Jens Bisky | Zeitschriftenschau |

Aufgelesen

Die Zeitschriftenschau im Juli 2022

Wenn die Energiepreise beunruhigende Höhen erreichen, Währungen taumeln, Inflationsraten steigen, dann fällt es schwer, nicht an die 1970er-Jahre zu denken. Es gibt gute Gründe, historischen Analogien zu misstrauen, da sie Erkenntnis ebenso oft verstellen wie befördern. In diesem Fall aber ist der Blick in den Spiegel der Geschichte notwendig, prägen doch Krisen, Konflikte und Lösungen aus diesem Jahrzehnt – neben Erinnerungen an die Great Depression – die Konjunkturpolitik bis heute.

Ein Beleg dafür findet sich auf den Seiten der Deutschen Bundesbank. Unter dem Titel „Inflation – Lehren aus der Geschichte“ erinnert sie an die „weltweite Inflation der 70er und 80er Jahre“. Mit niedrigen Zinsen habe die US-Notenbank seit Mitte der 1960er-Jahre versucht, das durch die Kosten des Vietnamkriegs und „umfassende Sozialreformen“ gestiegene Haushaltsdefizit zu finanzieren, die Wirtschaft zu stimulieren: „Die dadurch ausgelöste hohe Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen, führte zu steigenden Löhnen und Verbraucherpreisen“. Infolge der Ölpreiskrisen von 1973/74 und 1979/80 kam es zu Preisschocks: „Aufgrund steigender Inflationserwartungen und hoher Lohnforderungen der Gewerkschaften führten die einzelnen Schocks zu einer anhaltenden Inflation. Darüber hinaus verfolgten die Regierungen der Industriestaaten zu dieser Zeit ehrgeizige Beschäftigungsziele, weshalb die Geldpolitik während der gesamten 70er Jahre insbesondere in den USA expansiv ausgerichtet blieb.“ Daher legt die Bundesbank folgende „Lehren aus der Geschichte“ nahe: Zentralbanken müssen unabhängig sein und dem „Sichern des Geldwerts“ verpflichtet, „um die staatliche Vereinnahmung der Geldpolitik zu verhindern“. In diesen knappen Sätzen werden die Ergebnisse von Verteilungskämpfen festgeschrieben, als seien sie für immer dem politischen Streit enthoben.

Ein anderes Bild von der Epoche zeichnet der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze, der behauptet: „The 1970s Weren’t What You Think“. Das Repertoire gegenwärtiger Wirtschaftspolitik, so Tooze im Sommerheft von Foreign Policy, sei die Quintessenz der traumatischen Erfahrungen der Siebzigerjahre. Deren Wiederkehr zu verhindern, sei zur idée fixe von Ökonom:innen und Politiker:innen geworden. In Wirklichkeit aber sei das Jahrzehnt gar nicht so schlecht gewesen, wie viele heute suggerieren. Die Dekade sei auch eine des sozialen Fortschritts gewesen, in der der Wohlfahrtsstaat ausgebaut wurde und die Gewerkschaften den letzten Höhepunkt ihrer Macht erlebten: „It was the last moment in which capitalist democracy was still checked on both sides of the Atlantic by a truly powerful countervailing force in the form of organized labor.“ (S. 45) Hinzu kam das Ölembargo der OPEC, das Tooze zufolge „a rebalancing of the world economy” bewirkte. Wirtschaftliche und politische Eliten des Westens gewannen daher den Eindruck, die Kontrolle zu verlieren, weil sie es nicht geschafft hatten, Gegenkräfte in den eigenen Ländern und weltweit zu bändigen. Angesichts hoher Inflation und hoher Arbeitslosigkeit wurde im Oktober 1979 der US-Leitzins auf 19 Prozent erhöht. Die Bundesbank hatte sich all die Jahre bemüht, die Inflation niedrig zu halten.

Tooze erinnert an den damals einflussreichen Ökonomen Rudiger Dornbusch, der dem, was er „democratic money“ nannte, ein Ende bereiten wollte. Die Fed behauptete, über den Interessen zu stehen und unbeeinflusst von der öffentlichen Meinung zu agieren. Tatsächlich, so Tooze, folgte die Politik der Zentralbanken den Interessen der Sparer, Unternehmenseigentümer und Investoren. Tooze spricht von einer Konterrevolution mit sehr gemischten Ergebnissen und zitiert noch einmal den Investor Warren Buffet: „There’s class warfare, all right, but it’s my class, the rich class, that’s making war, and we are winning.“

Der Einspruch gegen die konservative Deutung der Wirtschaftsgeschichte überzeugt, auch wenn Tooze nur wenig über die damals exorbitant hohe Arbeitslosigkeit sagt. Ob die von ihm geäußerte Hoffnung, die Inflation werde sich bald, schon 2023 beruhigen, trügt oder nicht, wird sich zeigen; richtig und wichtig ist die Beobachtung, dass in den 1970er-Jahren in Reaktion auf die steigenden Preise große Streiks organisiert und Forderungen nach einem Ausbau des Wohlfahrtsstaates laut wurden, während die Inflation gegenwärtig in erster Linie ein Thema der Medienberichterstattung ist. Und was sind die Lehren aus dieser Geschichte? Seit den Siebzigern haben die Arbeitnehmer:innen, haben die Gewerkschaften an Macht verloren, während der Spielraum für Investoren und Technokraten ungeheuer erweitert wurde. Diese Verschiebung sei ein Verlust für die Demokratie. Es sei an der Zeit, schließt Tooze, sich vom falschen Bild der Siebziger zu verabschieden und eine Demokratisierung der Wirtschaftspolitik zu fordern.

Alltagskritik der Arbeiter:innen

Der Kampf, in dem Warren Buffett sich auf der Siegerseite wähnt, ist ein anderer als der Klassenkampf vor hundert oder fünfzig Jahren. Folgt man Klaus Dörre, dann werden die Konflikte heute in einer „demobilisierten Klassengesellschaft“ ausgetragen.[1] Das Berliner Journal für Soziologie hat diese Diagnose aufgegriffen seine Juni-Ausgabe den „Klassen ohne Bewusstsein“ gewidmet. In ihrer programmatischen Einleitung fragen Linus Westheuser und Donatella della Porta, wie es um Haltungen, Weltbilder, Identitäten in einer Gesellschaft steht, in der Klassenzugehörigkeit nach wie vor ein wichtiger Ungleichheitsfaktor ist, während in der Politik wie in der Öffentlichkeit kaum über Klassen und Klassenkonflikte gesprochen wird.

Gewiss, seit Brexit, Trump und Gelbwesten findet die Thematik wieder mehr Aufmerksamkeit, werden häufiger ,Arbeiter‘ adressiert als ,die Unterschicht‘. Didier Eribons Rückkehr nach Reims und Hilbilly Elegy von J.D. Vance haben daran ihren Anteil. Und sicher ist es kein Zufall, dass sowohl Axel Honneth als auch Nancy Fraser, ungeachtet aller theoretischen Unterschiede, Fragen von Arbeit, Klasse und Kapitalismus ins Zentrum ihrer ausnehmend gut besuchten Benjamin-Lectures rückten.[2] Dennoch bleibt der ernüchternde Befund, dass die Sozialkategorie der „Arbeiterin“ beziehungsweise des „Arbeiters“ aus den im Bundestag gehaltenen Reden wie aus dem Vokabular der großen überregionalen deutschen Tages- und Wochenzeitungen weitgehend verschwunden ist. Nachlesen lässt sich das im erhellenden, von Linda Beck und Linus Westheuser verfassten Aufsatz „Verletzte Ansprüche. Zur Grammatik des politischen Bewusstseins von ArbeiterInnen“. Während die Arbeiterklasse als bête noire des Populismusdiskurses“ (S. 284) viel beschworen wurde, während ökonomische Ungleichheiten scheinbar unaufhaltsam zunahmen und die Öffentlichkeit sich neuerlich und vorerst tastend für Klassenfragen zu interessieren begann, wurden und werden Arbeiter:innen „politisch zunehmend marginalisiert“ (S. 285). Die Gründe dafür sind vielfältig. So sank zum einen der Anteil der Produktionsarbeiter:innen an der erwerbstätigen Bevölkerung, zum anderen ging mit dem Schwinden der Tarifbindung die Zahl der gewerkschaftlich Organisierten zurück. Hinzu kommt der oft beschriebene Wandel der Sozialdemokratie. Wie aber artikulieren Produktionsarbeiter:innen, symbolisch marginalisiert und politisch unterrepräsentiert, in dieser Republik ihre Unzufriedenheit? Ausgehend von dieser Frage bemühen sich Linda Beck und Linus Westheuser in ihrer Studie um eine „Kartierung der alltäglichen Gesellschaftskritik“ (S. 279). Dabei stützen sie sich auf qualitative Interviews, die 2019 mit dreißig Industriearbeiter:innen geführt wurden.

Alle der damals Befragten „kritisierten die gesellschaftlich ungleiche Verfügung über Einkommen und persönlichen Besitz“ (S. 291). Der Elektriker Marc war als Zeitarbeiter bei der Gala eines Großkonzerns beschäftigt: „Auf der linken Seite dieser Tür hast du Leute, die für 12, 13 Euro die Stunde arbeiten, du gehst raus aus der Tür und hast plötzlich Leute, die 12, 13 Tausend am Tag verdienen. Weißt du? Wo du dir denkst so: ,Alter! [ruft] Wer in Gottes Namen hat bestimmt, dass das, was die machen, so viel besser ist als das, was die machen?‘“ (S. 292) Zur Empörung über die soziale Polarisierung angesichts der Einkommensunterschiede kommen „Kritik am exzessiven Profitstreben“ (S. 293) wie „an der marktgetriebenen Steigerungslogik“ (S. 294).

Dem politischen System kommt dabei eine Doppelrolle zu: Es ist einerseits Adressat der Kritik und gilt andererseits als verantwortlich für die konstatierten Missstände. So klagen Befragte, dass der „kleine Mann“ weniger Einfluss habe als die vermögende Oberschicht, wobei die Politiker:innen ebenfalls der Oberschicht zugerechnet werden. Tiefbauer Robin sieht es so: „Ich glaube eine Merkel macht sich nicht die Hände dreckig, ein Gysi damals auch nicht. Und wie die alle heißen. Die, die grabbeln in der Erde rum, wenn sie vielleicht wirklich mal Bock haben auf eine Biomöhre in ihrem Schrebergarten. Ja? Aber ansonsten machen die sich nie im Leben die Hände dreckig. Weil es denen gut geht.“ (S. 302) Die Politik scheint der Alltagswirklichkeit enthoben, fern und nicht mehr zu erreichen: „Als Normalsterblicher hast du ja gar keine Ahnung von Politik. Du kommst ja auch nicht ran an Politik, ist ja alles hinter verschlossenen Türen. Ist ja nicht mehr so, dass das wie früher, dass man sich früher auf dem Platz hier getroffen hat und der Typ Kürbiskisten bekommen hat, damit er n bisschen höher steht. So läuft es ja nicht mehr und das vermiss ich, dass dein Stadtpolitiker mal zu dir kommt. [...] Und das bietet halt die AfD für viele Leute.“ (S. 304) Es fehle, so die Kritik, der Politik an Responsivität, der politische Raum scheint den Befragten verschlossen, daher wenden sie sich ab: „Ich halte nichts mehr von unserer Politik. [...] Ich lebe eigentlich lieber für mich.“ - „Für mich ist Politik so: ,Macht euer Ding doch alleine.‘“ (S. 305)

Neben der Kritik an Ungleichheiten und an der Abgehobenheit des politischen Systems und seiner Vertreter:innen sind insbesondere die Äußerungen zur „gestörten Hierarchie von Ansprüchen“ (S. 296) aufschlussreich. Dabei geht es zum einen um „unverdiente Ansprüche anderer“ (S. 297), seien diese nun Millionäre, Politiker:innen oder Flüchtlinge, zum anderen um die Abwertung manueller Arbeit. Es solle doch, so die Berliner Industrielackiererin Lisa, mehr für „unsere Rentner“ oder „unsere Obdachlosen“ getan werden: „Ne, da geben se lieber den Leuten... n Smartphone und weiß Gott was, die grad ma n Vierteljahr hier sind“ (ebd.). In manchen Äußerungen konstatieren Beck und Westheuser einen autoritären Unterton in der Deservingness-Kritik: „Manche Leute haben zwei Jobs und kommen grade über die Runde. Und ein Arbeitsloser, der hat gar kei Bock, weil er sagt ,Ah, für des Geld geh ich net arbeite.‘ Das ist der Hammer! Die Leute gehöret... ja... Wasser und Brot! Kei Kohle, da gibt’s gar kei... Frage ob ich arbeite gang oder net, der muss einfach, sonst gibts kei Kohle. Fertig.“ (Ebd.) Diese Kritik misst Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger:innen, Ausänder:innnen, Asylbewerber:innen an der ihnen zugeschriebenen Leistungswilligkeit, womit die Befragten wohl auch ihr Selbstbild als disziplinierte Arbeiter:innen stabilisieren. Der alte Vorwurf an den faulen Bauch, der nicht verschlemmen soll, was fleißige Hände erwarben, trifft auch jene, die auf Unterstützung angewiesen sind. „In der Deservingness-Kritik überlagert sich somit eine Gleichheitssemantik – alle müssen arbeiten – mit dem Gebrauch sozialer Gruppenunterscheidungen“ (S. 299) – und genau hier sehen Beck und Westheuser ein „Einfallstor für radikale Rechte“ (S. 309). Wie sich in der von den Interviewten artikulierten Kritik alte Forderungen der Arbeiterbewegung, bürgerliche Sozialmoral und aktuelle Deprivationserfahrungen mischen, wäre eine eigene Studie wert.

Beck und Westheuser heben in der Auswertung ihrer Befunde drei allgemeine Aspekte der Alltagskritik hervor: einen stark „materialistischen“ Einschlag, den „nicht-ideologischen, reaktiven Charakter“ und „die politische Offenheit des politischen Arbeiterbewusstseins (S. 306). Damit widersprechen sie der in der öffentlichen Diskussion eine Zeit lang dominanten Fixierung auf die Ängste rechter Arbeiter:innen. Seit drei Jahrzehnten liegt der Anteil der Produktionsarbeiter:innen, die sich selbst als rechts einstufen, konstant um 20 Prozent. 14,7 Prozent der ungelernten Arbeiter:innen, Facharbeiter:innen, Vorabreiter:innen gaben zur Bundestagswahl 2021 der AfD ihre Stimme (S. 282). Wer nur auf diese Gruppe schaut, ignoriert die Mehrheit der Arbeiter:innen, nimmt einen Teil für das Ganze und übersieht die sehr viel größere Zahl keineswegs eindeutig rechtsgerichteter Arbeiter:innen, die sich ebenfalls vom politischen System abwenden. Die Studie rekonstruiert wichtige Kriterien der moralischen Ökonomie der Arbeiter:innen, Kriterien, die weder besonders aufmüpfig noch unkonventionell wirken. Zentral sind etwa „Mindeststandards und moderierende Vermittlung von Eigentümer- und ArbeiterInneninteressen“, die „Bevorzugung legitimer Anspruchsberechtigter“, ein „intervenierender, interessenausgleichender Wachstumsstaat“ und Responsivität des politischen Betriebs (S. 306). Der überwiegende Teil der Kritik ziele „auf die Wiederherstellung einer einstmals intakten, heute aber aus dem Gleichgewicht geratenen normativen Ordnung“ (S. 308). Axel Honneth sah 1981 im „Unrechtsbewußtsein sozialer Gruppen … ein Potential an Gerechtigkeitserwartungen, Bedürfnisansprüchen und Glücksvorstellungen negativ aufbewahrt, das zwar aus sozialstrukturellen Gründen die Schwelle von Entwürfen einer gerechten Gesellschaft nicht erreicht, aber gleichwohl unausgeschöpfte Wege moralischen Fortschritts anzuzeigen vermag“ (hier zitiert auf S. 310). Hört man genau hin, dann scheint das heutige Bewusstsein der Arbeiter:innen ebenfalls widersprüchlich und fragmentiert, was viele verkennen, die sich zur Unterfütterung zeitdiagnostisch kesser Thesen auf dieses Bewusstsein berufen.

Unter widrigen Bedingungen

Wie es in der „demobilisierten Klassengesellschaft“ dennoch gelingen kann, Solidarität und ein geteiltes Bewusstsein der eigenen Lage zu organisieren, fragen Donatella della Porta, Riccardo Emilio Chesta und Lorenzo Cini in ihrer Studie „Mobilizing against the odds. Solidarity in action in the platform economy“. Darin beschäftigen sie sich mit Protesten von Lieferfahrer:innen bei Amazon und Kurieren von Essenslieferanten in vier italienischen Städten in den Jahren 2018/19. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht dabei die Frage, warum und worin sich die von den verschiedenen Gruppen im Laufe ihrer Mobilisierung entwickelten Identitäten wesentlich voneinander unterscheiden.

Kollektive Solidaritäts- und Protestaktionen in der Plattform-Ökonomie müssen mehrere Hindernisse überwinden. Die Autor:innen sprechen in diesem Zusammenhang von fünf Dimensionen der Fragmentierung, die einer Selbstorganisation im Wege stehen. Rechtlich gesehen ist die Lage der Beschäftigten in der kaum oder unzureichend regulierten Plattform-Ökonomie weit entfernt von einem Normalarbeitsverhältnis, besitzen sie doch nur wenige oder keine Arbeitnehmer:innenrechte. So sind die Amazon-Fahrer:innen bei Subunternehmen unter Vertrag, während die Essenskuriere selbständig sind und ihre privaten Fahrräder, Helme und Smartphones nutzen. Der Arbeitsalltag der Lieferanten wird bestimmt von Algorithmen, die den (Sub-)Unternehmen neue Formen der Standardisierung von Abläufen und der Kontrolle ermöglichen. Die Algorithmen sagen den Kurieren, wann und wo sie etwas abholen und liefern sollen, sie legen die Routen und Zeitpläne der Fahrer:innen fest. Zur rechtlichen und technologischen Fragmentierung tritt die organisatorische Zersplitterung: Die Beschäftigten agieren getrennt voneinander und sind gezwungen, miteinander zu konkurrieren. Außerdem arbeiten sie, das ist die vierte Dimension, räumlich voneinander getrennt. Und auch wenn sie ähnliche Positionen haben, entstammen sie oft ethnisch und sozial sehr verschiedenen Herkunftswelten, blicken sie auf unterschiedliche Ausbildungskarrieren zurück. So jobben Student:innen häufig als Teilzeitkuriere und verdienen sich etwas dazu, während Migrant:innen oft als Vollzeitkuriere arbeiten, um über die Runden zu kommen. Die Anstellung bei den Plattformen der Lieferdienste ist oft ihre Haupteinkommensquelle. Etwas anders sieht es bei den Amazon-Fahrer:innen aus, deren Gruppe laut der Studie ethnisch homogener ist.

Marxisten waren mit guten Gründen davon überzeugt, dass Arbeiter in den großen Fabriken des 19. und frühen 20. Jahrhunderts Eigenschaften wie Pünktlichkeit, Disziplin, Kooperation erlernen, die zu ihrer kollektiven Selbstorganisation nötig und der Herausbildung eines gemeinsamen Klassenbewusstseins förderlich sind. In der Plattform-Ökonomie gilt das nicht, die Arbeitsbedingungen fördern eher Abschottung, Konkurrenz, Vereinzelung. Wie diese Hindernisse im Fall der Proteste in Italien überwunden wurden, hing entscheidend von anderen Akteuren ab, die den Betroffenen Hilfe leisteten und Ressourcen mobilisierten. Das waren im Fall der Amazon-Fahrer:innen traditionelle Gewerkschaften der Logistikbranche, während die Essenskuriere mit Aktivist:innen linker sozialer Bewegungen zusammenarbeiteten. Das hatte Folgen für die Forderungen, die Art der Mobilisierung und das Selbstbild der Protestierenden. Die Amazon-Fahrer:innen konzentrierten sich vor allem auf ihre Arbeitsbedingungen, verstanden und organisierten sich als „specialized logistics workers“ (S. 236): „As a collective actor, Amazon delivery drivers displayed an identity framing based on their demand for recognition of their skills as qualified workers, on the importance of their work for the labor process, and on resisting the regime of algorithmic management.” (S. 232) Die Kuriere hingegen bezogen auch andere in ihre Proteste ein, nicht zuletzt ihre Kund:innen, und entwickelten das Selbstverständnis, nicht nur für eigene Interessen zu agieren, sondern für eine ganze Generation prekär Beschäftigter in der Plattform-Ökonomie, die unter ähnlich miserablen Bedingungen arbeiten. „Thus, while Amazon drivers developed a more sectoral and workplace-based identity framing, food delivery couriers proposed a ,hegemonic’ and political one” (S. 236). Ob daraus eines Tages so etwas wie ein Klassenbewusstsein der sehr verschiedenen Plattformarbeiter entstehen wird? Diese Frage könnten nur weitere Studien beantworten, schreiben Donatella della Porta, Riccardo Emilio Chesta und Lorenzo Cini, Studien über Arbeitsbedingungen, Formen der Mobilisierung und das Verständnis der Beschäftigten von ihrer Rolle in der Plattform-Ökonomie wie in der Gesellschaft insgesamt.

Und in Frankfurt?

Dort haben sich die Bedingungen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung verbessert. Es ist, wie dessen seit Juli 2021 amtierender Direktor Stephan Lessenich in seinem Beitrag für die aktuelle Ausgabe der Soziologie berichtet, zum ersten Mal in seiner Geschichte, durch eine, nämlich Lessenichs, „Kooperationsprofessur mit dem Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität verbunden“ (S. 117). Außerdem hat das zuständige Hessische Ministerium eine Aufstockung des Grundetats bewilligt, womit personalstrukturelle Verhältnisse geschaffen werden konnten, „wie man sie ansonsten wohl in öffentlichen oder halb-öffentlichen Forschungsinstituten für ,normal‘ halten würde: dass nämlich zumindest von den Mitgliedern einer kleinen Stammbelegschaft Wissenschaft zum Beruf gemacht werden kann, ohne permanent an den nächsten Kettenvertrag denken oder die Stellenanzeigen auf academics.de konsultieren zu müssen“ (S. 117).

Geschickt begegnet Lessenich den Phantasmen über die am mythenbesetzten IfS anzutreffende Wissenschaftspraxis, indem er sowohl das Zerrbild „eines selbstbezüglichen, weltenthobenen Philosophierens“ (S. 118) als auch den – schwerer wiegenden – Vorwurf, Kritische Theorie in Frankfurter Manier produziere Literatur von Ideologen für Ideologen und scheue praktisch-politische Konsequenzen, aufnimmt und programmatisch wendet. So wird aus dem „Grand Hotel Abgrund“, als das Georg Lukács das Institut karikiert hatte, die „Petite Auberge Aufbruch“. Künftige Forschung am Institut habe sich an der von Lukács diagnostizierten Konstellation „eines Lebens am Rande des kollektiv-individuell Erträglichen“ (S. 120) zu orientieren und zu bewähren. Kritische Gesellschaftstheorie distanziere sich von „Neutralitätsphantasien“ und positioniere sich „gegen all jene sozialwissenschaftlichen Positionen, von denen aus eine olympisch-ironische Pseudo-Kritik gesellschaftlicher Irrungen und Wirrungen betrieben wird“ (S. 121).

Forschungsprogrammatisch will Lessenich „den Kanon der Bezugstheorien“ (S. 122) deutlich erweitern und zukünftig stärker queerfeministische, posthumanistische, antirassistische und dekoloniale Perspektiven einbeziehen. Wirkungspraktisch will er den Dialog „mit außerakademischen Publika“ suchen, „der wechselseitig aufklärerisch wirkt“ (S. 122). Das Institut soll sich als „offenes Haus“ verstehen, sich als „Möglichkeits- und Ermöglichungsraum“ in der Senckenberganlage begreifen (S. 123). Wie so mancher Ironiker von Rang beherrscht Lessenich auch das idyllische Register: „Im besten Fall nehmen die öffentlichen Aktivitäten eines solchen Forums für praktisch werdende kritische Theorie Momente und Motive des epischen Theaters auf, regen sie zum Denken und Handeln an – auf allen Seiten. Dann berichten, so imaginiere ich die Situation, auf der Dachterrasse des Instituts an einem lauen Sommerabend, mit allmählich abebbender Verkehrsgeräuschuntermalung und aufflackernder Hochhausbeleuchtung als Kulisse, Forscher:innen des IfS aus Fallstudien und Feldaufenthalten, von Gruppendiskussionen und Theoriereflexionen – und nicht nur die interessiert Zuhörenden, Nachfragenden und Kommentierenden, sondern auch die Berichterstattenden selbst ,erinnern sich an ihre Kämpfe vom Vormittag‘“ (S. 123).

„Schöner forschen“ ist der Abschnitt überschrieben. Man kann ihn als Antwort auf eine in den 1990er-Jahren entstandene Karikatur Hans Traxlers lesen, die ein freundlicher Medienvertreter Lessenich zur Amtsübernahme schenkte. Sie zeigt Bärtige, die aus einem Käfig nur zögernd ins Offene karger Landschaft hinausfinden: „Kürzlich wurden im Hochtaunus mehrere wissenschaftliche Mitarbeiter des INSTITUT FÜR SOZIALFORSCHUNG ausgewildert, um sie an das Leben in der postmarxistischen Ära zu gewöhnen“. Ausgewildert, inzwischen mit der Landschaft vertraut und im Bewusstsein, dass die postmarxistische Ära für alle mehr Irritationen bereithielt als anfangs erwartet, so will man künftig in Frankfurt forschen. Das sind gute Aussichten.

  1. Klaus Dörre, Die demobilisierte Klassengesellschaft. Begriffe, Theorien, Analysen, Politik, Frankfurt am Main / New York 2022 (im Erscheinen).
  2. Siehe dazu auch die Veranstaltungsberichte „Schulen der Demokratie“ und „Eine Physiognomik kapitalistischer Arbeit“ auf Soziopolis.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Arbeit / Industrie Geld / Finanzen Gesellschaft Gruppen / Organisationen / Netzwerke Kapitalismus / Postkapitalismus Kritische Theorie Soziale Ungleichheit Wirtschaft

Jens Bisky

Dr. Jens Bisky ist Germanist und arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteur der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Internetportals Soziopolis. (Foto: Bernhardt Link /Farbtonwerk)

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