Dirk Baecker | Essay | 07.07.2025
Der Antisemitismus-Komplex
Drei Nachträge zur documenta fifteen
Auch der Eindruck einer Kunstausstellung hängt davon ab, wo man mit ihrem Besuch beginnt. Im Fall der documenta fifteen hatte man die Wahl, obwohl die Kuratoren, das Künstlerkollektiv ruangrupa aus Indonesien, einen kick-off im ruruHaus empfahlen. Die Ausstellungsorte waren in ganz Kassel verteilt und ich hatte eine Besprechung im Deutschlandfunk gehört, die einen Start in der St. Kunigundis Kirche empfahl, um, wenn ich mich recht erinnere, einen starken Kunsteindruck an den Anfang zu setzen. Wir begannen unseren Rundgang im Juli 2022 also in der St. Kunigundis Kirche und trafen dort auf die Arbeiten von Atis Rezistans und der Ghetto Biennale aus Port-au-Prince/Haiti. Geheimnis- und fantasievolle lebensgroße Figuren bevölkerten den Kirchenraum, auf den katholischen Marienkult antwortete so etwas wie der Voodoo-Kult Haitis und in der Sakristei lief ein Video, das die Künstler unter ihren Figuren im Kontext ihrer Biennale zeigte. Verdienterweise, aber das wussten wir zum Zeitpunkt des Besuches noch nicht, wurde die Ausstellung in der Kirche St. Kunigundis von der Sektion Deutschland der Internationalen Vereinigung der Kunstkritiker AICA als „Ausstellung des Jahres“ geehrt.[1]
Dieser erste Eindruck zusammen mit der Gestaltung des Hallenbads Ost durch das Künstlerkollektiv Taring Padi aus Indonesien trug uns an den beiden Tagen unseres Besuches über die documenta. Viele schwächere künstlerische Arbeiten ließen sich dadurch besser würdigen, und auch das Spiel mit Gemeinschaft und Kollektiv hatte von Anfang an den Charakter einer rituellen Inszenierung und der Beschwörung geheimnisvoller Symbole. Das Exotische hielt uns auf Abstand und ermöglichte uns so den Zugang. Wir fühlten uns eingeladen und wussten nicht, wozu.
Ich komme auf diesen Eindruck zurück, weil er es mir unmöglich machte, zu verstehen, warum die Aufregung in Teilen der Stadtbevölkerung und der Presse über die antisemitischen Motive auf der documenta den künstlerischen Eindruck der Ausstellung so weitgehend in den Hintergrund drängte. So wie uns ging es vielen Besuchern der documenta. Der Antisemitismus-Vorwurf war einer der überregionalen Presse, der Politik und von Teilen des Fachpublikums, die sich mit dem Kunstcharakter der Ausstellung nur noch marginal beschäftigten. Jüngere Veröffentlichungen zur documenta fifteen geben Gelegenheit, die Diskussion noch einmal aufzugreifen und durch einige Aspekte zu ergänzen. Drei Fragen stehen dabei für mich im Mittelpunkt: Warum gelang es nicht, die Diskussion mit einem Minimum an Ambivalenztoleranz zu führen, um der ja nie auszuschließenden Differenz der Perspektiven der Beteiligten zumindest eine Chance zu geben? Welche möglicherweise subkutane Rolle spielte das auf der documenta dokumentierte Kunstverständnis für den Versuch, sich auf diese Kunst gar nicht erst einzulassen? Und welche Rolle spielt ein auch in Deutschland noch virulenter Antisemitismus für dessen scheinbar so eindeutige Verfolgung?
Kein Spiel
Der Vorwurf des Antisemitismus soll damit nicht bestritten werden. Es gab starke antisemitische Symbole auf der documenta. Nicht nur jüdische Besucher und Beobachter waren über das Auftauchen dieser Symbole auf bundesdeutschem Boden und in einer der wichtigsten Ausstellungen Deutschlands mit internationaler Ausstrahlung zurecht erschrocken. In Frage steht jedoch der Umgang mit der Entdeckung dieser Symbole. Hätte man nicht miteinander reden können und müssen? Stattdessen wurde das Banner auf dem zentralen Platz der Ausstellung vor dem Fridericianum erst verhüllt und dann abgebaut. Zurecht war es unmöglich, sich auf die Kunstfreiheit zu berufen, wenn der Tatbestand der Volksverhetzung[2] zumindest nicht ausgeschlossen werden kann – auch wenn keine Staatsanwaltschaft bereit war, entsprechenden Anzeigen nachzugehen. Zu einer Diskussion über den Charakter und die Bedeutung dieser Symbole in den unterschiedlichen kulturellen Kontexten Indonesiens und Deutschlands und in den unterschiedlichen historischen Kontexten der Dekolonialisierung Indonesiens, der Judenvernichtung durch das Dritte Reich und der israelisch-palästinensischen Konflikte kam es nicht.
Der Ökonom und Soziologe Michael Hutter legt mit seinem Buch Anstößige Bilder. Gesellschaftskampfspiele um den documenta-fifteen-Skandal eine Rekonstruktion der verschiedenen Player vor, die für den Skandal verantwortlich sind – sei es, weil sie die „anstößigen“ Kunstwerke ausstellten, sei es, weil sie „Anstoß“ an diesen Kunstwerken nahmen.[3] Vor dem Hintergrund einer „Theorie ernster Gesellschaftsspiele“ wird zunächst gezeigt, wie der Territorialkonflikt zwischen Israel und Palästina, der Straßenkampf gegen die von westlichen Geheimdiensten unterstützte Suharto-Diktatur in Indonesien, der christliche Antijudaismus und der europäische Antisemitismus das Feld bereiteten, auf dem der Skandal zünden konnte. Im Anschluss daran analysiert Hutter, wie in den dominanten „Spielen“ (Hutter) der politischen Meinung, der nationalen und internationalen Kunst, der Auseinandersetzung um alternative Formen des Wirtschaftens und nicht zuletzt der Wissenschaft die gezeigten antisemitischen Symbole „Resonanzen“ erzeugten, deren Tragweite weniger aus dem durchaus eindeutigen Sinn der Symbole als vielmehr aus der Dynamik und den Regeln dieser Spiele zu erklären sind. Man liest mit Verwunderung, wie sehr der Selbstlauf dieser Diskurse und die Festlegungen einer Semantik der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung nur darauf warten, an der richtigen Stelle getriggert zu werden, um die längst vorprogrammierten Reaktionen abzuspulen.
Hutter orientiert sich an Ideen der Systemtheorie Niklas Luhmanns. Aber er spricht von „Spielen“, um den Selbstlauf bestimmter Diskurse betonen zu können. „Systeme“ setzen sich mit ihrer Umwelt auseinander und sind daher entsprechend unruhig, irritierbar und variabel. „Spiele“ hingegen folgen bestimmten Regeln, die sich bei anderer Gelegenheit bereits bewährt haben und deren Motive und Rechtfertigung den Spielern allenfalls undeutlich bewusst sind. Gemäß dem Verständnis ökonomischer Spiele, wie es Oskar Morgenstern und John von Neumann ausgearbeitet haben,[4] dominiert die Auseinandersetzung mit einem Gegner. Eine gesellschaftliche Funktion dieser Spiele soll damit nicht geleugnet werden, aber sie tritt in den Hintergrund. Immerhin ist es so möglich, sich jeder Wertung des Geschehens zu enthalten. Der Skandal wird dadurch erklärt, dass diese Spiele resonanzfähig auf der Suche nach Nachschub, nach neuen, das Spiel bestätigenden Spielzügen sind und einander ebenso unverständig wie konfliktreich gegenüberstehen. Hutter versucht mit diesem Buch das Verständnis der Spieler für das eigene, sie festlegende Spiel und für die Spiele der anderen, in denen diese ebenfalls an ihre oft kaum bewussten Regeln gebunden sind, zu fördern, wohl in der Erwartung, dass dadurch neue, differenziertere, ambiguitätstolerantere Spielzüge eine größere Chance erhalten.
Es lohnt sich, Hutters Buch parallel zu den Aufsätzen zu lesen, die Heinz Bude und Meron Mendel in dem Sammelband Kunst im Streit. Antisemitismus und postkoloniale Debatte auf der documenta fifteen zusammengestellt haben.[5] Hier finden sich ausführliche Beschreibungen der überforderten guides beziehungsweise sobat-sobat, „Freund:innen“ der Begleitung über die Ausstellung (Marius Kemper), des durchaus begeisterten Publikums (Anna Eckert), der Reaktionen aus der Stadtgesellschaft (Michael Flörchinger, Maria Neumann), der Irritationen unter den teilnehmenden Künstler:innen (Verena Hucke) und der „gestressten“ documenta gGmbH (Tim Seidenschnur / Leonie Buschkamp)[6] neben Aufsätzen, die den Konflikten zwischen Rassismuskritik und Antisemitismuskritik nachgehen (Floris Biskamp), die Zeichen des Antisemitismus deuten (Uffa Jensen, Christoph Gollasch / Marlena Kilinc / Meron Mendel), die Ideologie der Gemeinschaft kritisieren (Marius Kemper), den Zusammenhang zwischen Dekolonialismus und Antisemitismus in Indonesien erläutern (Timo Duile), die Strategien eines israelbezogenen Antisemitismus diskutieren (Thomas Haury / Klaus Holz) und nicht zuletzt nach einem brauchbaren Verständnis von Politik und Ästhetik fragen (Mi You). Es entsteht der Eindruck eines restlos verminten Feldes, voller „irrer Zeichen“ (Heinz Bude), die den einen unterlaufen und die anderen zutiefst verstören, und eines gordischen Knotens, geschnürt aus dem Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung, der verzweifelten Suche nach greifbaren Feinden und ideologisch unvermeidbaren Missverständnissen, der durch nichts aufzulösen, sondern nur behutsam beiseitezulegen ist.
Oder doch?
Weder Hutter noch die Beiträge in Budes und Mendels Sammelband beschäftigen sich ausführlicher mit der Kunst der Kunstausstellung. Das ist einerseits verständlich, folgt es doch einem aktuellen Kunstverständnis, das sich eher politisch und gesellschaftlich als ästhetisch positioniert, und andererseits bedauerlich, weil das Kunstverständnis der documenta fifteen darauf reduziert wird, dem Protagonisten eines „westlichen“ Kunstverständnisses, dem individuellen Genie, die dezidiert schwachen Kollektive gegenüberzustellen, die im „Globalen Süden“ einem eher aktivistischen Kunstverständnis folgen. Damit ist jedoch nichts gewonnen. Fast hat man den Eindruck, dass die Provokation der antisemitischen Symbole für einige Beobachter zum willkommenen Anlass wird, die Provokation einer „kollektiven“ Kunst gar nicht erst zu diskutieren. Dass es an der Wahrnehmung dieser zweiten und möglicherweise „eigentlichen“ Provokation nicht fehlte, wurde in der Debatte jedoch immer wieder deutlich.[7]
Meines Erachtens lohnt es sich, der Idee künstlerischer Kollektive, die auch im „Westen“ spätestens seit Futurismus und Dadaismus nicht unbekannt ist, noch einmal etwas genauer nachzugehen und vor diesem Hintergrund die documenta fifteen als Intervention in das „westliche“ Kunstverständnis, das dem einsamen Genie ein still genießendes Publikum gegenüberstellt, zu verstehen. Die kuratorische Arbeit von ruangrupa einschließlich ihrer Delegation an weitere Künstlerkollektive erschließt sich möglicherweise als ein „Spiel“ im Sinne Gregory Batesons.[8] Ein Spiel im Sinne Batesons erschöpft sich nicht in definierten Spielzügen (engl. game), sondern besteht darin, die Umstände, den Rahmen des eigenen Erlebens und Handelns im Spiel zugänglich und reflektierbar zu machen (engl. play). Man tut nicht, was man immer schon getan hat, sondern man gefährdet und erprobt das eigene Handeln im Sinne einer Überprüfung der Bedingungen seiner Fortsetzung oder auch seiner Beendigung und des Wechsels in ein anderes Spiel. Dieser Begriff, der bei Hutter nur anklingt, beschreibt das Mitlaufen einer Meta-Kommunikation in jeder Kommunikation, die Reflexion und damit, streng nach Hegel, Negativität verfügbar macht.
Vor dem Hintergrund dieses Begriffs ist die von ruangrupa initiierte kollektive Kunst, die Kunst eines Künstlerkollektivs auf der einen Seite und in Zusammenarbeit mit einem tendenziell kollektivierbaren (mit den Künstler:innen „abhängenden“) Publikum auf der anderen Seite, ein Spiel mit ästhetischer Kommunikation. Ästhetische Kommunikation ist eine Kommunikation, die die Wahrnehmungsfähigkeit von Künstler:innen und Publikum anspricht und ausdrückt,[9] dabei jedoch die Beziehung zwischen Künstler:innen, Kunstwerken (oder -prozessen) und Publikum nicht außer Acht lässt. Ästhetische Kommunikation ist somit zugleich ästhetisch und sozial konnotiert und insofern „ästhetisch“, als es ein Sehen, Hören und Fühlen anspricht, vielleicht sogar thematisiert, das in Bewusstsein und Körper der beteiligten Menschen verschlossen und unzugänglich vorausgesetzt wird. Ästhetische Kommunikation ist die Kommunikation der Differenz von Wahrnehmung, einem organischen, neurophysiologischen und mentalen Vorgang, und Kommunikation, einem sozialen Vorgang, und insofern paradox. Sie ist selbst bereits ein Spiel, indem die unverfügbare Wahrnehmung zum Gegenstand einer kommunikativen Verfügung gemacht wird. Der Rahmen einer sozialen Beziehung, nämlich die Teilnahme wahrnehmungsfähiger Menschen, wird zum Anlass und Gegenstand der Beziehung.
Ich kann das hier nur andeuten, weil man zu diesem Zweck noch einmal über die längst abgebaute Ausstellung (18. Juni bis 25. September 2022) laufen müsste, aber meine These ist, dass sich an vielen der gezeigten Objekte und inszenierten Räume, angefangen mit der Ghetto Biennale von Atis Rezistans und den Bannern von Taring Padi, zeigen ließe, dass sie ein Spiel mit der Wahrnehmung eines entschieden als ungebunden akzeptierten, ja gesetzten Publikums sind. Das Publikum wird durch Objekte und Räume fasziniert; es erlebt sein eigenes Erleben; es erhandelt, durch zunächst stilles Schlendern, sein eigenes Nicht-Handeln; und es wird so zum Teil nicht nur der ästhetischen Kommunikation, sondern auch der gezeigten Objekte, Räume und Prozesse. Der künstlerische Zusammenhang, der zwingend die Autonomie der Wahrnehmung setzt – alles andere wäre Unterhaltung, Werbung, Protest –, wird zum Katalysator eines kollektiven Erlebnisses, in dem das „Kollektiv“ über eine lose Kopplung, eine lockere Verbindung, also eine Art Selbstwiderlegung nie hinauskommt.[10] Selbst wenn man sich angesichts des gezeigten Unrechts, der unerträglichen Verhältnisse empört, wird man „ästhetisch“ auf Abstand gehalten. Man wird individualisiert. Man wird, „westlich“ gesprochen, zum Mitspieler einer Ausdifferenzierung des Kunstsystems innerhalb der Gesellschaft.
Der Komplex
Warum lohnt es sich, das zu betonen? Und was hat das mit der Antisemitismus-Debatte über die documenta fifteen zu tun? Ilka Quindeau hat sich in ihrem Buch Psychoanalyse und Antisemitismus, hervorgegangen aus den Adorno-Vorlesungen 2023, auch mit der Aufregung über die documenta fifteen beschäftigt.[11] Die documenta fifteen ist für sie neben der Preisverleihung zum Abschluss der Berlinale 2024 und vielen Vignetten aus der Praxis ihrer psychoanalytischen Arbeit ein Beleg für einen nach wie vor virulenten Antisemitismus nicht etwa unter Antisemiten (das versteht sich von selbst), sondern unter Anti-Antisemiten. Und das ist erklärungsbedürftig.
Ilka Quindeau holt in ihrem Buch weit aus, um an den Versuch der frühen Kritischen Theorie anzuschließen, Psychoanalyse und Gesellschaftstheorie zusammenzuschließen. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno waren daran interessiert, ihre These zu überprüfen, dass Faschismus, Nationalsozialismus und Antisemitismus auf die Charakterstruktur einer „autoritären Persönlichkeit“ zurückgeführt werden können. Quindeau plädiert für einen eher soziologischen als psychologischen Zugang zum ödipalen Komplex, indem sie nicht die Personen, sondern die Beziehungen zwischen ihnen zum Ausgangspunkt einer Erklärung der Konfliktstruktur einer Psyche macht. Mit Jean Laplanche rückt sie die „Beziehung“ zum Anderen und mit Alfred Lorenzer nicht die Person, sondern die „Szene“ dieser Beziehung in den Fokus der Analyse und gewinnt so den Raum, in dem „Gesellschaft“ stattfinden kann. „Autorität“ wird zu einem sozialen Sachverhalt, der zwar zum „Charakter“ werden kann, jedoch primär darüber etwas aussagt, wie eine Psyche die Konflikte zwischen Begehren und Anpassung durch einen Rückgriff auf gesellschaftliche Angebote regelt.
Für die Erklärung des latent-virulenten Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft ist nun ausschlaggebend, dass entgegen Adornos Vermutung (oder soll man sagen: Hoffnung?) das deutsche Gemüt nach 1945 angesichts des Menschheitsverbrechens der Judenvernichtung nicht etwa von einem Schuldkomplex heimgesucht wurde, sondern vom Verlust der Gefühlsbindung an einen Nationalsozialismus, der ein Gemeinschaftsversprechen gegeben und dazu auch das passende Feindbild des „Juden“ geliefert hatte. Quindeau baut dieses Argument, das ich hier nur verkürzt darstellen kann, mit aller Umsicht auf, indem sie den Antisemitismus einerseits mit alten Motiven des christlichen Judenhasses verknüpft, ihn aber andererseits nicht negativ auf Juden, sondern positiv auf diese Gefühlsbindung bezieht. Deswegen kann sie sagen, dass wir potenziell alle Antisemiten sind, „wir“ Deutschen, aber darüber hinaus auch jeder, der einer Gemeinschaftsideologie anhängt, die angesichts erwartbarer Enttäuschungen schon weiß, wer für diese Enttäuschung verantwortlich zu machen ist: der Fremde, der Händler, der Intellektuelle, der Kosmopolit – und dessen dunkel verführerische Frau.
Ob bewusst oder unbewusst – im Unbewussten rührt sich nicht der Trieb, sondern die Gesellschaft – kollidierte die documenta fifteen, so die These von Quindeau, mit dieser noch lange nicht aufgelösten Gefühlsbindung an den Nationalsozialismus, einer Gefühlsbindung, die dank des Schweigens der Kriegsgeneration und der den Kern der Schuld verfehlenden Aufarbeitung der Verbrechen des Nationalsozialismus durch die Nachkriegsgenerationen (eher eine Auseinandersetzung mit den eigenen Vätern und Müttern und keine Konfrontation mit dem unfassbaren Verbrechen) bis in die Gegenwart „transmittiert“ wird.[12] Psychoanalytische Belege für diese intergenerationelle Transmission gibt es genug, aber auch sie haben wir uns in Deutschland nicht genug bewusst gemacht.
Die documenta fifteen kollidierte mit diesem Gemeinschaftsgefühl, indem sie auf dem Banner von Taring Padi „den Juden“ zeigte, dessen SS-Runen auf dem Helm ihn zugleich als „Nazi“ markieren, der in Palästina vom Opfer zum Täter wird. Dieses „irre Zeichen“ (Bude) überblendet die Störung der Gemeinschaft durch den Terror der Gemeinschaft. Aber es tut dies im Rahmen der Kunst. Dieser Rahmen liefert keine Rechtfertigung, sondern genau das: einen Rahmen. Worin auch immer der ästhetische Wert der Kunst besteht, ihr gesellschaftlicher Wert besteht in der Rahmung von etwas als Gegenstand einer Betrachtung, die zwischen den Gegenstand und ihre Betrachtung eine Differenz setzt. Das Individuum wird als Individuum angesprochen. Es muss eine Stellung beziehen, indem es sich stellt.
Nur ein Bruchteil der auf der documenta fifteen ausgestellten Kunstwerke geriet in den Verdacht antisemitischer Symbole oder Programmatik. Aber das hätte genügen können, um der doppelten Rahmung dieser Symbolik durch die Kunst und das Kollektiv nachzugehen. Eine Kunstausstellung ist kein Universitätsseminar; und das Feuilleton ist es noch weniger. Und sowieso ist man hinterher immer klüger. Aber eine kluge Diskussion über das Banner (vielleicht sogar: das verhängte Banner) anstelle seines Abbaus hätte die ästhetische Distanz nutzen können, um das Erschrecken der Juden über das Auftauchen des Symbols auf deutschem Boden, die unterschiedlichen kulturellen Kontexte der Verwendung dieser Symbole und die „Wahrheit“ des Antisemitismus, sein verlorenes Versprechen von Gemeinschaft, zu thematisieren und untereinander in Beziehung zu setzen. Die Empörung über den Antisemitismus auf der documenta fifteen ist ex negativo selbst antisemitisch. Sie richtet sich gegen den Störenfried einer Gemeinschaft, die es sich im Bewusstsein der Schuld der Väter und Mütter zu bequem eingerichtet hat. Die documenta fifteen hätte mit ihrem romantisch, weil künstlerisch gebrochenen Bekenntnis zum Kollektiv Gelegenheit geben können, dem Irrtum und damit auch der Wahrheit aller Kollektive auf die Spur zu kommen und dies als Teil der deutschen Geschichte zu verstehen.
Michael Hutter zeigt auf, wie die documenta fifteen Diskurse in Bewegung setzte, die auf ihre Anlässe nur warten. Ihr Automatismus gehört selbst zum Verblendungszusammenhang dieser Gesellschaft, von dem Adorno sprach. Aber ruangrupa ist einen Schritt weiter. Sie machen die Gemeinschaft, das Kollektiv selbst zum ästhetisch erfahrbaren Gegenstand. Der beste Beleg dafür, denke ich, war das zugleich begeisterte und irritierte, im doppelten Sinne des Wortes „charmierte“ Publikum in Kassel. Es gibt einen Zauber, dem nicht zu trauen ist. Die Arbeit der von ruangrupa eingeladenen Künstlerkollektive versteht sich antikapitalistisch, antiimperialistisch, antirassistisch und dekolonial. Sie vertritt damit ein Gemeinschaftsverständnis, das ebenfalls nicht darauf verzichtet, den Störenfried zu benennen. Sie erfüllt damit Quindeaus Definition eines abstrakten Antisemitismus, wenn dieser darin besteht, Fremde zu identifizieren, deren politische Herrschaft, wirtschaftliche Macht und ideologische Überlegenheit in traditionelle Gemeinschaften interveniert und deren Gefüge zerreißt.
Hält man sich an Ferdinand Tönnies‘ Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, handelt es sich bei dem Störenfried um die Gesellschaft, die die Verbundenheit der Gemeinschaft durch Trennungen unterläuft.[13] Im antikolonialen und antikapitalistischen Kampf fällt es nicht schwer, diese Trennungen zu personifizieren. Macht sich die Kunst diesen Kampf zu eigen, indem sie ihn bebildert, vertont, rechtfertigt und vielleicht sogar propagiert, ist sie jedoch selbst eine Trennung, eine Trennung zwischen Kunst und Gesellschaft. Ihr Antisemitismus, wenn man bei diesem Begriff bleiben will, müsste sich gegen sie selbst wenden. Künstler:innen sind ebenfalls Fremde. Deswegen sind ihre Werke, Programme und Kollektive Spiele in Batesons Sinne. Sie machen die Außenseite der Gesellschaft auf der Innenseite der Gemeinschaft verfügbar.[14] Das rettet niemanden, aber es ist ein Ausgangspunkt für eine Reflexion auf die Differenz von Individuum, Gruppe und Gesellschaft.
Quindeaus Rekonstruktion eines persistenten Antisemitismus auch unter den Antisemitismuskritikern resultiert in der Diagnose dieses Antisemitismus nicht als individuelle Krankheit, sondern als gesellschaftliche Pathologie. Diese Pathologie lässt sich nicht heilen, sondern nur bearbeiten. Zwei Schritte sind dafür wesentlich. Erstens gilt es auch die Kritiker davon zu überzeugen, dass ein binäres Weltbild, das zwischen Antisemiten und allen anderen zu unterscheiden versucht, kein Beitrag zur Lösung des Problems, sondern ein Beitrag zu seiner Persistenz ist. Wer keine Ambiguitäten kennt und toleriert, hat Anteil an einer unverhandelbar identifizierenden Unterscheidung des Eigenen vom Fremden, die mit zur Wurzel des Übels gehört. Und zweitens lässt sich das Problem auf Dauer nur diskursiv lösen, durch Anlässe zur Diskussion und Reflexion, die mit Respekt vor einem konfliktreichen Thema nach Aspekten und Blickwinkeln suchen, unter denen es zu betrachten sein könnte. Neue Aspekte müssen nicht dazu führen, dass alte nichts mehr wert sind. Aber sie erlauben neue Gewichtungen, vielleicht sogar einen Blickwinkel, der das unfassbare Verbrechen der Judenvernichtung als das nimmt, was es ist.
Der Antisemitismuskomplex ist die gesellschaftliche Variante des Ödipuskomplexes. Im Antisemitismus wird begehrt, was man nicht haben kann (die heimliche Gemeinschaft), und verdrängt, wem man die eigene Existenz verdankt (die unheimliche Gesellschaft). Der Jude war und ist dafür nur der Sündenbock. Er ist das Opfer einer in ihrer Summe unvorstellbaren Gewalt.[15] Er personifiziert, was nicht zu personifizieren ist. Ihm scheint in der Gemeinschaft der Diaspora zu gelingen, wovon andere nur träumen können.[16] Aber es trifft ihn unschuldig. Er ist das hochverdichtete Symbol der beiden Seiten von Gesellschaft.
Die Aufklärung
Die Aufklärung beginnt damit, sich die Ambivalenz der eigenen Gefühlsbindung vor Augen zu führen. Sie setzt sich darin fort, den eigenen Anteil an einer Gesellschaft zu verstehen, in der es mächtige Tendenzen gibt, sich der Gesellschaft zu widersetzen und nach einer Gemeinschaft zu suchen.[17] Das betrifft politische Bünde, wirtschaftliche Abschottung und ideologische Barrikaden gleichermaßen. Die Gemeinschaft tendiert zur Radikalisierung, stellte bereits Helmuth Plessner fest, da so vieles abgelehnt werden muss, was auch in einer Gemeinschaft auf Gesellschaft verweist.[18] Orte der Kunst sind Orte eines Coaching, wo man am eigenen Leib, dank der Differenz von Wahrnehmung und Kommunikation, erfahren kann, wieviel Gesellschaft auch in einer Gemeinschaft, und umgekehrt, ausgehalten werden kann. Die documenta fifteen war so ein Ort. Ästhetisch wurde man mit gemischten Gefühlen konfrontiert, die politisch zu schnell sortiert wurden. Die Einladung, in Kassel auch sich selbst auf die Spur zu kommen, wurde nicht angenommen.
Fußnoten
- Siehe https://www.aica.de/auszeichnungen/ausstellung-des-jahres/atis-rezistans-ghetto-biennale-st-kunigundis-documenta-fifteen-kassel/; und vgl. die Darstellung von Sabine Vogel auf https://www.kunstforum.de/artikel/29-st-kunigundis/.
- Laut Paragraf 130 StGB; umstritten ist, ob unter „Volk“ Minderheiten oder auch die Mehrheit einer Bevölkerung zu verstehen ist, siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Volksverhetzung.
- Michael Hutter, Anstößige Bilder. Gesellschaftskampfspiele um den documenta-fifteen-Skandal, Heidelberg 2025.
- Siehe John von Neumann / Oskar Morgenstern, Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten, hrsg. von Friedrich Sommer und Frédéric Docquier, übers. von Manfred Leppig, Würzburg 1961.
- Heins Bude / Meron Mendel (Hg.), Kunst im Streit. Antisemitismus und postkoloniale Debatte auf der documenta fifteen, Frankfurt am Main 2025.
- Tim Seidenschnur und Leonie Buschkamp untersuchen die Organisationsprobleme der documenta gGmbH anhand der konfligierenden Diskurse in ihrem Umfeld. Interviews mit Organisationsmitgliedern der gGmbH, „die in vielfältige Entscheidungen die documenta fifteen betreffend involviert waren, wurden von den Mitgliedern mit Verweis auf datenschutzrechtliche Bedenken abgelehnt“ (ebd., S. 300). Es gibt in Deutschland kein Gesetz gegen die Behinderung der Wissenschaft. Siehe zum Thema auch Dirk Baecker, „Where is the Art?“ Über das Organisationsversagen der documenta fifteen, auf: soziopolis.de, Dossier „documenta fifteen – Ein Rückblick“, 14. Juni 2023.
- Man denke nur an die Reaktion von Bazon Brock auf die unterstellte „Re-Fundamentalisierung der Kunst“ im Deutschlandfunk am 21. Juni 2022, https://www.deutschlandfunk.de/schafstallgebloeke-der-kulturalisten-bazon-brock-ueber-die-documenta-dlf-c316cef2-100.html.
- Siehe Gregory Bateson, Eine Theorie des Spiels und der Phantasie, in: ders., Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven, übers. von Hans Günter Holl, Frankfurt am Main 1981, S. 241–261; und vgl. Dirk Baecker, Das Spiel mit der Form, in: ders. (Hg.), Probleme der Form, Frankfurt am Main 1993, S. 148–158.
- Siehe Dirk Baecker, Zu Funktion und Form der Kunst, in: ders., Wozu Gesellschaft?, Berlin 2007, S. 315–343; und vgl. Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1995, insbes. S. 13 ff.
- Siehe dazu auch Dirk Baecker, Die Praxis des Kollektivs auf der documenta fifteen, in: Lerchenfeld Nr. 66 (April 2023), S. 16–19.
- Ilka Quindeau, Psychoanalyse und Antisemitismus: Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2023, Berlin 2025, insbes. S. 252 ff.
- Siehe dazu auch Markus Brunner, Die Kryptisierung des Nationalsozialismus: Wie die ‚Volksgemeinschaft‘ ihre Niederlage überlebte, in: ders. / Jan Lohl / Rolf Pohl / Sebastian Winter (Hg.), Volksgemeinschaft, Täterschaft und Antisemitismus: Beiträge zur psychoanalytischen Sozialpsychologie des Nationalsozialismus und seiner Nachwirkungen, Gießen 2011, S. 169–194.
- Siehe Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt 1979, S. 35.
- Mit Mary Douglas, In the Active Voice, London 1982, S. 190 ff., müsste man daher sagen: Ihre Kollektive sind grids innerhalb der group. Siehe auch Dirk Baecker, Kulturkalkül, Berlin 2014, S. 92 ff.
- Im Sinne von René Girard, Der Sündenbock, übers. von Elisabeth Mainberger-Ruh, Zürich 1988.
- Deswegen war Jesus Christus, Gottes Sohn, in dieser Geschichte der erste Störenfried und das Christentum der erste Sündenfall der Ausdifferenzierung. Siehe dazu auch Wolfgang Hegener, Schuld-Abwehr: Psychoanalytische und kulturwissenschaftliche Studien zum Antisemitismus, Gießen 2019.
- Es scheint in dieser Frage Nachholbedarf zu geben. Bedauernd stellt der Historiker Dan Diner fest: „In der Rückschau ist das unglaublich. Die Bundesrepublik war kein nationales Gemeinwesen, sondern reine Gesellschaft. Die Explosion der Soziologie als eine Art Leitwissenschaft fand nicht grundlos in der Bundesrepublik statt. Insofern blicke ich mit Trauer zurück und schätze mich glücklich, diese Zeit erlebt zu haben.“ So im Interview von Paul Ingendaay und Alexander Kilb, „Eine Katastrophe baut sich auf, deren Eintritt ich immer befürchtet hatte“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. Mai 2025.
- So Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Frankfurt am Main 2002, etwa S. 15 f.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky.
Kategorien: Affekte / Emotionen Erinnerung Geschichte Gesellschaft Gruppen / Organisationen / Netzwerke Kommunikation Kunst / Ästhetik Psychologie / Psychoanalyse Rassismus / Diskriminierung
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