Hannah Ahlheim | Interview |

Nachgefragt bei Hannah Ahlheim

Fünf Fragen zu unserer Vorstellung von, zu unserem Wissen über und zur Beschäftigung mit Schlaf

In Ihrer Studie Der Traum vom Schlaf im 20. Jahrhundert beschäftigen Sie sich mit Schlafwissen in Deutschland und den USA. Wie hat sich unser Blick auf und unser Verständnis von Schlaf im letzten Jahrhundert verändert?

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begannen unterschiedliche Akteure in Deutschland und in den USA, neu und intensiver über Schlaf nachzudenken. In der Gesellschaft des Fin de Siècle wuchs die Angst vor Schlafstörungen, das Gefühl von Beschleunigung und Veränderungen schien den Schlaf empfindlich zu stören, gerade in den rasch wachsenden, nachts erleuchteten und aktiven Großstädten. Eine ganz ähnliche Wahrnehmung entstand in den letzten Jahrzehnten: Die Welt scheint schneller, enger, vernetzter und dadurch auch undurchschaubarer zu werden. Ständige Erreichbarkeit, entgrenzte Arbeit, soziale Unsicherheit, Bedrohungen durch Krieg und Klimawandel rauben Menschen den Schlaf. In diesen Situationen wuchsen und wachsen der Bedarf an Schlafratgebern und das Interesse an den Erkenntnissen der Schlafforschung.

Gesellschaftliche Konflikte oder Veränderungen, die Schlaf zu einem wichtigen Thema werden ließen, trafen dabei auf (wissenschaftliche) Konzepte von Körper und Seele, die ebenfalls einen grundlegenden Wandel durchliefen. So waren etwa im 19. Jahrhundert viele Wissenschaftler der Auffassung, das Gehirn als ‚Schaltzentrale‘ stelle im Schlaf seine Arbeit ein – etwa weil alles Blut aus dem Kopf in die Füße laufe (deswegen solle man doch einfach in der Eisenbahn mit dem Kopf zur Lok schlafen, so lautete ein Tipp für Bahnfahrer) oder weil die Nervenenden sich angeblich im Schlaf ‚zurückzögen‘ und ihre Verbindungen zueinander lösten. Träume galten den Physiologen, die diese Ansicht vertraten, als Zeichen für einen unvollständigen, ungesunden Schlaf. Gleichzeitig hielt sich die Vorstellung, dass die Seele im Schlaf auf Wanderschaft gehe und der Mensch im Traum in andere, vielleicht sogar göttliche Sphären schauen könne.

Um die Jahrhundertwende sorgten dann neue Ideen wie Sigmunds Freuds Traumdeutung (1899) dafür, dass das Träumen als ganz menschliches Phänomen wertgeschätzt und erforscht wurde. Mitte des 20. Jahrhunderts machte die neu erfundene Elektroenzenphalografie (EEG) die Aktivität und ‚Arbeit‘ des Gehirns im Schlaf sichtbar. Die Vorstellungen davon, was im Schlaf im menschlichen Körper und in seiner Seele passiert, haben sich also grundlegend verändert. Historiker:innen lesen diese Veränderungen aber nicht einfach nur als Fortschritt der Wissenschaft; sie fragen auch, in welchem Maße, auf welche Weise und an welchen Stellen die wissenschaftlichen Erkenntnisse als Produkte ihrer Zeit gelesen werden müssen. 

Nicht nur die wissenschaftlichen Erkenntnisse über Schlaf, auch der Schlaf selbst ist ein Produkt seiner Zeit. Was passierte mit dem Schlafen in der und durch die Industrialisierung? Wie hängt die Ende des 19. Jahrhunderts entstandene Vorstellung vom Schlaf mit der Moderne und ihrem Menschenbild zusammen?

Unsere Schlafenszeit ist eine unproduktive Zeit – etwa ein Drittel unseres Lebens verbringen wir in einem bewusstlosen, für den rationalen Verstand nicht zugänglichen Zustand. Damit stand der Schlaf gleich mehrfach quer zu den Anforderungen des Industriezeitalters, und er sperrt sich auch gegen die Anforderungen der hoch technisierten 24-Stunden-Welt des frühen 21. Jahrhunderts.

Die Vorstellungen vom schlafenden Menschen waren an vielen Punkten eng mit gesellschaftlichen Normen und Fragen, ebenso mit sozialen, technischen und ökonomischen Entwicklungen verknüpft. So griff mit der rasanten Industrialisierung und Rationalisierung der Produktion seit dem ausgehenden des 19. Jahrhundert beispielsweise die Fantasie um sich, den Schlaf verkürzen und besser auf die Arbeit einer nun auch nachts aktiven Gesellschaft abstimmen zu können. Thomas Edison, Erfinder der Glühbirne und erfolgreicher Unternehmer, bezeichnete das Schlafen Anfang des 20. Jahrhunderts als „schlechte Angewohnheit“. Schlafexperten der 1920er-Jahre träumten davon, dass der Mensch die Nacht für den Schlaf gar nicht brauche, sondern je nach Bedarf mal tagsüber, mal nachts schlafen könne. Außerdem sei auf den „Luxusschlaf“ zu verzichten, mit ein bisschen Fleiß und Übung könne man seine „Schlafarbeit“ schneller verrichten und so mit nur vier Stunden Schlaf auskommen, formulierten Schlafexperten ganz im Sinne einer tayloristischen Arbeitslogik. Die Fantasie vom selbstbestimmten, dauerwachen Menschen, der in der Lage ist, seinen Schlaf zu kontrollieren und ‚rational‘ einzusetzen, passte in die industrialisierten Gesellschaften des frühen 20. Jahrhunderts.

Doch gleichzeitig mussten Schlafende und Expert:innen feststellen, dass sich der Schlaf eben gerade nicht beliebig schrumpfen und einteilen ließ. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts setzte sich die Idee durch, ein guter und gesunder Umgang mit dem Schlaf sei durch die Balance zwischen ausreichendem Schlaf und effektiver Nutzung der wachen Zeit gekennzeichnet. Bei der ‚Verwaltung‘ und dem richtigen Einsatz der Ressource Schlaf half die Wissenschaft, die immer neue Erkenntnisse über die Mechanismen des Schlafs bereitstellte. Sie trug auch dazu bei, dass sich die ‚Regeln‘ zum Schlafen pluralisierten und individualisierten: Man kaufe ja auch seine Schuhe nicht in einer Durchschnittsgröße, sondern individuell passend, erklärte ein US-amerikanischer Schlafexperte in den 1950er-Jahren. Der „flexible Mensch“ (Richard Sennett) der global vernetzten, dauernd kommunikationsbereiten 24-Stunden-Gesellschaft erhielt so in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch einen flexiblen Schlaf. 

Welche wissenschaftlichen Disziplinen beschäftigen sich auf welche Weise mit Schlaf? Wann und wie haben sich Schlafforschung und -medizin entwickelt? Was waren ihre Errungenschaften und Schwierigkeiten? Wer waren ihre Auftraggeber?

An der Erforschung und Behandlung des Schlafs waren und sind ganz unterschiedliche Disziplinen beteiligt, die dem Schlaf mal mehr, mal weniger Aufmerksamkeit widmen. Von Beginn an spielte die Physiologie eine große Rolle, die nach den organischen Mechanismen und Ursachen des Schlafs bei Menschen und Tieren suchte. Oft arbeiteten die Physiolog:innen auch mit Neurolog:innen oder Psycholog:innen zusammen, denn der Schlaf ist ganz offensichtlich eine Körperfunktion, die eng mit dem Nervensystem und unserem Seelenleben verbunden ist. Auffällig ist dabei, dass sich die Schlafforschung vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von der Psychoanalyse abgrenzte. Schlafforscher:innen ging es nicht um die Erforschung psychischer Mechanismen und unbewusster Vorgänge, für den Traum interessierten sie sich nur noch am Rande. Stattdessen rückten nun physiologische Grundlagen des Schlafs und das Organ Gehirn ins Zentrum des Interesses. Eine Rolle spielte dabei sicherlich, dass die Erforschung (hirn-)physiologischer Vorgänge im Labor scheinbar eindeutige und im besten Falle quantifizierbare Messergebnisse produzierte – etwa bei der Erprobung von Schlafmitteln für die Pharmaindustrie – und damit leichter vermittel- und verwertbar war. Nicht zuletzt verlor die Psychoanalyse zumindest in den USA an Bedeutung, während sich eine medizinisch-pharmakologisch, verhaltenswissenschaftlich orientierte Psychologie in vielen Feldern durchsetzen konnte. 

Außerdem kam etwa seit den 1970er-Jahren die Pneumologie (Lungenheilkunde) hinzu: Die neu konzipierte Krankheit Schlafapnoe, bei der im Schlaf das Atmen aussetzt, lenkte den Blick der Schlafmediziner:innen weg von der ‚Schaltzentrale‘ Gehirn und wieder auf den gesamten Körper. Auch die Biologie beschäftigt sich mit dem Schlaf, seit den 1980er-Jahren vor allem in Gestalt der neuen Unterdisziplin der Chronobiologie, die nach der Bedeutung von Rhythmen und zeitlichen Strukturen für das Funktionieren menschlicher, aber auch tierischer oder pflanzlicher Organismen fragt.

Schlafforschung und Schlafmedizin gingen dabei nicht immer dieselben Wege. Während Erstere – etwa in Zusammenarbeit mit der Pharmakologie und im Auftrag von Pharmaunternehmen – im Labor die Wirkung bestimmter Substanzen untersucht, entwickeln Schlafmediziner:innen therapeutische Ansätze, um Schlafstörungen zu heilen und den Menschen im Alltag Linderung zu verschaffen.

Nicht zuletzt ist der Schlaf jetzt seit mehreren Jahrzehnten aber auch Gegenstand geistes- und gesellschaftswissenschaftlicher Forschung: Die Soziologie, die Anthropologie, die Pädagogik oder eben die Geschichtswissenschaft betrachten den Schlaf aus einem ganz anderen Blickwinkel, sie betonen die Bedeutung von Kultur, Wissensbeständen und Sozialisation für den alltäglichen Umgang mit dem Schlaf.

Welche Rolle spielte (und spielt) der Schlaf im Krieg? Wie hat man in den Weltkriegen versucht, das Schlafbedürfnis der Soldaten zu untersuchen und zu beeinflussen? 

Die Extremsituation des Krieges war für Expert:innen immer wieder Anlass, um die Grenzen menschlicher Leistungs- und Leidensfähigkeit auszutesten – dazu gehört auch der Schlaf. Der Zweite Weltkrieg war wichtig in der Geschichte des Schlafs im 20. Jahrhunderts, weil sich während der Kämpfe zeigte, wie bedeutend ausreichend Schlaf war – für die Einsatzfähigkeit von Soldaten, vor allem von Piloten oder U-Boot-Besatzungen, aber auch von Rüstungsarbeiter:innen. Alle Kriegsparteien statteten ihre Soldaten mit ‚Wachmachern‘ aus, sei es in Form von Pillen oder Kaffee, Zigaretten oder koffeinhaltiger Panzerschokolade. Im Konzentrationslager Sachsenhausen testeten deutsche Ärzte die Wirksamkeit von Aufputschmitteln an KZ-Häftlingen, die sie bis zur Erschöpfung laufen ließen.

Doch vor allem US-amerikanische Militärpsycholog:innen begannen im Zweiten Weltkrieg, sich mit den Folgen von Schlafmangel und Schlafentzug zu beschäftigen beziehungsweise über einen gezielten ‚Einsatz‘ von Schlaf nachzudenken. Ein großer Teil der Kriegsversehrten litt nicht an den körperlichen, sondern an den seelischen Folgen ihrer Erlebnisse an der Front. Die US-amerikanischen Expert:innen, die zum ersten Mal in großem Stil an der Front arbeiteten, versetzten psychisch angeschlagene Soldaten für mehrere Tage mithilfe von Schlafmitteln in Schlaf oder Halbschlaf, um sie mit dieser vermeintlichen Schlafkur innerhalb von wenigen Tagen wieder fit zu machen für den Einsatz. Der oft als Vater der Schlafforschung bezeichnete Physiologe Nathaniel Kleitman erhielt während des Krieges Forschungsmittel, um die ideale Schicht- und Wacheinteilung in der Industrie oder im dauerdunklen U-Boot zu erforschen. 

Auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs blieb das US-Militär an den Anwendungsmöglichkeiten von Schlafwissen interessiert. Im Koreakrieg fürchteten Expert:innen um die seelische Widerstandskraft von Soldaten, die angeblich durch Schlafentzug gefoltert wurden. Während des Kalten Krieges wollten die Militärexpert:innen sicherstellen, dass die Piloten neue und technisch immer kompliziertere Flugzeuge ohne Einschränkungen bedienen konnten – das US-amerikanische Militär unterstützte daher seit den 1960er-Jahren Projekte, die die Leistungskurve, den Schlaf-Wach-Rhythmus und die Folgen des neu entdeckten Jetlags erforschten und vermaßen. Im Irakkrieg in den 1990er-Jahren sollte ein Schlafmanagementsystem verhindern, dass müde Soldat:innen in heiklen Situationen überfordert waren und auf ihre eigenen Leute schossen. Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), die mit Schlafstörungen und Albträumen einhergeht und in manchen Fällen auch mit Schlaftherapien behandelt wird, ist heute als Krankheit anerkannt. Der Schlaf als Ressource ist damit im Laufe des 20. Jahrhunderts Teil der Kriegführung geworden.

Was ist das Bett für ein Ort?

Das Bett ist ein Ort, an dem sich ein großer Teil unseres Lebens abspielt. Im Bett gebären wir, dort verbringen wir die ersten Stunden unseres Lebens, im Bett vergammeln wir faule Stunden, lesen oder frühstücken, im Bett weinen und trauern wir, im Bett haben wir Sex oder sind uns nah, im Bett träumen wir oder wälzen uns schlaflos, im Bett erholen wir uns und sind krank und im Bett sterben wir. Das Bett ist ein Ort, der ganz unterschiedlich aussehen oder genutzt werden kann: Wie wir uns betten und wie wir auf Betten blicken, ist stark von unserer Kultur, von sozialen Normen und moralischen Setzungen, aber auch von ganz individuellen Gefühlen, von unseren Körpern und unserem Seelenleben geprägt.

Das Bett ist aber vielleicht auch ein unterschätzter, ein vernachlässigter Ort, ein Ort, den wir viel öfter aufsuchen sollten. Denn Schlafen, Dösen und Herumliegen kann einfach sehr schön sein. Schlafen kann aber auch verstanden werden als letztes Bollwerk gegen kapitalistische (Selbst-)Ausbeutung und den dauernden Zugriff der Gesellschaft auf ihre Subjekte. Dann wäre das Bett ein Ort der Verweigerung, aber auch der Emanzipation und des Träumens von einer besseren Welt.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Henriette Liebhart.

Kategorien: Arbeit / Industrie Geschichte Gesundheit / Medizin Körper Methoden / Forschung Militär Moderne / Postmoderne Wissenschaft

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Hannah Ahlheim

Hannah Ahlheim ist Professorin für Zeitgeschichte am Historischen Institut der Justus-Liebig-Universität Gießen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem Körper- und Wissensgeschichte, die Geschichte des Nationalsozialismus und des Antisemitismus, die Geschichte der Erinnerungskultur und die Geschichte von Schlaf und Traum.

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