Karsten Malowitz | Veranstaltungsbericht |

Totgesagte leben länger

Bericht zum internationalen Workshop „From Cold War Liberalism to Postliberalism“ am 13. und 14. September 2024 am Point Alpha Research Institute in Geisa

Der Liberalismus ist der Überlebenskünstler unter den politischen Ideologien. Schon oft für tot erklärt, hat er sich bislang von allen Krisen noch immer wieder erholt. Angesichts seiner erstaunlichen Anpassungsfähigkeit sollte man annehmen, dass er auch die gegenwärtigen Herausforderungen überstehen wird. Doch selbst seine zuversichtlichsten Anhänger:innen müssen zugeben, dass die politischen Umstände gegenwärtig dem Weltbild und den Werten des Liberalismus keineswegs günstig gesonnen sind. Die liberalen Demokratien befinden sich weltweit unter Druck, ihre Protagonist:innen argumentativ in der Defensive. Herausgefordert werden sie sowohl durch autoritäre Regime von außen als auch durch radikale Parteien und Bewegungen von innen. Die tektonischen Verschiebungen der letzten Jahre – namentlich der Sieg Donald Trumps bei den US-Präsidentschaftswahlen im November 2016, der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union im Januar 2020 und der Vormarsch rechter Parteien in zahlreichen Ländern Europas – haben nicht nur die politische Landschaft des Westens, sondern auch das Selbstverständnis vieler Liberaler erschüttert. Vom Optimismus zu Beginn der 1990er-Jahre, als Theoretiker wie Francis Fukuyama einen weltweiten Siegeslauf der liberalen Demokratien und ein nahendes „Ende der Geschichte“ erwarteten,[1] ist in den jüngsten Debatten jedenfalls nichts mehr zu spüren. Im Zentrum der bislang vor allem im angloamerikanischen Raum ausgetragenen Kontroverse stehen vielmehr kritische Fragen nach politischen Versäumnissen und strukturellen Defiziten des Liberalismus.[2]

Mittelalte weiße Männer, feudale Verhältnisse und der Sound des Kalten Krieges

Im Kontext dieser diskursiven Gemengelage fand am 13. und 14. September in Geisa ein internationaler Workshop zur gegenwärtigen Lage des Liberalismus statt. Organisiert wurde die Tagung von JULIAN NICOLAI HOFMANN (Universität Marburg) und VEITH SELK (PARI / Wirtschaftsuniversität Wien) in Kooperation mit dem ortsansässigen Point Alpha Research Institute (PARI), das zugleich als Gastgeber fungierte. Der Titel „From Cold War Liberalism to Postliberalism“ spannte einen weiten Bogen, der Raum für die Diskussion politisch wie theoretisch heterogener Positionen bot. Dass der Diskussionsbedarf innerhalb der wissenschaftlichen Community nach wie vor hoch ist, die Veranstalter mit der Wahl ihres Themas also einen Nerv getroffen hatten, zeigte das hochkarätige Line-up der Teilnehmer:innen. So waren neben renommierten Forscher:innen aus Deutschland und Europa mit SAMUEL MOYN (Yale University) und PATRICK J. DENEEN (Notre Dame University) auch zwei namhafte Liberalismuskritiker aus den USA der Einladung in die thüringische Provinz gefolgt. Getrübt wurde die Freude der Organisatoren über die illustre Schar nur durch das Fehlen von Amy Allen, Elif Özmen und Nadia Urbinati, die man zwar angefragt hatte, die aber aufgrund anderweitiger Verpflichtungen verhindert waren. So konnte man beim Blick in die wenig diverse Runde – 2 Referentinnen und 12 Referenten – den Eindruck gewinnen, dass es vor allem mittelalte weiße Männer sind, die sich für die Zukunft des politischen Liberalismus interessieren.

Anlass zu ungetrübter Freude boten hingegen die fast schon feudal anmutenden Rahmenbedingungen des Workshops. Von den freundlichen Mitarbeiter:innen des malerisch gelegenen Schlosshotels aufmerksam umsorgt, fanden sich die größtenteils schon am Vortag angereisten Wissenschaftler:innen nach einem ausgiebigen Frühstück im gediegenen Konferenzraum ein, um dort, wo andere Urlaub machen, ihrer Arbeit nachzugehen. Begrüßt wurden sie zunächst von PHILIPP GASSERT (PARI / Universität Mannheim), der die Gelegenheit nutzte, um die Struktur des gemeinsam von Wissenschaftler:innen der Hochschule Fulda, der Universität Erfurt, der Point Alpha Stiftung und der Stadt Geisa betriebenen Bildungs- und Forschungseinrichtung zu erläutern. Dass man vor Ort stolz ist auf die jenseits der Region (noch) wenig bekannte Institution, verdeutlichte Bürgermeisterin MANUELA HENKEL (Geisa, logisch), die eigens zur Eröffnung erschienen war. In ihrer kurzen Ansprache betonte sie, welch wichtige Rolle die von der Bundeszentrale für politische Bildung als „anerkannter Bildungsträger“ zertifizierte Einrichtung in einer Gegend spielt, in der Orte des diskursiven Austauschs und der politischen Aufklärung nicht eben breit gestreut sind. Bestärkt wurde sie darin von VIVIAN SEIDEL (PARI), die in ihrem Grußwort an die strategische Bedeutung des Ortes zur Zeit des Kalten Krieges erinnerte, als Point Alpha einen Beobachtungsposten des US-Militärs an der deutsch-deutschen Grenze und damit keinen Ort des Austauschs, sondern der Konfrontation bezeichnete. Beschlossen wurde der Reigen der Vorbemerkungen mit einem Wunsch der Organisatoren für die Abendveranstaltung: Die Teilnehmer:innen, so Hofmann und Selk, sollten doch bitte Vorschläge für eine Cold War Playlist machen, um den ersten Tag des Workshops mit dem richtigen Sound ausklingen zu lassen. Während einem mit Nenas „99 Luftballons“ und Nicoles „Ein bißchen Frieden“ spontan Lieder in den Sinn kamen, die man lieber nicht hören wollte, fand auf dem Podium auch schon ein fliegender Wechsel statt und die ersten Referent:innen nahmen ihre Plätze ein.

Eine Meistererzählung und ein Freispruch

Den Auftakt machte ANNELIEN DE DIJN (Utrecht University), die in ihrem Vortrag nach dem Ursprung der von Fukuyama und anderen verbreiteten Meistererzählung vom Aufstieg des Liberalismus zur dominanten politischen Denkrichtung der Moderne fragte. Unter Rekurs auf zeitgenössische Überblickswerke zur politischen Ideengeschichte argumentierte de Dijn, dass die Geschichte vom Siegeszug des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit der 1920er- und 1930er-Jahre entstanden sei. Während liberale Theoretiker wie Guido de Ruggiero oder Leonard Trelawny Hobhouse das Narrativ von der weltgeschichtlichen Bedeutung des Liberalismus und seiner Prinzipien propagiert hätten, um dem kriselnden Liberalismus neues Leben einzuhauchen, hätten linke und rechte Kritiker wie Harold J. Laski beziehungsweise Reinhold Niebuhr dem Narrativ eine kritische Wendung gegeben, indem sie den Liberalismus nicht nur für die Entstehung der Moderne, sondern auch für deren Missstände verantwortlich machten. Nach 1945, so de Dijn, habe sich dann unter dem Einfluss von George H. Sabines mehrfach aufgelegter und breit rezipierter History of Political Theory vor allem die positive Lesart durchgesetzt und Generationen von Theoretikern geprägt,[3] auch wenn kritische Stimmen – De Dijn erinnerte an C.B. Macpherson und Leo Strauss – nie ganz verstummt seien. Zum Schluss ihres engagierten Vortrags plädierte de Dijn dafür, das bis heute verbreitete Narrativ zugunsten einer differenzierteren Sichtweise zu verabschieden, da es nicht nur ein verkürztes Verständnis von Geschichte vermittle und die politische Vorstellungskraft lähme, sondern zudem den gegenwärtigen Kritiker:innen in die Hände spiele.

Während de Dijns abschließende Spitze vor allem auf rechtsgerichtete Denker zielte, hatte sich ihr Nachfolger am Rednerpult, JENS HACKE (Universität Halle-Wittenberg), mit dem anwesenden Moyn einen dezidiert linken Liberalismuskritiker zu seinem intellektuellen Widersacher erkoren. Er widersprach Moyns Vorwurf, die liberalen Denker der Nachkriegszeit, die sogenannten Cold War Liberals, seien mit ihrem negativen Freiheitsverständnis und dem damit einher gehenden Verzicht auf emanzipatorische Bestrebungen für die inhaltliche Aushöhlung des Liberalismus und dessen gegenwärtige Krise mindestens mitverantwortlich. Von den Veranstaltern launig zum „letzten Verteidiger des Cold War Liberalism“ erklärt, stellte sich Hacke als Advocatus Diaboli auf die Seite der Angeklagten, wohl wissend, dass man „sich damit keine Freunde macht“, stünden die Cold War Liberals doch in dem Ruf, rückwärtsgewandt, eurozentrisch, technokratisch und in puncto Diversität bestenfalls unsensibel gewesen zu sein. Unaufgeregt, aber rhetorisch und argumentativ versiert, wie man es von einem guten Anwalt erwarten darf, suchte Hacke im Folgenden, den gegen seine Mandanten erhobenen Vorwurf der Bildung einer intellektuellen Vereinigung zu entkräften. Eine homogene Gruppe von Cold War Liberals habe es ebenso wenig gegeben wie eine entsprechende Denkrichtung. Liberale wie Raymond Aron, Daniel Bell, Isaiah Berlin, Ralf Dahrendorf, Gertrude Himmelfarb, Karl Popper oder Judith N. Shklar hätten sich nicht als Mitglieder des gleichen Clubs gesehen. In den zeitgenössischen gesellschaftlichen Debatten hätten sie Minderheitenpositionen vertreten und ihr Einfluss auf die Politik sei äußerst begrenzt gewesen, weshalb es irreführend sei, sie zu einer wirkmächtigen Gruppierung zu erklären. Wie zuvor schon de Dijn plädierte auch Hacke für eine kontextsensible Auseinandersetzung mit den Protagonist:innen des Liberalismus und ihren politisch wie theoretisch heterogenen Ansätzen. Statt die Liberalen der Nachkriegszeit ex post zu Sündenböcken für heutige Defizite zu machen und ihnen wohlfeil ihre vermeintlichen Versäumnisse vorzurechnen, solle man lieber die Frage stellen, was sich von ihnen und ihrer Art, Theorie zu betreiben, lernen ließe. Für Hacke zählte dazu vor allem die Bereitschaft zu einer nüchternen Diagnose der politischen Gegenwart mit ihren je besonderen Krisen und Herausforderungen. Wichtiger als die Ausarbeitung großer Theoriegebäude sei eine Form der reflektierten Krisenanalyse, die sich nicht von moralischen Wünschbarkeiten leiten lässt. Da Moyn, sichtlich geschwächt vom Jetlag, nicht energisch dagegenhielt und die Seite der Anklage nur halbherzig vertrat, war der Freispruch für die Cold War Liberals nach diesem Plädoyer nur noch eine Formsache.

Frontstadtprofessoren, Legitimationsprobleme und ein kalter Hotspot

Wie eine kontextsensible ideengeschichtliche Auseinandersetzung mit dem politischen Denken zweier Cold War Liberals aussehen kann, skizzierte anschließend RICCARDO BAVAJ (University of St. Andrews). Als Exempel dienten ihm dabei mit Ernst Fraenkel und Richard Löwenthal zwei aus dem Exil nach Deutschland zurückgekehrte Politikwissenschaftler der Nachkriegszeit, die er als entschiedene Fürsprecher der Westernisierung vorstellte.[4] Angetreten, um die von ihnen befürwortete Integration der Bundesrepublik in eine Wertegemeinschaft des Westens intellektuell zu befördern und die letzten Reste der deutschen Tradition obrigkeitsstaatlichen Denkens durch ein dezidiert pluralistisches Politikverständnis zu ersetzen, hätten beide ihre politische Einstellung im Laufe der Jahre nachhaltig verändert. Um sowohl ihre ursprünglichen Überzeugungen als auch ihre Abkehr von denselben zu verstehen, so Bavaj, müsse man die besonderen politischen, gesellschaftlichen und regionalen Umstände berücksichtigen, unter denen sich Fraenkels und Löwenthals intellektuelle Entwicklung nach ihrer Rückkehr vollzog, also insbesondere die Verortung an der Freien Universität in Westberlin, den Bau der Mauer, und schließlich den Ausbruch der Studentenrevolte. Ausgehend von seinen Befunden plädierte Bavaj am Ende seines Vortrags dafür, sich bei der Beschäftigung mit dem Cold War Liberalism nicht zu sehr auf den angloamerikanischen Raum zu fixieren und zugleich den je spezifischen lokalen Gegebenheiten der Theoriebildung größere Beachtung zu schenken. Dem wollte niemand widersprechen.

Einen anderen Akzent setzte sodann BENJAMIN STUDEBAKER (Indiana, derzeit ohne University), der kurzfristig für den verhinderten Daniel Steinmetz-Jenkins eingesprungen war. Im Zentrum seines ebenso temporeichen wie kurzweiligen Vortrags stand das Problem der Legitimation politischer Herrschaft. Unter Rekurs auf Robert A. Dahl argumentierte Studebaker, dass sich Herrschaft in liberalen Demokratien nicht nur durch die Einhaltung der Verfahren, sondern auch durch die Qualität der Ergebnisse rechtfertigen lassen müsse. Die Legitimationsbedürftigkeit habe auch nach dem Ende des Kalten Krieges und der damit verbundenen Systemkonkurrenz nichts von ihrer Schärfe verloren. Anders als manche liberale Politikwissenschaftler:innen und Philosoph:innen gemeint hätten – Studebaker zielte damit insbesondere auf John Rawls –, müssten Legitimationstheorien nicht nur für die Standeskolleg:innen, sondern auch für die Bürger:innen nachvollziehbar und überzeugend sein, wenn sie eine stabilisierende Wirkung entfalten sollen. Die Bewältigung dieser Aufgabe sei heute, in Zeiten polarisierter Gesellschaften und dem Verlust eines „übergreifenden Konsenses“ (Rawls) im Inneren der liberalen Demokratien nicht leichter geworden als früher. Ohne überzeugende Antwort auf das Legitimationsproblem jedoch, so Studebakers düstere Prognose, drohten die innergesellschaftlichen Spaltungen chronisch zu werden und die politischen Verfahren und Institutionen zu unterminieren. Eine Antwort hatte auch Studebaker nicht parat, verwies aber alle Interessierten mit einem Augenzwinkern auf sein demnächst erscheinendes Buch Legitimacy in liberal democracies.[5] Das wurde beflissen notiert.

Nach angeregter Diskussion bot eine Exkursion zur nahegelegenen Gedenkstätte Point Alpha, einem ehemaligen Stützpunkt des US-Militärs, eine willkommene Abwechslung. Dort, an einem „der heißesten Punkte im Kalten Krieg“, wie es auf der Webseite der Gedenkstätte heißt, wo sich bis 1990 zwei Vorposten von NATO und Warschauer Pakt direkt gegenüber standen und einander rund um die Uhr beobachteten, erhielten die Gäste in der ehemaligen Kantine nicht nur einen warmen Imbiss, sondern auch einen Einblick in die Geschichte des Ortes und in den Alltag der seinerzeit dort stationierten Soldaten. Von der fast zweistündigen Führung dürften neben den nahezu unüberwindlichen Grenzanlagen vor allem die widrigen Wind- und Wetterverhältnisse der Rhön in Erinnerung geblieben sein, die etliche der auswärtigen Wissenschaftler:innen bei der Wahl ihres Outfits offensichtlich unterschätzt hatten. So war die verfrorene Schar froh, als der Reigen der Vorträge am Nachmittag im Haus auf der Grenze, einem weiteren Erinnerungsort, seine Fortsetzung fand.

Unsichtbare Kreide, laute Töne und ein Prozess in Abwesenheit

Nachdem der Vormittag der Geschichte des liberalen Denkens gewidmet gewesen war, standen nun die Fehlschläge des Liberalismus auf dem Programm und dessen Kritiker in den Startlöchern. Wer allerdings erwartet hatte, dass der Ort der langjährigen Blockkonfrontation nun den Schauplatz für einen intellektuellen Schlagabtausch zwischen den Vortragenden abgeben würde, von denen zwei, nämlich Deneen und Moyn, schon wiederholt die Klingen miteinander gekreuzt hatten,[6] sah sich durch den weiteren Verlauf des Workshops getäuscht.

Als erster aus der kleinen Runde der Liberalismuskritiker kam Deneen zu Wort, dessen Vortrag jedoch eher wie ein Aufruf zur Reform des Liberalismus als zu dessen Überwindung anmutete. So hielt er den Liberalen und der politischen Linken vor, den Kampf um die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit zugunsten der Durchsetzung identitätspolitischer Ziele vernachlässigt und damit die gesellschaftliche Spaltung in den USA vertieft zu haben. Interessanter als die an Moyn erinnernde These und die mit ihr verbundenen Vorwürfe gegen die Cold War Liberals, denen er eine Mitschuld an den antiegalitären Tendenzen der Gegenwart attestierte, war die Tatsache, dass Deneen es nicht dabei bewenden ließ. Im Stile eines Querfronttheoretikers richtete er seine Kritik an einer Überbetonung kultureller und identitätspolitischer Motive auch gegen konservative Intellektuelle, namentlich gegen die Gruppe der Schüler von Leo Strauss, die sogenannten Straussians, denen er einen erheblichen Einfluss im US-amerikanischen Wissenschaftsbetrieb attestierte. Als Beispiel für die von ihm diagnostizierte Tendenz verwies er auf den in der Alt-Right-Bewegung populären Influencer mit dem Pseudonym Bronze Age Pervert, hinter dem sich der in Yale promovierte Rechtsintellektuelle Costin Vlad Alamariu verbergen soll. Statt sich nun jedoch seinerseits in der ideologischen Gemengelage zu verorten, beendete Deneen seinen knappen Vortrag und überließ dem nächsten Referenten die Bühne. Auch wenn der Verdacht nahelag und Kenner von Deneens Schriften keinerlei Zweifel hegten – Spuren von Kreide ließen sich am Referenten nicht nachweisen.

Deutlich lautere Töne als sein Vorredner schlug ADRIAN PABST (University of Kent) an. In einem rhetorisch kraftvollen Vortrag, der einen an den US-amerikanischen Erweckungsprediger Billy Graham, das „Maschinengewehr Gottes“, erinnerte, präsentierte Pabst eine katholisch grundierte Kritik des Liberalismus, die aufhorchen ließ. Der Liberalismus, so Pabst, habe sich seit dem Ende des Kalten Krieges weltweit zu Tode gesiegt. Die katastrophale Entwicklung, welche die Welt seitdem genommen habe, zeige, dass sich auf den liberalen Prinzipien des Individualismus und der Marktfreiheit keine stabile, geschweige denn eine soziale Ordnung errichten lässt. Die uneingeschränkte Freiheit, das Ideal der liberalen Theorie, habe sich in der Praxis in ihr Gegenteil verkehrt und eine von Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Unfreiheit geprägte Welt hervorgebracht. In den „Ruinen des Liberalismus“, so Pabst pathetisch, tobe der „Kampf ums Überleben“. Die Maßnahmen, die er als Mittel gegen die Verwerfungen des Liberalismus empfahl, waren jedoch deutlich ziviler, als die markige Krisendiagnose vermuten ließ. Statt zur Gegenreformation und zur Errichtung von Scheiterhaufen aufzurufen, predigte Pabst Nächstenliebe und Gemeinsinn und warb in der Nachfolge Alasdair MacIntyres für eine kommunitaristische Korrektur des Liberalismus: Es gelte, die liberalen Freiheitsrechte durch soziale Pflichten auszutarieren, den gemeinschaftlichen Zusammenhalt zu stärken und das Ideal der Selbstverwirklichung um das des Gemeinwohls zu ergänzen. Das hatte dann doch mehr von einer Sonntags- als von einer Erweckungspredigt.

Nachdem die postliberalen Angriffe auf die Grundfesten des Liberalismus damit deutlich weniger heftig ausgefallen waren als erwartet, richtete sich die Aufmerksamkeit des Auditoriums gespannt auf Moyn, den letzten Redner des Tages. Würde er noch einmal zur Attacke ansetzen und wahlweise den Liberalismus oder dessen rechte Kritiker herausfordern, vielleicht sogar beide? Schon nach wenigen Sätzen war klar, dass auch Moyn, der sich salomonisch zwischen Liberalen und Postliberalen verortete, die friedliche Koexistenz, in der sich die Teilnehmer:innen der Tagung eingerichtet hatten, nicht stören würde. Statt eine Synopsis der kontroversen Thesen seines Buches Liberalism against itself zu präsentieren, suchte er tentativ die Frage zu klären, was die gegenwärtige von früheren Krisen des Liberalismus unterschied, wobei ihn insbesondere die Phase der 1970er- und 1980er-Jahre interessierte. Als Sparringspartner – man könnte auch sagen: als Strohmann – diente ihm dabei Stephen Holmes, an dessen 1996 erschienenem Buch The anatomy of antiliberalism er sich abarbeitete.[7] Bei allem Lob, das Moyn dem Autor spendete, ging es ihm doch vor allem um eine Kritik an Holmes’ Auseinandersetzung mit den Denkfiguren und Begründungsmustern des Antiliberalismus. Obgleich er diesen Eindruck zu zerstreuen suchte, gaben die gegen Holmes vorgebrachten Vorwürfe Anlass zu der Vermutung, dass hier ein Prozess in Abwesenheit geführt wurde, dessen tiefere Ursache in einer scharfen Besprechung von Moyns Buch zu suchen war, die der Beschuldigte unlängst an prominenter Stelle in der London Review of Books veröffentlicht hatte.[8] So hielt Moyn seinem Kontrahenten vor, die Bedeutung geopolitischer und ökonomischer Argumente seinerzeit unterschätzt und eine unkritische Version eines „imperialen und ausbeuterischen“ Liberalismus verteidigt zu haben. In der Betonung dieser beiden Argumentationsstränge durch linke und rechte Kritiker:innen sowie in der gleichzeitigen Herausforderung durch „katalytische Ereignisse“ wie die Wahl Trumps und den Brexit sah Moyn das Besondere der aktuellen und nach seiner Einschätzung durchaus existenziellen Krise des Liberalismus. Jetzt sei die vielleicht letzte Gelegenheit zu einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit den Versäumnissen der Vergangenheit und zu einer Neuausrichtung hin auf das Ideal der individuellen Selbstverwirklichung. Dafür gab es freundlichen Applaus. Wie schon bei den Vorrednern verzichteten die Anwesenden darauf, vorhandene Differenzen offensiv zu thematisieren. So endete der erste Teil des Workshops nach der Rückkehr an den eigentlichen Tagungsort in gelöster Stimmung im Simplicius-Keller, dem für festliche Aktivitäten ausgebauten Gewölbe des Schlosshotels, wo sich Liberale und Postliberale einträchtig daran machten, die letzten beiden Tagesordnungspunkte abzuarbeiten: die mit Klassikern wie Iron Maidens „2 Minutes to Midnight“ oder Bruce Springsteens „Born in the USA“ gespickte Cold War Playlist und den Weinvorrat des gastgebenden Beherbergungsbetriebs.

Kaffeekonsum, problematische Deals und ein theoretisches Dilemma

Nach einer kurzen Nacht kamen die mehr oder weniger ausgeruhten Teilnehmenden am nächsten Morgen erneut im Tagungsraum zusammen, um unter Zufuhr großer Mengen von Kaffee die Diskussion fortzusetzen. CLAUDIA WIESNER (PARI / Hochschule Fulda) skizzierte in ihrem Vortrag ein Panorama der Herausforderungen, vor die sich die liberale Weltordnung und insbesondere die liberalen Demokratien Europas gegenwärtig gestellt sehen. Neben äußeren Faktoren wie Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, die verschärfte geopolitische, ökonomische und ideologische Konkurrenz mit autoritären Regimen wie China oder den wachsenden Einfluss privater Techkonzerne betonte sie dabei vor allem die inneren Spannungen und Schwierigkeiten der Europäischen Union (EU), die aus dem Erfolg rechtspopulistischer und illiberaler Bewegungen in ihren Mitgliedstaaten resultieren. So stünden zahlreiche Bürger:innen den Zielen und Institutionen der EU zunehmend skeptisch bis ablehnend gegenüber, Staaten mit rechtsgerichteten Regierungen wie Ungarn und Italien ließen sich immer schwerer disziplinieren und auf gemeinsame politische Ziele verpflichten. Um international handlungsfähig zu bleiben, müsse die EU stärker als bisher selbst als geopolitischer Akteur in Erscheinung treten. Als solcher komme sie jedoch nicht umhin, sich auf problematische Deals mit illiberalen Kräften einzulassen, was ihre ohnehin schon angekratzte moralische Glaubwürdigkeit weiter beeinträchtige. Nach dieser wenig kontroversen Diagnose, der wohl jede:r aufmerksame Beobachter:in des politischen Tagesgeschehens zustimmen konnte, hätte man sich gerne eine eingehendere Analyse gewünscht. Eine solche hatte Wiesner jedoch nicht im Angebot.

Von den luftigen Höhen der internationalen Politik lenkte Julian Nicolai Hofmann die Anwesenden anschließend in die unwegsamen Ebenen der politiktheoretischen und ideengeschichtlichen Auseinandersetzung. Im Zentrum seines Vortrags stand eine intensive Beschäftigung mit Jürgen Habermas’ einflussreichem Aufsatz „Die Krise des Wohlfahrtstaates und die Erschöpfung utopischer Energien“ aus dem Jahr 1985,[9] dem Hofmann eine richtungsweisende Bedeutung für Habermas’ weitere Theorieentwicklung zuschrieb. Ausgehend von seiner Kritik des modernen Wohlfahrtsstaates, dem er vorwirft, die Bürger:innen qua Bürokratisierung und Verrechtlichung in passive Klienten:innen zu verwandeln, habe Habermas in dem Aufsatz die Zivilgesellschaft mit ihren vielfältigen Vereinigungen als entscheidende Quelle zur Wiederbelebung des Politischen ausgemacht. Damit, so Hofmann, habe er sich allerdings in ein systematisches Dilemma manövriert: Ausgehend von dieser Vorentscheidung sei Habermas nämlich nur noch die Wahl geblieben, auf mehr gesellschaftliche Selbstorganisation und eine Stärkung der sozialen Bewegungen zu setzen und sich damit vom Ziel eines leistungsstarken, aber bürokratisch verwalteten Wohlfahrtsstaates zu verabschieden, oder die Verwirklichung einer anspruchsvollen, weil responsiven Konzeption liberaler Demokratie in Angriff zu nehmen, Letzteres freilich um den Preis eines Verzichts auf die Verwirklichung alternativer Formen politischer Willensbildung. Mit der 1992 in Faktizität und Geltung vorgelegten Demokratietheorie[10] habe sich Habermas bekanntlich für die zweite Option entschieden – und damit vom Ziel einer Verwirklichung utopischer politischer Gehalte verabschiedet. Unklar blieb, ob der von Hofmann artikulierte Vorwurf des Utopieverzichts nur auf das von Habermas entwickelte Modell deliberativer Politik zielte oder auch auf andere Ansätze der Theoriefamilie gemünzt war.

Eine saure Traube, Sortiervorschläge und Arbeitsaufträge

Nach einer kurzen Pause führte STEFAN BORG (Swedish Defense University) alle zurück ins Zentrum der Kontroverse zwischen Liberalen und Postliberalen. Im ersten Teil seiner facettenreichen Ausführungen stand der Versuch, dem bis dahin nicht näher bestimmten Begriff des Postliberalismus durch die Identifikation von Gemeinsamkeiten etwas schärfere Konturen zu verleihen.[11] Unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung, so Borg, zeichneten sich postliberale Ansätze durch drei Merkmale aus: Erstens charakterisierten sie den Liberalismus als selbstzersetzend, da er gleichgültig gegenüber sozialen Beziehungen und misstrauisch gegenüber tradierten menschlichen Gemeinschaften sei und deren Zusammenhalt untergrabe. Zweitens richte sich die postliberale Kritik sowohl gegen Strukturmerkmale der liberalen Ordnung als auch gegen deren Protagonisten. Die liberalen Eliten würden als einflussreiche Klasse charakterisiert, die mit den von ihnen propagierten Werten in Wahrheit nur ihre partikularen Interessen verfolgten und Wissenschaft wie Medien zur Absicherung ihrer gesellschaftlichen Hegemonie instrumentalisierten. Drittens schließlich forderten die Postliberalen eine Abkehr vom Individualismus und eine Neuausrichtung der Politik am Ideal des Gemeinwohls. Dabei richte sich die Kritik der Postliberalen nicht nur gegen den Liberalismus als politische Theorie, sondern gegen den Liberalismus als sozio-politisches Projekt zur Ordnung von Gesellschaften. Nach dieser erhellenden Einordnung, die man sich zu einem früheren Zeitpunkt des Workshops gewünscht hätte, wartete Borg im zweiten Teil mit einer weiteren interessanten These auf, die er in Anlehnung an eine Formulierung von Jon Elster als „saure Traube“ bezeichnete. Die saure Traube, die Borg den Postliberalen zu schlucken gab, bestand in der Vermutung, dass deren Bemühungen um eine Wiederherstellung der vom Liberalismus aufgezehrten sozio-moralischen Ressourcen früherer Gesellschaften zum Scheitern verurteilt seien, da es sich bei diesen Ressourcen gewissermaßen um Beiprodukte des menschlichen Zusammenlebens handele, die nur zufällig entstehen, aber nicht intentional erzeugt werden können. Selbst wenn die postliberale Kritik zuträfe, wonach liberale Gesellschaften Ressourcen wie Solidarität, Reziprozität und Vertrauen zerstören, sei es daher ein aussichtsloses Unterfangen, diese mittels politischer Aktionspläne wiederbeleben zu wollen. Diese saure Traube dürfte vermutlich nicht nur Postliberalen übel aufstoßen.

Einen Vorschlag zur Sortierung des diskursiven Feldes präsentierte sodann Veith Selk, der zwischen einem theoretisch elaborierten akademischen Liberalismus und einem nicht reflektierten Alltagsliberalismus unterschied. Während Ersterer all jene Ansätze umfasse, die sich um eine konsistente Begründung liberaler, auf Individualismus, Demokratie und Kapitalismus gegründeter Gesellschaften bemühen, bezeichne Letzterer ein ungeordnetes Set verbreiteter Alltagsüberzeugungen, dass den meisten Bewohner:innen liberaler Staaten bewusst oder unbewusst zu eigen sei. Dazu gehörten etwa der Glaube, dass sich Leistung lohnt, Aufstieg möglich und die Rente sicher ist. Ausgehend von dieser Unterscheidung sah Selk das Besondere der gegenwärtigen Krise des Liberalismus darin, dass dieser nicht mehr nur auf der theoretischen Ebene herausgefordert werde, wie etwa in der Kommunitarismusdebatte der 1990er-Jahre, sondern auch auf der alltagsweltlichen Ebene zunehmend an Glaubwürdigkeit verliere. Sowohl der demokratische Kapitalismus als auch die ökologische Modernisierung gerieten an ihre Grenzen und drohten zu scheitern, nicht zuletzt, weil die Bürger:innen sich immer weniger als Autor:innen, geschweige denn als Souverän des politischen Handelns wahrnehmen könnten. Betrachte man nun die Vorschläge, mit denen die Vertreter:innen der politischen Theorie auf diese Herausforderung reagieren, so Selk, dann falle auf, dass rückwärtsgerichtete Positionen die Debatte dominieren. Ob progressive oder konservative Liberale, die eine Wiederbelebung früherer Positionen fordern, oder konservative Postliberale, die das Heil in einer Überwindung des Liberalismus und einer Rückkehr zu vorliberalen Traditionen erblicken – ihnen allen sei gemeinsam, dass sie einer Art „umgekehrter sozio-historischer Evolution“ das Wort reden. Ordne man die verschiedenen Positionen in einem Vierfelderschema, dann bleibe ein Feld leer, nämlich das eines progressiven Postliberalismus. Politiktheoretische Ansätze, welche die Lösung der gegenwärtigen Probleme nicht in der Vergangenheit suchen, sondern auf eine Beschleunigung als notwendig erkannter sozialer Entwicklungen setzen, seien nicht nur rar – Selk verwies in diesem Zusammenhang auf Veröffentlichungen von Helmut Willke, Philipp Staab und Ross Mittiga – ,[12] sondern aufgrund ihrer expertokratischen Tendenzen unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten auch wenig attraktiv. Diese Feststellung durfte offenbar nicht nur als Diagnose, sondern auch als Handlungsaufforderung an die versammelten Zunftkolleg:innen verstanden werden.

Einen weiteren Auftrag für die politikwissenschaftliche Forschung formulierte anschließend THOMAS BIEBRICHER (Universität Frankfurt am Main), der sich in seinem Vortrag zunächst dem Neoliberalismus und dessen erstaunlicher Zählebigkeit widmete. Obwohl spätestens seit der Finanzkrise 2008 immer wieder beschworen, sei dessen Ende bislang noch nicht eingetreten, was in der Literatur seither zu zahlreichen Erklärungsversuchen geführt habe. Trotz der nationalistischen Rhetorik, die sowohl Trumps Präsidentschaft als auch den Brexit begleitete, sei es in diesen Jahren zu keiner Abkehr von der nach dem Ende des Keynesianismus sowohl ideologisch als auch institutionell ins Werk gesetzten neoliberalen Ordnung der Weltwirtschaft gekommen. Das habe sich erst im Zuge der globalen Covid-Pandemie und in Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine geändert, die beide zu einer verstärkten Renationalisierung von Produktionsprozessen und zu einem Anwachsen protektionistischer Tendenzen im Welthandel geführt hätten. Auf den neuerlichen Primat der Politik vor der Wirtschaft habe bislang vor allem die politische Rechte mit einer veränderten ökonomischen und finanzpolitischen Agenda reagiert, die auf eine Anpassung an den nationalstaatlichen Rahmen und eine neomerkantilistische Handelspolitik abziele. Wie eine linke Reaktion auf diese Entwicklung aussehen könnte, sei derzeit noch eine offene Frage, auf die es auch eine politiktheoretische Antwort brauche.

Unbeabsichtigte Nebenfolgen und ein Déjà-vu

Das letzte Panel des Workshops bestritten mit INGOLFUR BLÜHDORN (Wirtschaftsuniversität Wien) und ANTON JÄGER (University College, Oxford) zwei Theoretiker, die unlängst ebenfalls mit eigenen Monografien hervorgetreten waren.[13] Anders als Deneen und Moyn, die Konfliktvermeidung betrieben und anstelle der erwarteten booktalks Vorträge zu eher randständigen Fragestellungen gehalten hatten, knüpften sowohl Blühdorn als auch Jäger inhaltlich an ihre jüngsten Veröffentlichungen an, kamen sich dabei aber nicht ins Gehege. Ersterer machte von Beginn an deutlich, dass ihn die Diskussion um die Zukunft des Liberalismus – immerhin das Thema des Workshops –, nur insofern interessiere, wie es mit der von ihm verfolgten Frage nach der gegenwärtigen Situation der demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften und den Ursachen für die aktuelle Krise des öko-emanzipatorischen Projekts einer auf Nachhaltigkeit und Autonomie ausgerichteten Politik zusammenhängt. Zur Beantwortung dieser Frage rekurrierte Blühdorn auf Ulrich Becks Konzept der Zweiten Moderne. So wie die Moderne nicht einfach geendet, sondern eine Zweite Moderne hervorgebracht habe, in der die postindustrielle Gesellschaft an die Stelle der Industriegesellschaft getreten sei, so erlebten wir jetzt den Übergang von der Zweiten in eine Dritte Moderne, in welcher die postindustrielle von einer postökologischen Gesellschaft abgelöst werde. Ähnlich wie der Liberalismus, der seine eigenen sozio-moralischen Ressourcen untergrabe, so Blühdorn, werde das während der Zweiten Moderne verfolgte öko-emanzipatorische Projekt dabei ein Opfer der eigenen Logik, insofern es unbeabsichtigte Nebenfolgen produziere, die alle politischen Anstrengungen in ihr Gegenteil verkehren: Statt zu mehr Nachhaltigkeit, Emanzipation und Demokratie führten die entsprechenden Bemühungen nur zu mehr Nichtnachhaltigkeit, Ungleichheit und Unregierbarkeit – und damit geradewegs hinein in eine postliberale Gesellschaft, die von einer radikalen Politisierung der bestehenden Ordnung und der mit ihr verbundenen Sicherheiten geprägt sein werde. Das erinnerte ein wenig an Udo Lindenbergs „Hinterm Horizont geht’s weiter“, nur klang es deutlich weniger tröstlich.

Wie Blühdorn zeigte sich auch Jäger um Anknüpfunkte zwischen dem Inhalt seines jüngsten Buches und dem Thema des Workshops bemüht; aber wie seinem Vorredner gelang das auch ihm mit nur mäßigem Erfolg. Unter Rekurs auf Alexis de Tocqueville und dessen gesellschaftstheoretische Beobachtungen lenkte Jäger die Aufmerksamkeit der Anwesenden zunächst auf die gesellschaftliche Situation im Frankreich der 1830er- und 1840er-Jahre, die er für besser geeignet hielt als spätere Epochen, um die gegenwärtige Krise des Liberalismus zu verstehen. In dieser Zeit, so Jäger, sei das öffentliche Leben in Frankreich geprägt gewesen von der Suche nach neuen intermediären Organisationen, die an die Stelle der im Zuge der Revolution vernichteten Körperschaften und Korporationen treten und den gesellschaftlichen Zusammenhalt gewährleisten könnten. Am Ende dieser Suche, die sich nicht nur auf Frankreich beschränkte habe und die man als erste Krise des Liberalismus bezeichnen könne, hätten sich Parteien, Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Institutionen als neue Träger des Sozialen etabliert. Diese seien lange Zeit äußerst stabil gewesen, bevor es in den 1980er- und 1990er-Jahren zu einem Rückgang der Mitgliederzahlen und der politischen Beteiligung und damit zu einer zweiten Krise des Liberalismus gekommen sei. Seither, so Jäger, sei das politische Geschehen in den liberalen Demokratien des Westens durch einen geringeren Organisationsgrad geprägt, was sich zwar positiv auf den Zulauf, aber negativ auf die Dauer und die Durchschlagskraft zivilgesellschaftlicher Akteure ausgewirkt habe. Damit formulierte Jäger eine zentrale These seines Buches Hyperpolitik, die freilich ihrerseits an Befunde aus Robert D. Putnams Studie Bowling Alone aus dem Jahr 2000 anknüpft.[14] Das war solide und legitim, aber inhaltlich doch etwas zu dünn, um Impulse für die anschließende Diskussion zu setzen. Nach zwei langen Tagen und einer kurzen Nacht waren sowohl die utopischen als auch die diskursiven Energien der Teilnehmenden sichtlich erschöpft. So endete der Workshop nicht mit einer kontroversen Abschlussrunde, sondern mit der Bekanntgabe von Informationen zu einem geplanten Tagungsband, auf dessen Erscheinen man gespannt sein darf.

Fazit: Von Beileidsbekundungen ist abzusehen

Ebenfalls gespannt sein darf man auf die zukünftigen Veranstaltungen und die weitere Entwicklung des PARI, das – einen entsprechenden Willen der Verantwortlichen vorausgesetzt – alle Bedingungen erfüllt, die notorisch von Kürzungen und aktuell auch von Schließungen betroffene sozialwissenschaftliche Forschungslandschaft zu bereichern. Das Workshop-Format, das man im Interesse einer etwas größeren Außenwirkung vielleicht in Zukunft wenigstens um einen öffentlichen Abendvortrag erweitern sollte, war gut gewählt, insofern es konzentrierte Diskussionen und einen intensiven Austausch zwischen den Teilnehmenden ermöglichte. Was Letztere betraf, hatte man allerdings bisweilen den Eindruck, dass sie es mit der liberalen Tugend der Toleranz übertrieben, so rücksichtsvoll wie sie über offene Widersprüche hinwegsahen und kontroverse Themen mieden. Hier wie auch bei der Klärung begrifflicher und theoretischer Fragen hätten die Debatten – Stichwort: gelenkte Demokratie – durchaus von etwas mehr Zuspitzung profitieren können. Dessen ungeachtet muss man sich um den Liberalismus als Gegenstand und Strang der politischen Theorie wie der Ideengeschichte derzeit offenbar keine Sorgen machen. Solange an seinem Sterbebett derart lebhaft diskutiert wird, kann sein letztes Stündlein noch nicht geschlagen haben. Was das für den Liberalismus als politische Kraft und gesellschaftliches Ordnungsprinzip bedeutet, bleibt abzuwarten.

Tagungsprogramm (PDF)

  1. Francis Fukuyama, The end of history and the last man, New York u.a. 1992 (dt.: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, übers. von Helmut Dierlamm, Ute Mihr und Karlheinz Dürr, München 1992).
  2. Vgl. u.a. Mark Lilla, The once and future liberal. After identity politics, New York 2017; Yascha Mounk, The people vs. democracy. Why our freedom is in danger and how to save it, Cambridge, MA 2018 (dt.: Der Zerfall der Demokratie. Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht, übers. von Bernhard Jendricke, München 2018); Francis Fukuyama, Liberalism and ist discontents, London 2022 (dt.: Der Liberalismus und seine Feinde, übers. von Karlheinz Dürr, Hamburg 2022); Patrick J. Deneen, Why liberalism failed, New Haven, CT / London 2018 (dt.: Warum der Liberalismus gescheitert ist, übers. von Britta Schröder, Salzburg/Wien 2019); ders., Regime change. Toward a postliberal future, New York 2023; Daniel Chandler, Free and equal. What would a fair society look like?, Dublin 2023; Samuel Moyn, Liberalism against itself. Cold War intellectuals and the making of our times, New Haven / London 2023 (dt.: Der Liberalismus gegen sich selbst. Intellektuelle im Kalten Krieg und die Entstehung der Gegenwart, übers. von Christine Pries, Berlin 2024); Robert Kagan, How antiliberalism is tearing America apart – again, New York 2024.
  3. Vgl. George H. Sabine, A history of political theory, New York 1937.
  4. Vgl. Riccardo Bavaj, Cold war liberalism in West Germany: Richard Löwenthal and „Western civilization“, in: History of European Ideas 49 (2023), 3, S. 607–624.
  5. Benjamin M. Studebaker, Legitimacy in liberal democracies, Edinburgh 2024 (im Erscheinen).
  6. Vgl. Samuel Moyn, Neoliberalism, not liberalism, has failed. A response to Patrick Deneen, in: Commonweal, 3.12.2018; Patrick J. Deneen, Liberalism against itself. Review essay, in: American Affairs 7 (2023), 4.
  7. Stephen Holmes, The anatomy of antiliberalism, Cambridge 1993 (dt.: Die Anatomie des Antiliberalismus, übers. von Anne Vonderstein, Hamburg 1995).
  8. Stephen Holmes, Radical mismatch, in: London Review of Books 49 (2024), 7.
  9. Jürgen Habermas, Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien, in: ders., Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine politische Schriften V, Frankfurt am Main 1985, S. 141–163.
  10. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt am Main 1992.
  11. Siehe dazu auch Stefan Borg, In search of the common good. The postliberal project Left and Right, in: European Journal of Social Theory 27 (2023), 1, S. 3–21.
  12. Helmut Willke, Klimakrise und Gesellschaftstheorie. Zu den Herausforderungen und Chancen globaler Umweltpolitik, Frankfurt am Main / New York 2023; Philipp Staab, Anpassung. Leitmotiv der nächsten Gesellschaft, Berlin 2022; Ross Mittiga, Climate change as political catastrophe, Oxford / New York 2024.
  13. Ingolfur Blühdorn, Unhaltbarkeit. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Berlin 2024; Anton Jäger, Hyperpolitik. Extreme Politisierung ohne politische Folgen, übers. von Daniela Janser, Thomas Zimmermann und Heinrich Geiselberger, Berlin 2023.
  14. Robert D. Putnam, Bowling alone. The collapse and revival of American community, New York u.a. 2000.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky.

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Karsten Malowitz

Karsten Malowitz, Politik- und Sozialwissenschaftler, arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteur der Zeitschrift Mittelweg 36 und des Internetportals Soziopolis.

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