Ulrich Bröckling, Jürgen Osterhammel, Jens Bisky | Interview |

Von Krieg und Frieden

Ein Gespräch mit Ulrich Bröckling und Jürgen Osterhammel über Aufrüstung, Ernstfall-Rhetorik und Versicherheitlichung

Herr Bröckling, Sie haben in einem Spiegel-Essay vor „geistiger Mobilmachung“ gewarnt, sich gegen die „Rhetorik des Ernstfalls“ gewandt.[1] Ist das nicht übertrieben? Worauf stützen Sie Ihre Diagnose?

Ulrich Bröckling: Meine Diagnose stützt sich auf die Lektüre von Tageszeitungen, auf Fernsehbeiträge, auf Gespräche im beruflichen wie im privaten Umfeld. Es fällt auf, dass die Aufrüstungsmaßnahmen, die nach dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 beschlossen und im Frühjahr dieses Jahres mit dem Regierungswechsel noch einmal forciert wurden, sieht man von wenigen Ausnahmen ab, als unausweichlich dargestellt werden. Kritische Anfragen werden mit dem Argument weggewischt, die Einwände seien naiv, man müsse sich der Tatsache stellen, dass ein imperialer Aggressor uns bedrohe, der nur die Sprache der Abschreckung verstehe. Die pazifistische Orientierung in der Bundesrepublik habe allenfalls für Schönwetterzeiten getaugt, die aber lägen nun hinter uns. Jetzt seien rasche und entschlossene Schritte erforderlich, um das Land kriegstauglich zu machen.

Sowohl 2022 als auch jetzt wurden die Mittel zur Aufrüstung im Hau-Ruck-Verfahren durchgepaukt. Besonders irritiert, ja empört hat mich ein FAZ-Artikel des Althistorikers Egon Flaig, der mit wilhelminisch anmutendem Pathos Opferbereitschaft einforderte.[2] Wenig später erschien, ebenfalls in der FAZ, ein Beitrag von Michael Jonas und Severin Pleyer mit dem Titel „Die Bombe verstehen lernen“.[3] Die Autoren versicherten darin, Atomkrieg bedeute heute nicht mehr das Ende der Welt, man könne miniaturisierte, taktische Atomwaffen nutzen, deren Zerstörungswirkung sich begrenzen ließe. Falls Russland ein NATO-Mitglied angreife, sei der Erst-Einsatz solcher Atomwaffen seitens des Westens unter Umständen unvermeidlich. Ich halte diese Aussage für eine Ungeheuerlichkeit. Generell folgten diese Appelle und Gedankenspiele der Logik des Sachzwangs, die immer auf eine Entpolitisierung hinausläuft, weil sie das Nachdenken über Alternativen tabuisiert.

Herr Osterhammel, teilen Sie die Diagnose? Beobachten wir im Moment so etwas wie eine Entpolitisierung mittels Ernstfall-Rhetorik?

Jürgen Osterhammel: Ich teile eine besorgte Verwunderung über die Geschwindigkeit und Selbstverständlichkeit, mit der die Stimmung umkippt, und über die geringen „Bauchschmerzen“, die manche Leute damit haben. Warum ist das so? Zwei Erklärungen scheinen mir möglich. Man könnte, erstens, sagen, dass unsere Harmoniebefindlichkeit, die Vorstellung, mit dem Ende des Kalten Krieges lägen die militärischen Fragen hinter uns, nicht richtig tief saß. Pazifistische und quasi-pazifistische Überzeugungen waren möglicherweise nur oberflächlich. Man könnte aber, zweitens, auch sagen: Die deutsche Öffentlichkeit ist lernfähig, sie kann sich schnell auf neue äußere Umstände einstellen. Ich neige eher zur zweiten Interpretation. Allerdings bin ich mir nicht sicher, dass wir uns in eine Nation begeisterter Sandkastenstrategen verwandeln. Dazu ist die militärische Lage in der Ukraine zu unübersichtlich und zu volatil. Frontverläufe auf Landkarten bilden nur einen Teil einer hochkomplexen Kriegführung ab. Dazu gehören die fortdauernden Luftangriffe auf zivile Ziele, Sabotageaktionen hinter den Kampflinien, eine sich offenbar überaus schnell entwickelnde Drohnentechnologie und Drohnentaktik usw. Die Wirkung dieser Faktoren können wir kaum einschätzen. Hinzu kommt, dass ein möglicher Angriff Russlands auf andere Länder als die Ukraine ganz unterschiedliche Formen annehmen könnte. Das Kriegsbild der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wonach ein Angriff durch Panzerheere und Bomberflotten ausgeführt wird, gilt nicht mehr. Deshalb müssen Politiker und Militärplaner mit vielen unterschiedlichen Szenarien rechnen. Für die weniger gut informierte Öffentlichkeit ist die Situation noch schwieriger zu durchschauen. Deshalb bleibt unklar, auf welche „Umstände“, wie ich das eben pauschal genannt habe, die Bevölkerung ihre grundsätzliche Lernbereitschaft richten soll.

„Militarisierung“ – und „Säbelrasseln“ wie im Untertitel des Spiegel-Artikels vom 25. April – sind allerdings starke Ausdrücke, letzteres an das Rosa-Luxemburg-reenactment der Parteichefin Wagenknecht erinnernd; Luxemburg hatte es mit echten Säbelrasslern zu tun. „Geistige Mobilmachung“ ruft die „Perfides-Albion“-Rhetorik deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg in Erinnerung. Als Historiker würde ich Assoziationen zu Militarisierung und Militarismus nicht ohne Weiteres für die Gegenwart gerechtfertigt sehen.

Warum?

Jürgen Osterhammel: Der historische Begriff des Militarismus impliziert mindestens dreierlei: erstens eine emotionale Begeisterung für das Militärische und Kriegerische, ob nun genuin oder manipulativ erzeugt; zweitens eine Politik, die auf vielen Feldern – nicht nur der Sicherheitspolitik – ihre Prioritäten hauptsächlich nach militärischen Kriterien ordnet; und drittens einen Willen zur Offensive. Der dritte Punkt ist vielleicht weniger offensichtlich als die beiden ersten Aspekte, aber nicht weniger wichtig. Sonst wäre nach diesem Kriterium bereits die Existenz der vollkommen defensiv ausgerichteten Bundeswehr seit ihrer Gründung 1955 „militaristisch“ gewesen. Die DDR-Propaganda hat das gerne unterstellt.

Die Rückkehr des Militärischen in den gesellschaftlichen Alltagsdiskurs sollte allerdings von den „operativen“ Fantasien von Strategen unterschieden werden. Der Artikel „Die Bombe verstehen lernen“ artikuliert irrwitzige Vorstellungen von „präzisen“ nuklearen Erstschlägen. Dieses Thema der „surgical strikes“ ist ein alter Hut. Es ergab sich in den Sechzigerjahren geradezu zwangsläufig aus der Ausdifferenzierung der nuklearen Waffenarsenale („flexible response“). Vorhandene Waffen werden von professionellen Strategen immer mit dem Fluchtpunkt ihrer Einsetzbarkeit diskutiert. Ich glaube allerdings nicht, dass irgendjemand an verantwortlicher Stelle in der deutschen Politik und in der Bundeswehr auch nur annähernd ähnliche Vorstellungen vertritt. Man sollte das also nicht allzu ernst nehmen. Selbst der kälteste aller Kalten Krieger, Ronald Reagan, hat nie von Erstschlägen fantasiert.

Noch eine Bemerkung zum Stichwort der Entpolitisierung: Nach meinem Eindruck wurden die verschiedenen Einschätzungen der Situation und dessen, was zu tun wäre, in der öffentlichen Diskussion wie auch durch die Parteien durchaus abgebildet – und das über das gesamte Spektrum von ganz links bis ganz rechts hinweg. Die denkbaren Positionen sind artikuliert worden. Wenn es Denkverbote oder Konformitätszwänge gegeben hat, dann eher unterschwellig und nicht so, dass wichtige Einschätzungen der Lage aus der Öffentlichkeit verdrängt worden wären.

Ulrich Bröckling: Von Redeverboten, gar Zensur oder der Unterstellung, alles sei orchestriert, habe ich nicht gesprochen. Aber es entstand ein Sog. Die politischen Kommentatoren waren sich einig, dass diejenigen, die den vermeintlich unabdingbaren Forderungen der Zeitenwende widersprechen oder skeptische Fragen stellen, schlichtweg den Schuss noch nicht gehört haben. Von da war es dann nicht mehr weit bis zum Vorwurf, bei den kritischen Stimmen handle es sich um Putinversteher von links oder rechts außen oder um weltfremde Friedensfreunde, jedenfalls nicht um ernst zu nehmende Positionen.

Ich würde die Frage gern noch einmal zuspitzen. Manche Töne in der Debatte sind mir zu schrill, aber ich verstehe die Dringlichkeit, auch einen gewissen Alarmismus. Seit 2014 weigern sich viele, die russische Aggression als Feindschaftserklärung anzunehmen. Auf die Annexion der Krim wurde mit ein wenig Protest reagiert, mit zahmen Sanktionen und dem Ausbau von Nord Stream II. Nach dem mörderischen Angriff am 24. Februar 2022, einer Attacke, die wohl als Blitzkrieg geplant war, sprach man in Deutschland erst einmal über 5000 Helme. Dass man angesichts dieser Realitätsverleugnung nervös werden kann, verstehe ich nur zu gut.

Jürgen Osterhammel: Man hatte sich bei uns an die Harmlosigkeit des Ostens gewöhnt. Auch die späte Sowjetunion war schon harmlos gewesen. Sie war im Grunde seit der Gründung der beiden deutschen Staaten, also während des gesamten „kalten“ Krieges, in Europa keine territorial revisionistische Macht mehr. Aggressiv trat sie außerhalb Europas auf, etwa in den Siebzigerjahren in Angola (mit Hilfe kubanischer Kampftruppen) und 1979 mit der Invasion Afghanistans. Dann kam Gorbatschow. Mit dem Ende des Kalten Krieges fing auf amerikanischer Seite – in der Öffentlichkeit noch mehr als in den Regierungen – ein unangenehmes Triumphgeheul an, das einiges zur Destabilisierung der Lage beigetragen hat. Dennoch schien der Osten entschärft. Die Feindschaftserklärungen aus dem, was einmal ein ganzes „Lager“ war, begannen mit der schockierenden, aber doch irgendwie weggesteckten Rede Putins auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007. Ein wichtiges, einschneidendes Datum war, dass 2015 Russland zum ersten Mal mit Atomwaffen drohte. Seit 2015 ist westlichen Ländern von hohen Repräsentanten Russlands, zunächst dem Botschafter in Schweden, der Ersteinsatz von Atomwaffen in Aussicht gestellt worden. Putin selbst hat diese Drohung seither mehrfach persönlich ausgestoßen. Dmitri Medwedew wiederholt sie in noch schärferem Ton. Das ist ein ungeheuerlicher Vorgang, eine Art von verbalem Kriegsverbrechen. Damit wird das „nukleare Tabu“ (Nina Tannenwald)[4] gebrochen, das im Kalten Krieg nach der Logik der Abschreckung gegolten hat. In den frühen Fünfzigerjahren, unter Dwight D. Eisenhower, wurden im amerikanischen Militär – erst in Korea, dann bei der Unterstützung der Franzosen in Vietnam – durchaus Gedanken vorgetragen, Atomwaffen einzusetzen. Das hat Eisenhower, der in (nicht nur) dieser Hinsicht ein großer Präsident war, unterbunden. Damit hatte er auf US-Seite das nukleare Tabu etabliert. Seitdem droht man nicht mehr mit dem Erstschlag. Dieses Tabu hat Russland in den vergangenen zehn Jahren immer wieder und mit wachsender Vehemenz verletzt. Die am schärfsten zugespitzte Form der Feindschaftserklärung ist also bereits ausgesprochen worden: ein Regelbruch ganz unabhängig davon, wie ernst man solche Drohungen zu nehmen bereit ist.

Ulrich Bröckling: Ich habe 2014 die Annexion der Krim nicht als Feindschaftserklärung an den Westen gedeutet, sondern als einen imperialen Akt gegen die Ukraine. Ich hielt den Konflikt für einen zwischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Dass diese damals weit verbreitete Einschätzung rückblickend falsch war, gebe ich sofort zu. Bei mir hat diese Korrektur der Wahrnehmung und des politischen Urteils sich erst nach dem 24. Februar 2022 durchgesetzt. Vermutlich rührt ein Teil des rhetorischen Übereifers in der öffentlichen Diskussion heute auch aus dem Gefühl, damals nicht genau genug hingesehen zu haben. Nun will man das umso schneller und radikaler wieder gut machen. Eine Art von Überkompensation. Selbstverständlich gibt es auch jene, die jetzt Gelegenheiten wittern, die vorher verstellt waren.

Jürgen Osterhammel: Das ist eine interessante Denkfigur. Es kann zu demütiger Selbstkorrektur, aber auch zu narzisstischer Kränkung führen, sich die Unzulänglichkeit der eigenen Urteilskraft einzugestehen. Das betrifft fast alle von uns. Selbst unter Osteuropafachleuten waren viele von der russischen Aggressivität gegenüber der Ukraine und Putins neoimperialer Rhetorik überrascht. Wie habe ich 2014 erlebt? Obwohl ich mich seit Jahrzehnten mit Imperialismus beschäftige, habe ich die Krim-Annexion damals nicht primär als Akt eines imperialen Expansionismus verstanden, sondern als nationalistische Kraftmeierei und kalkulierte Normstrapazierung. Und das in zweierlei Hinsicht: Die Annexion der Krim war zum einen ein flagranter Völkerrechtsbruch durch ein ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates, also der höchsten Völkerrechtsquelle. Zum anderen handelte es sich um den Bruch der Regel, mit der Ukraine in friedlicher Nachbarschaft zu leben. Die Unabhängigkeit der Ukraine ist 1990 einvernehmlich zwischen Moskau und Kyjiw ausgehandelt und durch einen Volksentscheid mit großer Mehrheit demokratisch gestützt worden. Diesen zweifach abgesicherten Konsens hat Putin vom Tisch gewischt, als er sich durch die innenpolitische Eigendynamik in der Ukraine („Farbenrevolution“) herausgefordert sah.

Auf welche historischen Ereignisse und Epochen sollte man schauen, wenn man überlegt, wie in Zeiten einer zerbrechenden Weltordnung vernünftig zu agieren wäre? Auf den Kalten Krieg? Den Zweiten Weltkrieg?

Ulrich Bröckling: Um den Krieg in der Ukraine zu verstehen, muss man zum Vergleich wohl verschiedene historische Zeiten heranziehen: Der Abnutzungskrieg an der Front im Osten mit seinen großen Verlusten und geringen Geländeverschiebungen lässt an die „Blutmühlen“ des Ersten Weltkriegs denken. Der anfängliche Versuch der russischen Truppen, die Ukraine im Handstreich zu nehmen, erinnerte wiederum in vielem an die deutschen Panzerkolonnen des Zweiten Weltkriegs. Zugleich ist der gegenwärtige Krieg ein großes Reallabor für neue Technologien, vor allem für den Einsatz von Drohnen und Künstlicher Intelligenz, mit weitreichenden Konsequenzen für Strategie und Taktik. Aus der Distanz können wir das wahrscheinlich nur zu einem kleinen Teil überblicken, aber der Charakter der Kriegführung verändert sich derzeit rasant. Wegen der Drohungen Russlands, Atomwaffen einzusetzen, sollte man auch an die Zeit des Kalten Krieges zurückdenken, der wie Jürgen Osterhammel festgestellt hat, in dieser seiner gefährlichsten Dimension ohnehin nie beendet wurde.[5] Im Aufrüstungsdiskurs spielt hierzulande der Rekurs auf Abschreckung eine zentrale Rolle. Wenn man in Deutschland für Kriegstüchtigkeit wirbt, geschieht dies nicht, weil man einen Krieg führen will, sondern um mit Krieg drohen zu können, um ihn am Ende nicht führen zu müssen. Um glaubhaft mit Krieg drohen zu können, muss man allerdings auch fähig und willens sein, ihn tatsächlich führen zu können. Das ist das Paradox der Abschreckung. Diese Logik aus der Zeit des Kalten Krieges wird heute wieder ins Spiel gebracht, und wer dem widerspricht, erhält zur Antwort: Es hat doch siebzig Jahre lang gut funktioniert.

Jürgen Osterhammel: Ulrich Bröckling hat militärhistorisch das Richtige gesagt. Das Einzigartige und Erschreckende am gegenwärtigen Krieg in der Ukraine ist, dass wir in diesem Krieg eine Art Palimpsest von Kriegsformen vor uns sehen: von archaischer Brutalität im Nahkontakt bis zu raffiniertester Cybertechnologie. Die Massaker in Butscha, Irpin und andernorts erinnern an den Dreißigjährigen Krieg, die Belagerung und Zerstörung von Mariupol an den „urbicide“ (ist dieses Wort schon im Deutschen angekommen?) des Zweiten Weltkriegs. All das ist gleichzeitig präsent und bleibt eine Möglichkeit. Butscha kann jederzeit wieder passieren. Wenn es zu einem Ende des Krieges kommt, das mehr ist als der vollständige Sieg einer Seite, müssen all diese Facetten des Krieges separat verhandelt werden. Das macht die Sache unendlich komplizierter als einen simplen „Deal“.

Dann bleibt zunächst und zuerst wenig mehr als die Logik der Abschreckung – wie im Kalten Krieg.

Ulrich Bröckling: Der Rekurs auf Abschreckung ist nicht nur moralisch fragwürdig; dass sie „funktioniert“ habe, überzeugt auch in der Sache nicht. Gewiss, es ist seit Hiroshima und Nagasaki nicht zu einem Einsatz von Atomwaffen gekommen, aber gern wird unterschlagen, dass es eine Reihe von Situationen gab, mit Fehlalarmen und Falschinformationen, in denen wir der Katastrophe nur äußerst knapp entkommen sind. Rekonstruiert man diese Fälle, hatten wir vor allem Glück. Es ist nicht zuletzt dem beherzten Einsatz einzelner Offiziere zu verdanken, die eigenmächtig die Vorschriften zur Aktivierung der nuklear bestückten Interkontinentalraketen missachtet haben, dass diese nicht gezündet wurden. Zugleich wurden in anderen Regionen der Welt konventionelle Kriege in großer Zahl geführt. Sie waren ungeheuer grausam und blutig. Über Vietnam ist mehr Bombenmasse abgeworfen worden als während des gesamten Zweiten Weltkriegs. Die Abschreckung wurde genutzt, um im Schatten der Bombe ungehindert konventionelle Kriege führen zu können; so wie es derzeit von russischer Seite wieder geschieht. Die Abschreckung war also von Beginn an keine Kriegsverhinderungs-, sondern mindestens ebenso sehr eine Kriegsermöglichungsstrategie. Da jeder Krieg die Gefahr einer entgrenzten Eskalation in sich trägt – schon in der Formulierung, ein Krieg werde geführt, steckt eine Kontrollillusion –, ist nicht gewiss, ob der Einsatz atomarer Waffen auch künftig verhindert werden kann. Dies gilt umso mehr, als inzwischen nicht mehr nur zwei, sondern weltweit mindestens neun Staaten über Atomwaffen verfügen und weitere sich bemühen, in ihren Besitz zu gelangen.

Jürgen Osterhammel: Abschreckung ist im Grunde Gleichgewichtspolitik, ein alter Mechanismus der Konfliktstillstellung. Im 18. Jahrhundert wurde dies zum ersten Mal theoretisiert. Im 19. Jahrhundert gehörte es zum Handwerkszeug aller Diplomatie, für die Erhaltung des Gleichgewichts zu sorgen. In dieser längeren Kontinuität steht auch das Gleichgewicht „des Schreckens“ im Kalten Krieg. Machtbalancen waren unterschiedlich stabil. Ein berühmter Fall im 19. Jahrhundert war die Ordnung des Wiener Kongresses von 1814/15. Hier wurde die balance of power in einem Fünf-Mächte-System durch normative Verstrebungen gestärkt, durch einen institutionalisierten Dauerkonsens unter den Großmächten. Diese Ordnung hielt etwa vier Jahrzehnte. Sie war keine „Weltordnung“, denn sie wurde bewusst auf Europa beschränkt. Im Unterschied zu vielen frühneuzeitlichen Friedensregelungen wurden Kolonialfragen ausgeklammert.

Demgegenüber war der Kalte Krieg eine – niemals an einem Konferenztisch ausgehandelte! – Welt-ordnung, allerdings, wie Ulrich Bröckling gerade gesagt hat, eine sehr löchrige. Sie stand ziemlich unvermittelt neben der verhandelten Weltordnung, die es tatsächlich seit 1945 gab: dem System der Vereinten Nationen. Bis heute haben wir diesen Dualismus der internationalen Verhältnisse, der seit Trump sogar immer schärfer wird: Macht gegen (Völker-) Recht. Die Schwäche der UN in der heutigen Lage ist eine Tragödie unter mehreren gleichzeitigen.

Was war neu an der nuklearen Abschreckung? Die atomare Bipolarität entstand zwischen dem Bombenabwurf auf Hiroshima 1945 und 1959, dem Jahr, in dem auf beide Seiten Interkontinentalraketen einsatzfähig wurden. Neu war die drohende Menschheitsvernichtung, auf die Denker wie Albert Einstein, Albert Schweitzer, Karl Jaspers, Raymond Aron oder Günther Anders früh reagierten. Neu war ebenso die Geschwindigkeit, mit der Militärapparate aufeinander reagieren mussten, innerhalb von Stunden, bald von Minuten. Man lernte das Wort „Vorwarnzeit“ und wiegte sich in der Illusion der Beherrschbarkeit des Unbeherrschbaren. Im „kalten“ militärischen Alltag sicherte weniger die große Diplomatie als das Mikromanagement technischer Fachleute ein Minimum von Stabilität in der Labilität.

Ulrich Bröckling: So plausibel es ist, die atomare Abschreckung in die Tradition der balance of power einzuordnen, man würde den Selbstrechtfertigungen dieser Politik aufsitzen, wenn man übersähe, dass es sich nicht um eine statische Pattsituation, sondern um ein hochdynamisches Wettrüsten handelte. Das ist in der Logik der Abschreckung so angelegt. Weder die USA noch die Sowjetunion gingen im Kalten Krieg jemals davon aus, dass das Gleichgewicht des Schreckens stabil sei. Beide Seiten waren vielmehr überzeugt, fortlaufend ihre Arsenale modernisieren und ausbauen zu müssen, um Lücken im Abschreckungssystem zu schließen. Die Nachrüstungszeit Anfang der 1980er-Jahre war in diesem Sinne eine besonders sensible Phase. Das Argument der Amerikaner lautete, die Stationierung der sowjetischen SS-20-Raketen würde die Vorwarnzeit so sehr verkürzen, dass ein Zweitschlag, die Reaktion auf einen Angriff, nicht mehr möglich sein würde. Damit würde das Gleichgewicht des Schreckens zu ihrem Nachteil außer Kraft gesetzt, weswegen die Nachrüstung unumgänglich sei.

Günther Anders hat die atomare Situation, die mit der Bombe gegebene Möglichkeit der Totalvernichtung menschlichen Lebens, „Endzeit“ genannt.[6] Es gibt kein Zurück hinter diesen Zustand, weil das Wissen über die Herstellung von Atomwaffen nicht mehr aus der Welt zu schaffen ist. Umso wichtiger wird Rüstungskontrolle, werden die Anstrengungen, die endzeitliche Situation zu entschärfen und so, mit Anders gesprochen, die Frist bis zum Zeitenende zu verlängern. Die gegenwärtige Gefahr sehe ich zum einen darin, dass die Rüstungskontrolle in den letzten Jahren nahezu aufgegeben wurde und auch keine starken sozialen Bewegungen in Sicht sind, die für die Wiederaufnahme von Rüstungskontrollverhandlungen eintreten. Zum anderen haben wir es aufgrund der Proliferation längst mit einer multipolaren Konstellation zu tun. Dabei sind Akteure im Spiel, denen man nicht unbedingt das unterstellen kann, was in den Theorien über Abschreckung durchweg unterstellt wird: Dass da rationale Akteure gegeneinanderstehen, auf deren interessengeleitete Kalküle man bauen kann. Akteure, die nicht ihre Selbstvernichtung in Kauf nehmen oder gar anstreben können. Ob das für Putins Russland, für Trumps USA, für Kim Jong-Uns Nordkorea oder für die anderen Atommächte und Möchte-gern-Atommächte so eindeutig vorausgesetzt werden kann, erscheint mehr als fraglich.

Jürgen Osterhammel: Man muss nur die neuere Literatur zur Kuba-Krise lesen, um zu sehen, dass die spieltheoretischen Formalisierungen, die damals schon einflussreich waren, nur sehr beschränkt gültig waren. Große Teile der Politikwissenschaft haben lange Zeit die Blockkonfrontation in dieser formalisierten Form zu erfassen versucht. Das ist nur sehr begrenzt sinnvoll.

Ulrich Bröckling: Welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser Beobachtung?

Jürgen Osterhammel: Wir müssen uns die Dialektik zwischen Vertrauen und Misstrauen vergegenwärtigen. Die Hochrüstung wurde teilweise aus ökonomischen Gründen betrieben, Interessen des „militärisch-industriellen Komplexes“ (Eisenhower) folgend, aber auch deswegen, weil man der anderen Seite Übles unterstellte und ihr zuvorkommen wollte. Als Präsident Reagan 1983 die SDI (Strategic Defence Initiative) initiierte, fürchtete die UdSSR nicht zu Unrecht, die USA würden sich hinter einer Raketenabwehrmauer verschanzen, und damit die sowjetische Zweitschlagskapazität zunichtemachen. Sie könnten also einigermaßen risikolos einen Erstschlag führen. Ob das politisch in Erwägung gezogen wurde, war unerheblich, entscheidend war das Misstrauen in die Absichten des Gegners. Die Bipolarität zwischen den USA und der Sowjetunion beziehungsweise Russland während der letzten sechs Jahrzehnte lässt sich als eine Geschichte der Verschränkung von Vertrauen und Misstrauen erzählen. Seit der Kubakrise von 1962 wurde mit roten Telefonen und partiellen Vertragswerken peu à peu Vertrauen aufgebaut. Man denke auch an die heute fast vergessene Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die wesentlich zu Aufweichungen im Ostblock und zur Stärkung dissidenter Kräfte dort geführt hat. Der KSZE-Prozess der 1970er-Jahre war eine gigantische vertrauensbildende Maßnahme von beiden Seiten. Diese Balancen wurden immer wieder durch neue Misstrauensschübe in Frage gestellt. Im Moment ist das Misstrauen riesig, einstweilen durch die bizarre Telefondiplomatie zwischen Trump und Putin kaum berührt. Wir befinden uns im Moment in einem Zustand der nuklearen Anarchie, der durch die Aufrüstung Chinas verschlimmert wird.

Wir erleben gegenwärtig auch den Zusammenbruch der ohnehin immer fragilen Weltrechtsordnung. Die Verbindlichkeit internationaler Organisationen und Verträge, Legitimität und Geltung des Völkerrechts erodieren rasant, ob es die UN sind oder der Internationale Strafgerichtshof. Nun gibt es Konflikte, die ohne Friedensschluss beruhigt werden konnten. Das klassische Beispiel wäre der Waffenstillstand am Ende des Korea-Krieges. Ist ein solcher Waffenstillstand ohne Friedensschluss das, was vernünftig zu erwarten wäre? Welche Szenarien für ein Ende des Krieges in der Ukraine sind wahrscheinlich?

Ulrich Bröckling: Vieles spricht für die Annahme, dass dieser Krieg noch lange andauern und erst enden wird, wenn eine Seite nicht mehr kann oder beide Seiten nicht mehr können. Dass es ein Ende durch Erschöpfung sein wird. Ob und wie das letztendlich vertraglich unterfüttert wird, ist dann wohl zweitranging. Zahlreiche Analysten aus unterschiedlichen politischen Richtungen halten dieses düstere Szenario für das wahrscheinlichste.

Jürgen Osterhammel: Friedensschlüsse sind selten. Und wer über Frieden redet, sollte möglichst genau sagen, was damit gemeint ist. Man kann zwischen „heißen“ und „kalten“ Friedenszuständen unterscheiden. „Heiß“ in dem Sinne, dass ein Frieden von einer großen Mehrheit der Beteiligten und Betroffenen enthusiastisch angenommen wird, wie etwa der Westfälische Frieden von 1648. Ein „kalter“ Friede dagegen ist ein sich am Rande der Tätlichkeiten gerade so entlangschleichender Zustand. Niemand tut etwas Böses, man kann sich aber auch nicht auf das Gute einigen. Friedensschlüsse sind übrigens sehr voraussetzungsreich. Waffenstillstände sind ad-hoc-Maßnahmen, die ebenso zurückgenommen werden können. Der Weg vom Waffenstillstand zum Frieden kann lang und kompliziert sein.

Die koreanische Lösung von 1953 war in die Strukturen des Kalten Krieges eingebunden. Der Korea-Krieg war ein Lehrbuch-Beispiel eines Stellvertreterkrieges. Die weltpolitische Lage bildete sich im Mikrokosmos der koreanischen Halbinsel ab. Teilungslösungen kannte man bereits aus Europa; die Grenze war kurz, übersichtlich und beherrschbar. Die politischen Systeme waren derart unterschiedlich, dass beide Seiten eine Vermischung fürchteten. Unter diesen Umständen ließ sich der Konflikt mit der primitiven Methode des „Einfrierens“ entpolitisieren. Beide Seiten lebten mit dieser Regelung und stellten sie nicht in Frage. Rein formal war dies, wie Sie in Ihrer Frage gesagt haben, ein Waffenstillstand und kein Frieden. Obwohl dieser Waffenstillstand mit keinerlei Friedenssentiment verbunden war, hatte er doch friedensäquivalente Wirkungen – bis das nordkoreanische Atomprogramm neue Instabilität schuf. Dass China im Koreakrieg ein wesentlicher Akteur war, habe ich übrigens gar nicht berücksichtigt. Das machte die Lage komplizierter.

Die Analogie zwischen Korea und der Ukraine ist nicht sehr eng. Putin und seine Leute haben die Kriegsziele Russlands mit großer Eindeutigkeit artikuliert und bis zum heutigen Tage immer wieder bekräftigt. Der Präsident hat sie in seiner Rede am 9. Mai 2025 erneut vor aller Welt zum Ausdruck gebracht. Solange Russland diese Ziele weiterverfolgt und es nicht zu einer symmetrischen Erschöpfung der Kriegsparteien kommt, ist ein einigermaßen gerechter Friede, ein Ausgleich der Interessen der Beteiligten kaum denkbar, und ein „Deal“, der den Krieg „beendet“, ist unwahrscheinlich. Dieter Langewiesche, einer der wichtigsten Historiker dieses Landes, schrieb 2023 in der FAZ: „Verhandlungsfrieden ohne militärische Entscheidung oder gesellschaftliche Erschöpfung oder ohne Drohung eines überlegenen Staates, militärisch einzugreifen, findet man in der neueren europäischen Geschichte nicht.“ [7] Es gibt für einen Verhandlungsfrieden, wie er in der gespaltenen deutschen Linken – Grüne plus Pistorius versus pazifistische Strömung in der SPD – einigen vorschwebt, keine Präzedenzfälle.

Wäre das nicht ein Argument, Aufrüstung zu legitimieren? So wie die Lage ist, führt kein Weg daran vorbei, die Ukraine zu unterstützen und Europa verteidigungsfähig, ja kriegstüchtig zu machen.

Ulrich Bröckling: Die Aufrüstung Deutschlands und eine stärkere militärische Unterstützung der Ukraine durch den Westen werden das Ende des Krieges nicht beschleunigen. Die Lieferung von Flugabwehrsystemen bringt den Menschen in Kyjiw, Odessa und Charkiv mehr Schutz gegen die russischen Drohnen- und Raketenangriffe, und mit mehr Waffen und Munition könnte die ukrainische Seite vermutlich die Front im Osten des Landes stabilisieren und vielleicht sogar von Russland besetztes Territorium zurückgewinnen. Doch ich sehe nicht, wie man auf diesem Wege Russland besiegen oder zum Eingeständnis der Niederlage zwingen könnte. Eher wird das Gewaltniveau noch steigen und damit auch die Zahl der Opfer.

Meine Kritik an den Diskussionen und politischen Entscheidungen hier in der Bundesrepublik beruht auf der Überzeugung, dass man sich mit dem massenhaften Töten nicht abfinden darf und die Gefahr einer weiteren Eskalation immer mitbedenken muss. Die Ukraine hat zweifellos das Recht, sich zu verteidigen, und offensichtlich ist ein Großteil der Bevölkerung weiterhin dazu bereit. Aber nicht nur haben Millionen Frauen, Kinder, Ältere im Westen Zuflucht gefunden, sondern es haben sich auch Hunderttausende Männer im dienstpflichtigen Alter abgesetzt, um sich der Einberufung zu entziehen. Und es melden sich auch andere Stimmen aus der Ukraine zu Wort, Leute, die sagen, so könne es nicht weitergehen, das Wichtigste sei, dass der Krieg bald aufhört. Wichtig scheint mir, in Russland jene Kräfte zu stärken, die sich in irgendeiner Form kritisch zum Krieg verhalten, so schwach und kaum sichtbar sie derzeit sind.

Alle, gleich ob aus Russland oder aus der Ukraine, die versuchen, sich dem Krieg zu entziehen, indem sie sich etwa als Militärdienstflüchtlinge oder Deserteure absetzen, verdienen rückhaltlose Unterstützung. Das ist die humanitäre Minimalforderung, auf die man sich hier und in anderen Ländern Westeuropas verständigen können sollte. Zu vielen der von diesem Krieg aufgeworfenen politischen Fragen kann man unterschiedlicher Meinung sein, in vielen Fragen bin ich, sind viele ratlos. An diesem Punkt nicht. Noch immer können russische Militärdienstflüchtige, die sich ins Ausland absetzen, bevor sie einberufen werden, nicht sicher sein, in Deutschland ein dauerhaftes, sicheres Aufenthaltsrecht zu erhalten. Das ist ein Skandal.

Eine Zwischenbemerkung: Zwei Leistungen der Ukraine hat man nach meinem Eindruck in der hiesigen Öffentlichkeit noch nicht ausreichend gewürdigt: Sie hat lange gezögert, das Territorium der Russländischen Föderation anzugreifen. Und in der Ukraine war das ein Verteidigungskrieg der Väter, nicht der Söhne. Nur wer 27 Jahre alt war, konnte zum Dienst an der Front verpflichtet werden. Inzwischen wurde die Altersgrenze leicht herabgesetzt. Dennoch scheint mir das etwas anderes als die in Russland herrschende Ökonomie des Todes, in der Familien gewinnen, wenn Söhne in den Krieg ziehen und dort sterben. Und diese Todesökonomie scheint trotz der hohen Verluste noch stabil.

Ulrich Bröckling: Das sehe ich genauso. Dennoch gilt auch hier, was auf alle autoritären Regime zutrifft: Sie sitzen lange Zeit ungeheuer stabil im Sattel, Gegenbewegungen haben kaum Chancen, sich zu artikulieren. Aber irgendwann kommt der Punkt, an dem solche Regime in atemberaubender Geschwindigkeit kollabieren. Daher kann jede Unterstützung oppositioneller Kräfte in Russland, so schwach sie derzeit sein mögen, eines Tages enorme Bedeutung gewinnen.

Jürgen Osterhammel: Putins Idole Peter der Große und Stalin verloren ihre Macht bis zum Ende nie. So mag Putin sich das auch vorstellen. Dennoch, das sehe ich auch so, können Kräfte, die noch nicht sichtbar sind, das System grundsätzlich zum Einsturz bringen. Wenn man Bücher wie Riccardo Nicolosis Untersuchung zu Putins „Kriegsrhetorik“[8] liest, fragt man sich allerdings, wie Putin sich jemals aus seiner bellizistischen Wahnwelt lösen könnte. Er hat sie sich übrigens erst konstruiert, nachdem er mit seinen frühen Versuchen, Russland zu modernisieren, gescheitert war. Putin, so lese ich die Literatur, war schon früh ein gewalttätiger Typ, aber nicht immer schon ein despotischer Imperialist und Kriegsverbrecher. Seine Selbstradikalisierung (in ihren verschiedenen Kontexten) wäre ein Thema, das man mit Russlandkundigen diskutieren sollte.

Ich würde gerne noch einmal zum Anfang unseres Gesprächs zurückgehen und fragen: Wogegen verteidigen wir uns? Wovor haben wir Angst? Worauf stellen wir uns ein? Das Szenario, dass große Panzerarmeen durch den Fulda Gap auf Frankfurt zurollen, ist anachronistisch geworden. Die Bundesregierung hat es offensichtlich erkannt: Wir sind mit ganz neuen Bedrohungen konfrontiert. Aus dem Sondervermögen für die Bundeswehr wird viel Geld in die Cyber-Abwehr gesteckt werden müssen. Russland attackiert und destabilisiert an vielen Orten und auf zahlreiche Weisen: von Kabelsabotage über Wahlkampfbeeinflussung bis zum Einsatz von Migration als Instrument des Krieges, wie dies von Belarus aus geschehen ist.

Ulrich Bröckling: Diese Beispiele hybrider Kriegführung zeigen, was der britische Sicherheitsexperte Mark Galeotti „the weaponisation of everything“[9] genannt hat. Die Ausweitung der Kampfzone bis tief in die zivile Infrastruktur führt dazu, dass sich in zeitgenössischen Kriegen Defensive und Offensive kaum mehr klar unterscheiden lassen. Wenn die Differenzen zwischen Angriff und Verteidigung ebenso wie zwischen ziviler und militärischer Sphäre verwischen, gewinnt die Frage, wie Deeskalation angestoßen werden kann, wie Kontrollmechanismen implementiert werden können, an Dringlichkeit.

Jürgen Osterhammel: Es gibt weiterhin technisch defensive Systeme, etwa Israels Iron Dome. So etwas fehlt den westeuropäischen Ländern, was ein Gefühl großer Verwundbarkeit schafft. Rein rüstungstechnisch, wenn ich das als Laie richtig verstehe, ist es nicht einfach oder sogar unmöglich, eine Erstschlags- von einer Zweitschlagskapazität eindeutig zu trennen. In beiden Fällen geht es um Offensivwaffen, also Raketen. Eine reine Defensivbewaffnung im atomaren Zeitalter wäre nur als (lückenloser) Raketenabfangschirm denkbar. Aber auch bei einem solchen „Schirm“ (ich finde das Wort nicht anstößig, man sieht ja, wie der Iron Dome in Israel funktioniert), wie Trump ihn für die USA als „Golden Dome“ angekündigt und mit viel Geld ausgestattet hat, verschränken sich Offensive und Defensive in einer komplizierten Weise, die letztlich durch die Sachlogik dieser diabolischen Waffensysteme diktiert wird. In der Bundesrepublik geht es darum, auf verschiedenen Ebenen, auch lokal und regional, Abwehrkompetenzen zu organisieren. Das hat mit Militarismus wenig zu tun. Militarismus würde bedeuten: die Köpfe auf Linie zu bringen, wie es heute in Russland geschieht. Auch scheint die zivilgesellschaftliche Abwehrbereitschaft in den baltischen Ländern oder in Finnland diese Gesellschaften nicht in den Militarismus zu treiben.

Ulrich Bröckling: Gewiss haben wir es nicht mit einem Militarismus im alten preußischen Sinne zu tun. Dennoch würde ich die Prozesse, die wir derzeit in der Bundesrepublik beobachten, als Militarisierung beschreiben. Die in den vergangenen siebzig Jahren erreichte Entmilitarisierung und Zivilisierung der Köpfe wie der Institutionen wird auf vielen Ebenen in Frage gestellt. Politische Entscheidungen werden nach der Maßgabe getroffen, ob sie uns verteidigungsfähiger, kriegstüchtiger machen. Das geschieht nicht unbedingt aus Hurrapatriotismus heraus, sondern eher in einer fatalistischen Grundstimmung der Alternativlosigkeit. Das nationale oder europäische „Wir“ muss aufrüsten, heißt es, weil andernfalls Erpressbarkeit, wenn nicht Schlimmeres, droht. Tertium non datur. Mit einer Rhetorik des Ernstfalls werden Maßnahmen durchgesetzt und Mittel bereitgestellt, die vor nicht allzu langer Zeit noch jenseits des Vorstellbaren lagen. Es ist die Lautstärke, das Überschießende dieser Reaktionen, das mich beunruhigt. Die Aufregung, die zum Beispiel das Manifest der SPD-Friedenskreise provoziert hat, die Heftigkeit, mit der die Autor:innen für ihr braves, im Kern staatstragendes Papier angefeindet wurden, das lässt wenig Gutes für mögliche Situationen erwarten, in denen besonnenes Handeln gefordert ist.

Sind wir nicht in einer außergewöhnlichen Situation?

Ulrich Bröckling: Die Sachzwanglogik der Versicherheitlichung verstellt den Raum des Politischen. Es müsste öffentlich gestritten werden darüber, was an der gegenwärtigen Lage außergewöhnlich ist und wie angemessene Reaktionen beschaffen sein sollten. Nach meinem Eindruck erschweren die Diskursdynamiken in der Bundesrepublik derzeit genau das. Stattdessen herrscht eine Stimmung des „Uns bleibt ja nichts anderes übrig ...“ Die Frage, ob Abschreckung tatsächlich mehr Sicherheit bringt, diese Frage wird gar nicht gestellt, weil die Antwort immer schon klar ist.

Jürgen Osterhammel: Was ist neu in der gegenwärtigen außergewöhnlichen Situation? Drei Punkte scheinen mir wichtig: Erstens ist der Kalte Krieg strukturell wieder präsent, die nukleare Bipolarität ist nicht verschwunden. In diesem Sinne hat der Kalte Krieg nie aufgehört. Auch ein weiteres Element des Kalten Krieges, die ideologische Verfeindung, ist zurückgekehrt, freilich mit anderer politischer Polarität. Der „rechte“ Putin findet im Ausland keineswegs nur „rechte“ Bewunderer. Eine aggressive russische Staatsideologie beschwört den Zivilisationskampf mit dem Westen, dessen Untergang die angeblich national gesonnenen Kräfte in Westeuropa gleichmütig entgegensehen. Dabei gerät, zweitens, der Westen ins Schwanken, da es zwischen Trump und Putin eine kulturkämpferische Affinität gibt. Sie sind sich ideologisch in vielen Punkten ähnlich. Der neue Tatbestand ist der faktische Glaubwürdigkeitskollaps der amerikanischen Sicherheitsgarantie für das, was immer noch und wieder als „freie Welt“ erkennbar ist. Der nukleare Schutz durch die USA ist keine Größe mehr, mit der europäische Sicherheitspolitik rechnen kann. Während Russland Westeuropa wohl kaum nuklear angreifen wird, sind punktuelle nukleare Erpressungen nicht mehr völlig undenkbar. Drittens stellt sich die Frage, was all das innenpolitisch bedeutet. Wo verlaufen die Dissenslinien und wie verhalten sie sich zu einer Parteienstruktur, die ebenfalls in Bewegung geraten ist? Wer treibt hier wen? Gibt es vielleicht einen neuen Primat der Außenpolitik?

Ulrich Bröckling: Auf keinen Fall will ich einer nationalegoistischen Position das Wort reden, die fordert, in der Bundesrepublik in aller Ruhe seinen Geschäften nachzugehen und sich um den Rest der Welt nicht weiter zu bekümmern. Diese Art des „Pazifismus“ ist zutiefst verabscheuungswürdig. Sich als Friedenspartei zu inszenieren und gleichzeitig lautstark deutsche Teilhabe an Atomwaffen und die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht zu fordern, wie die AfD es gerade vormacht, das erinnert an George Orwells Neusprech: „Krieg ist Frieden.“

Ich würde gern zwei weitere Punkte ergänzen. In der Friedensordnung des Wiener Kongresses wie im Kalten Krieg gab es Völker, die den Preis für die relative Ruhe gezahlt haben, etwa die Polen, die Letten, Litauer, Tschechen, Slowaken. Wenn die AfD oder das BSW erklären, der Krieg in der Ukraine sei nicht unser Krieg, dann höre ich darin als Erstes die Geringschätzung der kleineren, aber auch der großen Staaten in Mittel- und Osteuropa, als wolle man wieder über deren Köpfe hinweg sich mit Moskau verständigen. Ich teile gewiss Ulrich Bröcklings Abneigung gegen Heroismus und gegen rhetorischen Überschuss, zugleich wäre doch ein Weg zu suchen, wie das Töten aufhört, ohne das Hunderttausende unter Besatzungsherrschaft kommen. Wenn die Waffen an der Front schweigen, bedeutet das nicht unbedingt Frieden.

Ulrich Bröckling: In der Tat, wenn die Waffen schweigen, bedeutet das keineswegs schon Frieden. Doch das Töten würde, erst einmal jedenfalls, aufhören. Und die Chancen, in den nächsten Schritten dann zu Lösungen zu gelangen, die einem Frieden näherkommen, würden nicht geringer, im besten Fall würden sie steigen. Ein Einwand gegen diese meine Antwort liegt nahe: Unter einem Besatzungsregime würde das Töten ja gerade nicht aufhören. Krieg und Besatzungsherrschaft gegeneinander abzuwägen, ist insofern eine Wahl zwischen Pest und Cholera. Der Kampf gegen das eine ersetzt nicht den Kampf gegen das andere. Beide Formen des Widerstands richten sich gegen die Schrecken staatlich organisierter Gewalt. Diese gemeinsame Stoßrichtung kann auch den Blick dafür schärfen, dass sowohl der Krieg gegen Aggressoren wie der bewaffnete Kampf gegen Besatzer, je länger sie dauern, die Verteidiger beziehungsweise Kämpfer gegen Fremdherrschaft dazu nötigen, sich denen ähnlich zu machen, gegen die sie sich wehren. Ein Zustand absoluter Gewaltlosigkeit bleibt utopisch. Die Maxime kann deshalb nur lauten: Immer von der Gewalt abrücken, aber niemals um jeden Preis.

  1. Ulrich Bröckling, Der gefährliche Kurs der geistigen Mobilmachung, in: Spiegel-Online, 25.4.2025.
  2. Egon Flaig, Die Demokratie vor dem Ernstfall, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.3.2025.
  3. Michael Jonas, Severin Pleyer, Die Bombe verstehen lernen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.3.2025.
  4. Nina Tannenwald, The Nuclear Taboo. The United States and the Non-use of Nuclear Weapons Since 1945, Cambridge / UK 2007.
  5. Jürgen Osterhammel, Versuch, Putins Endspiel zu verstehen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.6.2024.
  6. Günther Anders, Endzeit und Zeitenende. Gedanken über die atomare Situation, München 1972.
  7. Dieter Langewiesche, Wege aus dem Krieg, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.7.2023.
  8. Riccardo Nicolosi, Putins Kriegsrhetorik, Konstanz 2025.
  9. Mark Galeotti, The Weaponisation of Everything. A Field Guide to the New Way of War, New Haven / London 2022.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky.

Kategorien: Geschichte Gewalt Militär Recht Sicherheit Staat / Nation

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Ulrich Bröckling

Dr. Ulrich Bröckling ist Professor für Kultursoziologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau.

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Jürgen Osterhammel

Jürgen Osterhammel war bis 2018 Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz. Seither ist er Distinguished Fellow am Freiburg Institute for Advanced Studies. Im Juli 2023 erschien der sechste und abschließende Band einer von ihm und Akira Iriye (Harvard) herausgegebenen Weltgeschichte: Daniel G. König (Hg.), Geteilte Welten 600–1350, München 2023.

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Jens Bisky

Dr. Jens Bisky ist Germanist und arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteur der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Internetportals Soziopolis. (Foto: Bernhardt Link /Farbtonwerk)

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