagepositionen konkurriert. Und auf der anderen Seite haben wir in die Jahre gekommene Industrie- und Wohlfahrtsstaaten, die zwar trotz struktureller Stagnation immer mehr ausgeben, aber ihre Infrastrukturen verfallen lassen oder ihre Sozialsysteme zurückbauen. Und diese öffentlichen Kassen wollen jetzt auch noch militärisch aufrüsten und müssten sich gleichzeitig mit zig Milliarden auf die Folgen der Klimakrise vorbereiten. Dieser Konflikt gärt im Mark unserer Demokratie.
Eva Weiler: Ausgehend von den Beiträgen unseres Sonderbandes würde ich unterstreichen, wie zentral die Bestimmung des Verhältnisses zwischen öffentlicher und privater Finanzierung für diesen Konflikt ist. Mit ihr einher geht ja auch immer die Frage nach der Rolle, der Form und den Befugnissen der jeweiligen Institutionen, die wiederum damit zusammenhängt, wie und in welchen politischen Kämpfen sich diese Rollen, Formen und Befugnisse verändern, ob sie demokratisch legitimiert sind beziehungsweise demokratisiert werden können. Diese Fragen ziehen sich, dem Gegenstand des Bandes entsprechend, durch alle Beiträge, sind aber vielleicht insbesondere in den unterschiedlichen Aufsätzen zum „Steuerstaat“, den geldsoziologischen Analysen oder den verteilungspolitischen Kapiteln – etwa zu Offshore-Finanzen, zu Wohnraumsozialisierung oder zur property owning democracy – besonders präsent.
Sebastian Huhnholz: Ich halte viele finanzpolitische Konflikte und Lösungen der jüngeren Gegenwart für Antworten auf eine viel zu selten gestellte Frage. Sie lautet schlicht: Wie organisiert ein staatlicher Herrschaftsverband die materiellen Ressourcen seiner politischen Reproduktion? Der sogenannte „Steuerstaat“ ist ja eine historisch neue, voraussetzungsreiche und ziemlich krisenanfällige Einrichtung moderner, liberalkapitalistischer Gesellschaften und ihrer politischen Systeme. Momentan sehen wir – Aaron Sahr hat es angedeutet – weltweit wieder, dass und wie auch Staaten um die Mobilisierungschancen privaten Kapitals für ihre Anliegen konkurrieren (für marode Sozialsysteme, für grüne Transformation, für politische Parteien usw.), dass sie beispielsweise Staatsfonds gründen, dass sie auf natürliche Ressourcen und persönliche (Zwangs-)Arbeitsleistungen zugreifen, etwa Gefängnisse privatisieren, deren Insassen sie verlässlich liefern, und anderes mehr. Kurzum: Sie setzen für ihre Finanzierung nicht einfach nur auf sogenannte Steuern. Moderne Demokratien sind aber, historisch besehen, vor allem Steuerstaaten gewesen, also Erzwingungsgaranten marktwirtschaftlich erzeugter Geldabgaben vor allem der eigenen Wirtschaftsbürger*innen. Die Frage nach der Reproduktion staatlicher Herrschaft ist in meinen Augen der eigentliche, schwelende Konflikt.
In dem von Ihnen herausgegebenen Leviathan-Sonderband wollen Sie an „Politische[n] Theorien öffentlicher Finanzen“ arbeiten. Welche Lücken weisen bestehende Ansätze auf und kann man sie an den von Ihnen genannten Konflikten verdeutlichen?
Eva Weiler: Vermutlich lassen sich relevante Lücken am Beispiel der Ungleichheit besonders gut zeigen: Wenn, was ich ausdrücklich teile, die Reproduktion politischer Herrschaft innerhalb demokratisch verfasster, aber ungleicher Gesellschaften der zentrale finanzpolitische Konflikt ist, dann steht zu erwarten, dass politische „Lösungen“ dieses Konflikts, ebenso wie theoretische Erklärungen und Analysen, dazu neigen können, die Konfliktlinien so zu ziehen, dass bestimmte Elemente ausgeblendet oder „entpolitisiert“ werden. In meinem Bereich der Politischen Philosophie und insbesondere in der Eigentumstheorie findet die Ungleichheitsdebatte sehr prominent statt, weil die Frage, wer in welcher Weise über welche Ressourcen verfügt, unmittelbar mit der Frage nach politischer Herrschaft verbunden ist. Darüber hinaus bezeichnet Ungleichheit klassischerweise auch – und für manche: vor allem – eine Ungleichverteilung von Eigentum und Vermögen. Finanzierung wird in diesem Kontext allerdings selten diskutiert; der Fokus liegt auf der Verteilung von Gütern, auf der Sicherung von Eigentumstiteln oder auf den unterschiedlichen Formen von Eigentum und deren Effekten für die Verteilung von und den Zugang zu Gütern. Debatten um Finanzpolitik hingegen konzentrieren sich auf die Produktion und Bereitstellung von Finanzmitteln für Ökonomien, in denen „Eigentum“ dann als asset, als Anlage, Vermögen oder – im Fall öffentlichen Eigentums – als Infrastruktur auftritt. Es fällt jedoch immer noch schwer, die immensen Vermögen, die beispielsweise durch Finanzialisierung – also durch neu geschaffene oder veränderte Märkte – entstehen, als Ursache von Ungleichheit zu beschreiben. Diese Form der Ungleichheit resultiert nicht aus der Verteilung von Eigentum, sondern vor allem aus unterschiedlich verteilten Möglichkeiten, an Finanzmittel zu kommen, Eigentum oder assets zu erwerben oder zu veräußern. Wegen der Übersetzungsschwierigkeiten zwischen den Diskursen erscheint mir ihre Verzahnung, wie wir sie im Sonderband versuchen, wichtig, um blinde Flecken in der Theorie zu identifizieren und darüber nachzudenken, wie viel diese Ausblendungen mit bestimmten Entpolitisierungslogiken zu tun haben, die unsere Disziplinen inkorporiert haben.
Sebastian Huhnholz: Ich kann nur auf Lücken verweisen, die mehrere Beiträge unseres Bandes im Detail betrachten: Erstens ist eine erstaunliche Zahl der sogenannten Klassiker politischen Denkens – Benjamin Constant, Max Weber und weitere – für Beiträge berühmt, deren offene oder versteckte finanzpolitische Leitgedanken, Argumentationsvoraussetzungen oder Subtexte wir heute überlesen. Das Aus- oder Abblenden fiskalischer Argumente bei der Lektüre „großer“ Grundlagentexte unserer Disziplinen trägt jedenfalls zur Entpolitisierung des Themas bei und verstetigt die Lücken in unserer Reflexion aktueller Ungleichheits-, Eigentums- und Fiskalkonflikte. So herrscht in Finanzfragen ein schroffer Alltagsrealismus vor, als wären Geld, Eigentum, Steuern irgendwie simple, klare Wahrheiten – und nicht soziale Konstruktionen. Mit der Entparlamentarisierung der bundesdeutschen „Sondervermögen“ verhandelt der Band auch ein akutes Thema. Dennoch: Er hat auch bedauerliche Lücken, etwa den Finanzföderalismus, die „parafiskalischen“, also nicht-steuerlichen Sozialsysteme oder eine vergleichende Betrachtung gegenwärtiger Fiskalregimes. Manche dieser Lücken sind auch einfach Forschungsdesiderate. Mich schmerzt etwa, dass es meines Wissens noch keine demokratietheoretische Analyse von Cum-Ex gibt.
Aaron Sahr: Ich wähle ein Beispiel, mit dem ich aus meiner eigenen Arbeit vertraut bin, ohne dass ich das Thema damit besonders hervorheben will: Gleich mehrere unserer Beiträge befassen sich mit Geld und diagnostizieren dahingehend Lücken oder Verzerrungen in politischen Debatten. In ihnen kommt, so verkürze ich die Befunde hier mal, Geld vornehmlich als Ressource vor, die durch Staatsfinanzen verteilt, also den einen weggenommen, den anderen gegeben wird. Unsere Beiträge aber rufen Geld als ein Gefüge von Institutionen auf, die es erschaffen, verteilen, Zahlungen abwickeln und schließlich auch wieder vernichten. Sie setzen also das Geld der öffentlichen Finanzen nicht einfach als gegeben oder an anderer Stelle produziert voraus. So wird die Frage, wie man mit der Ungleichverteilung von Geldvermögen in Zeiten drängender öffentlicher Ausgaben umgehen kann, von einer Verteilungs- zu einer Reproduktionsfrage: Wie müssen wir künftig Geld herstellen, um die Ausgabenprobleme bearbeitbar zu machen?
Warum muss eine Theorie öffentlicher Finanzen eine dezidiert „politische Theorie“ sein?
Eva Weiler: Wenn wir an das eben Gesagte anschließen und das Politische sehr grob als den Bereich fassen, in dem Konflikte verhandelt und bearbeitet werden und die konkrete Art der Bearbeitung durch politische und gesellschaftliche Institutionen strukturiert wird, dann ist der Gegenstand der „öffentlichen Finanzen“ ein dezidiert politischer. Das Anliegen des Bandes ist, das deutlich zu machen. Dazu gehört, öffentliche Finanzen in den im Band vertretenen Disziplinen überhaupt in den Fokus zu rücken. In der Einleitung gehen wir ausführlicher darauf ein, inwiefern das Thema in der Forschung nicht wirklich viel Beachtung findet. Das hängt vermutlich auch mit einem eher technischen Verständnis der Bereitstellung öffentlicher Finanzmittel und von Besteuerung zusammen: In den Wirtschafts-, Finanz- oder Rechtswissenschaften mögen diese Themen ihren Platz haben, für die Sozialwissenschaften muten sie oft – wie die Ökonomie und das Recht generell – zu kompliziert an. Insofern ist der Band der Versuch, den politischen Charakter öffentlicher Finanzen herauszustreichen und für die im Band vertretenen Disziplinen zu schauen, was eine Politische Theorie öffentlicher Finanzen dort jeweils heißen und zur Disziplin beitragen könnte. Letzteres schließt wieder an die obigen Antworten an: Es geht um das Aufzeigen und Ausfüllen von Leerstellen, was hoffentlich zu einem kohärenteren und der Problematik angemesseneren Theorieangebot beiträgt.
Sebastian Huhnholz: Wir verpflichten die Beiträge unseres interdisziplinären Bandes nicht auf eine Definition von „Politischer“ oder „politischer Theorie“. Wir begründen das in unserer Einleitung ausführlich, mindestens aber wäre zu sagen: Die Unterscheidung von Wirtschaft und Politik ist artifiziell. Zwar beschreibt sie funktionale Handlungs-, Beobachtungs- und Orientierungssphären. Es lässt sich aber schwerlich einfach behaupten, dass die „Wirtschaft“ „unpolitisch“, „nicht-politisch“ oder gar „privat“ sei, die Politik ein Gegensatz zur Ökonomie und Ähnliches mehr. Diese Rede- und Denkweisen sind kulturell eingelebt und im Alltag gewiss verständlich; zudem gibt es starke Interessen daran, eine strikte Trennbarkeit zu suggerieren. Aber epistemisch und politisch besehen müssen wir erstmal nur feststellen: Wenn wir so sprechen und denken, werden kulturelle, soziale und normative Erwartungen formuliert, die Praktiken beschreiben. Politik und Wirtschaft gibt es nicht „von Natur“ aus; es sind kulturelle Vorstellungen und soziale Handlungen je konkreter Gesellschaften. Die Inhalte dieser Begriffe sind entsprechend wandelbar. „Finanz“, „Fiskus“, „Etat“ usw. sind keine anthropologischen Konstanten. Wer also, und sei es noch so abstrakt, allgemein oder nebensächlich, „öffentliche Finanzen“ sagt, meint damit immer eine konkrete, meistens typisch liberale Ordnung, in der eine allgemeinverbindliche Unterscheidung von Mein und Dein, öffentlich und privat, politisch und wirtschaftlich vorausgesetzt, gefordert oder kritisiert wird. Es gibt daher eigentlich keine „unpolitische“ „Theorie“ „öffentlicher Finanzen“.
Wenn man nicht auf unpräzise Metaphern wie „Öffentliche Hand“ oder „Schlanker Staat“ zurückgreifen will: Welche Begriffe bieten sich an, um Staatsfinanzen öffentlich zu thematisieren? Kann man nicht-metaphorisch über öffentliche Finanzen sprechen?
Sebastian Huhnholz: Ich mag Metaphern. Und viele Grund- und Leitbegriffe öffentlichen Sprechens haben einen letztlich metaphorischen Kern. Sie lassen sich entsprechend schwer oder nur prekär definieren. Ernst Kantorowicz hat auf die vormoderne Parallele von Christus und fiscus hingewiesen. Es ist kein Zufall, dass die „Öffentliche Hand“ später ein Kontrastbegriff zu Adam Smiths legendärer invisible hand des Marktes wurde, die wiederum ein aufklärungstypisches Säkularisat der allmächtigen Hand Gottes ist. Mir würde (mit dem Semantologen Reinhart Koselleck gedacht) völlig genügen, wenn uns bewusst ist, dass alle gesellschaftlich gängigen Begriffe offene oder versteckte Kampfbegriffe sind. Mit ihnen werden Diskurse über Mein und Dein, Wir und Die, Freund und Feind strukturiert und organisiert. Wer in diesem Sinne nicht mehr unbefangen „Öffentliche Hand“, „Schwäbische Hausfrau“, „Schwarze Null“, „Solidaritätszuschlag“, „Mütterrente“ oder „Sondervermögen“ sagen kann, hat den wichtigsten Schritt schon geleistet, um die politische Kommunikation über Fiskalisches zu durchdringen.
Aaron Sahr: Sprache stützt Macht- und Herrschaftsverhältnisse, insbesondere dann, wenn mit Bildern, Assoziationen und Metaphern gearbeitet wird. Das heißt nicht, dass man auf sie verzichten kann. Aber es ist eine Aufgabe politischer Theorien, solche Sprachbilder zu dekonstruieren, ihre Implikationen und Parteilichkeit aufzuzeigen und damit, wo immer es geht, analytische Klarheit einzufordern, also: auf das Explizieren von Prämissen zu drängen. Ich sehe es nicht als meine Aufgabe, eine ‚staatstragende‘, funktionierende Semantik für öffentliche Diskurse anzubieten, sondern vielmehr auf die Ausblendungen, Implikationen und die Parteilichkeit hinzuweisen.
Eva Weiler: Interessanterweise kommt starke Kritik an Metaphern oder metaphorischer Sprache ja nicht selten von denen, die selbst gern eine ebensolche Sprache verwenden – die Kollegen mögen mir verzeihen, wenn ich tendenziell auch sie zu dieser Sorte Kritiker zähle. Da es hier um einen Leviathan-Band geht, möchte ich hervorheben, dass sie sich dabei zumindest aus meiner Sicht in bester Gesellschaft befinden: Thomas Hobbes beginnt sein Hauptwerk ja mit sprach- und erkenntnistheoretischen Überlegungen, in denen er auch den metaphorischen Gebrauch der Sprache anprangert, um dann mit dem Leviathan eine der wirkmächtigsten politischen Metaphern überhaupt zu liefern. Ich stimme ansonsten dem, was Sebastian Huhnholz und Aaron Sahr sagen, vollkommen zu. Für mich geht die Frage nach geeigneten Begriffen für eine öffentliche und auch für eine theorieinterne Thematisierung aber noch weiter: Ich arbeite in Bezug auf die Eigentumsthematik schon länger daran, von Schlagworten wie Privateigentum, Gemeineigentum, öffentliches Eigentum etc., die normativ sehr aufgeladen sind und eine enorme, häufig nicht explizierte Bedeutungstiefe haben, wegzukommen und ein Vokabular anzubieten, das stärker auf ein funktional-institutionelles Eigentumsverständnis zielt. Dabei geht es dann vor allem um unterschiedliche Rechtstitel und ihre historische wie institutionelle Verankerung sowie um die Beschreibung dessen, was unterschiedliche Formen von Eigentum machen beziehungsweise was man mit Eigentumstiteln machen kann. Die Relevanz von ‚Kampfbegriffen‘ im wissenschaftlichen Betrieb wird etwa daran deutlich, dass sehr viele Publika, zu denen ich spreche, „liberal begründetes Privateigentum“ hören, wenn ich „Eigentum“ sage. Auch wird mir regelmäßig zurückgemeldet, dass meine Themen sehr interessant, aber auch sehr kompliziert seien und es einfachere Slogans brauche, um öffentliche Wirkung zu erzielen. Die Verwendung von aufgeladenen Begriffen lässt sich nicht vermeiden, nur sollten wir immer wieder unsere Wahrnehmung hinsichtlich ihrer ursprünglichen Bedeutung schärfen und fragen, ob die heutige Verwendungsweise überzeugt.
Welche Folgen hat die Digitalisierung für die Infrastruktur öffentlicher Finanzen?
Aaron Sahr: Die Ambitionen eines Konglomerats um den digitalen Plattformgiganten Meta (Facebook), zwischen 2019 und 2022 mit Libra (später Diem) eine eigene globale Privatwährung anzubieten, haben einerseits das Potenzial der durch Bitcoin ausgelösten Pluralisierung des Geldangebots (Stichwort: Kryptowährungen) gezeigt und andererseits die Risiken der Machtkonzentration des Plattformkapitalismus verdeutlicht. Das Projekt wurde zwar eingestellt, aber eben nur, weil die Regierungen und Zentralbanken massiv dagegen vorgegangen sind, um ihr Währungsmonopol zu verteidigen. Durch die Digitalisierung entsteht also erstens die Möglichkeit, die für uns so selbstverständliche Eigenheit moderner Staaten herauszufordern, sich als Monopolisten (vor allem) in ihrer eigenen Währung zu finanzieren. Nichtstaatliche Digitalwährungen sind sicherlich ein Feld, in dem sich die Politische Theorie noch weiter entfalten kann und sollte.
Zweitens ermöglichen die erfolgreichsten Digitalwährungen, die Stablecoins, neue Taktiken in der Geopolitik des Geldes. Auch das betrifft den Staatshaushalt. Die Regierung von US-Präsident Donald Trump hat gerade mit dem sogenannten Genius Act die Herausgabe an den US-Dollar gebundener, aber privat erzeugter Digitalgelder erleichtert. Man erwartet davon eine steigende globale Nachfrage nach US-Dollar, was natürlich dem Dollarproduzenten USA auch finanziell zupasskäme. Gleichzeitig entstehen neue Risiken, weil die Stablecoins mit US-Staatsanleihen besichert sind, die man im Falle einer Krise dieses neuen Systems rasch verkaufen müsste, was deren Verzinsung belasten würde. Ich will und kann das hier nicht weiter ausführen, sondern lediglich andeuten, wie eng hier eine Regulierungsfrage privater Finanzkontrakte (das sind Stablecoins letztendlich) mit der Kasse der öffentlichen Hand verknüpft ist.
Drittens schließlich entwickelt die Europäische Zentralbank genauso wie viele andere solcher Institutionen auf der ganzen Welt gerade eine neue Geldform, die sogenannten digitalen Zentralbankwährungen, bei uns: den „digitalen Euro“. Wir haben im Band einen Beitrag dazu, der sehr feingliedrig zerlegt, wie das Thema zwischen einer Antwort auf das Ende des physischen Bargelds und auf die gestiegene Nachfrage nach schnellen, mobilen, immateriellen Bezahlsystemen oszilliert. Geld galt der Forschung schon immer als hybride Institution, die irgendwo zwischen der öffentlichen und der privaten Sphäre verortet ist: Einerseits ist es privates Einkommen und Vermögen, andererseits trägt es Hoheitszeichen des Herrschaftsverbandes, wird von ihm legitimiert und verwaltet. Bei so etwas wie dem digitalen Euro wird also auch das für die politische Theorie öffentlicher Finanzen so entscheidende Verhältnis von privat und öffentlich neu verhandelt.
Sebastian Huhnholz: Ich stimme dem Gesagten völlig zu, würde nur ergänzen wollen, dass die von Aaron Sahr als Soziologe vielleicht etwas zurückhaltend formulierte These, dass es hier brachliegende Aufgaben gibt, nicht nur für die Teildisziplin der Politischen Theorie, sondern für die Politikwissenschaft als Ganze gilt. Die Politologie hat sich seit den 1960er-Jahren für die soziologische und wissenschaftliche Struktur öffentlicher Finanzen kaum mehr interessiert; auch darum ist sie eigentlich zwingend auf Interdisziplinarität angewiesen. Es gibt, wenn ich recht sehe, außerhalb der Politischen Ökonomie in ihrem speziellen Sinne weltweit nicht eine einzige einschlägige Professur, keine Forschungsgruppen, Sonderforschungsbereiche oder Ähnliches. Hier gilt, was Eva Weiler als ihre Erfahrung in noch so aufgeschlossenen Kolleg*innenkreisen beschrieb: Man winkt ab; interessant irgendwie, ja, aber doch auch kompliziert und überdies karriereschädlich – gemessen an den heutigen akademischen Reproduktionszirkeln. Spätestens seit Ende des Kalten Krieges haben die „westlichen“ Sozialwissenschaften die Kapazitäten, auch nichtsteuerliche, beispielsweise sozialistische Fiskalregimes zu analysieren, siegessicher eingestampft. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war das noch völlig anders. Kein Lehrstuhl, kein Lehrbuch, keine ernst zu nehmende Forschung zur Politischen Ökonomie des Staates durfte Geld-, Markt- und Fiskalsysteme einfach als gegeben voraussetzen. Wir fangen seit der Finanzkrise praktisch wieder bei null an und oszillieren zwischen historischen Rekapitulationen und aktuellen Detailstudien. Große jüngere Bücher zum Thema – von Thomas Piketty, Wolfgang Streeck, Monica Prasad und einigen anderen mehr – sind ja nicht zufällig historische Arbeiten. Die Sprachbarrieren zwischen den hochspezialisierten Disziplinen bleiben gewaltig, aber das Interesse an Verständigung und Vermittlung wird größer, wie beispielsweise die diesjährigen Adorno-Vorlesungen von Katharina Pistor zeigen. Nicht zuletzt deshalb ist unser Band aus losen, experimentellen Treffen interdisziplinär interessierter Kolleg*innen hervorgegangen. Das derzeitige fiskalische Interregnum – serielle Finanzkrisen, Sondervermögen, digitale Währungen etc. – lieferte uns offene und grundsätzliche Fragen quasi frei Haus.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.
Kategorien: Demokratie Geld / Finanzen Kapitalismus / Postkapitalismus Politische Ökonomie Soziale Ungleichheit Staat / Nation Wirtschaft
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