Alexandra Manske, Igor Biberman | Interview | 18.07.2025
„Ein wenig fühlt es sich an, als säßen wir in einer Zeitmaschine“
Alexandra Manske im Gespräch mit Igor Biberman über Arbeitskulturen im Wandel, die Paradoxien der Kreativarbeit und das Revival der Industriegesellschaft
Frau Manske, Sie forschen im Bereich der industriellen Beziehungen und der Arbeitssoziologie, wobei Sie einen Schwerpunkt auf den Kulturbetrieb und die Kulturökonomie setzen. Kürzlich ist ein Band mit dem Titel „Hackathons. Eine Multigrafie kreativer Arbeit im digitalen Kapitalismus“[1] erschienen, den Sie gemeinsam mit einem Autor:innenkollektiv verfasst haben. Der Begriff Hackathon ist dem breiten Publikum nicht zwingend geläufig. Was kann man sich darunter vorstellen?
Wenn man Wikipedia zu Rate zieht, findet man zunächst folgende Grunddefinition: „Hackathons sind kollaborative Soft- und Hardwareentwicklungsveranstaltungen“.[2] Ich würde sie etwas zugespitzter beschreiben als Spielwiesen des digitalen Kapitalismus, auf denen verschiedene Akteur:innen zusammenkommen, die Freude an digitalen Technologien und am Coden haben, also gerne programmieren. Hackathons drehen sich darum, auf kreative Art und Weise nach technologisch getriebenen Lösungsansätzen für diverse gesellschaftliche Probleme zu suchen. Organisiert werden die Veranstaltungen von Firmen, NGOs oder auch von kommunalen Trägern, die gleichzeitig als Auftraggeber:innen fungieren. Viele Teilnehmer:innen zelten vor Ort, sodass die Events mitunter einem Festivalcamp oder auch Ferienlager gleichen. Die Produkte, die aus dem mehrtägigen Kollaborationsprozess hervorgehen, sind idealtypischerweise Prototypen für digitale Anwendungen, also Apps.
Zelten, Ferienlager, Festival – das lässt tatsächlich weniger an Arbeit denn an Freizeitaktivitäten denken. Sind Hackathons ein Hinweis auf eine Auflösung der Grenze zwischen Arbeit und Spaß? Gibt es vielleicht sogar eine Art neue Arbeitsfreude?
Zu Beginn der Untersuchung bin ich davon ausgegangen, dass Hackathons im Grunde nichts Neues darstellen, gerade vor dem Hintergrund von Studien zur New Economy aus der Zeit um die Jahrtausendwende und der Agenda 2010. In diesem Zusammenhang wurde viel über die sogenannte „Digitale Bohème“ gesprochen, ein kreatives Milieu vermeintlicher Techniknerds, die sich über ihre digitalen Kompetenzen sowie ein unternehmerisches Ethos distinguieren und konventionelle Arbeits- und Lebensmodelle infrage stellen. Arbeit im Sinne der New Economy dient der Selbstverwirklichung; sie wird im Rahmen einer eigenverantwortlichen, unternehmerischen Tätigkeit abseits des traditionellen Normalarbeitsverhältnisses ausgeübt – inklusive einer Aufweichung der konventionellen Trennung von Arbeit und Leben.
Heute würde ich sagen, dass sich Hackathons aus arbeitsethischer Sicht von der New Economy unterscheiden. Die meisten Techniknerds, die wir auf Hackathons angetroffen haben, arbeiten nicht selbstständig, sondern haben Agenturjobs. Das sind fest bezahlte, sozialversicherungspflichtige und zeitlich sehr anspruchsvolle Tätigkeiten, die in der wachsenden Branche der Softwareentwicklung dem Normalarbeitsverhältnis entsprechen. Viele der Personen, die wir für das Buch interviewt haben, gaben an, ihr ursprüngliches Hobby – das Coden – zu ihrem Beruf gemacht zu haben. Insofern war die Arbeitsfreude, die uns dort begegnete, einem besonderen Umstand geschuldet: Die Teilnehmenden konnten wieder unbeschwert und ohne materielle Verwertungszwänge ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen. Offensichtlich ging es hier also gar nicht um eine Befreiung aus dem Normalarbeitsverhältnis. Stattdessen, so schien es, wollten sich die Beteiligten sogar ganz dezidiert auf eine konventionelle Trennung von Arbeit und Leben zurückbesinnen. Dadurch kommt es – und das macht es arbeitssoziologischer Perspektive besonders interessant – zu einer sehr spezifischen Verschränkung der Be- und Entgrenzung von Arbeit und Leben. Denn obwohl die Teilnehmer:innen den Hackathon besuchen, um dort ihre beruflichen Qualifikationen und Kompetenzen anzuwenden, wird die Veranstaltung ganz eindeutig als Freizeit deklariert. Besonders abends gibt es Raum für geselliges Beisammensein. Es wird gemeinsam Bier getrunken, es herrscht eine gewisse Lagerfeuerromantik und Unbeschwertheit.
Das klingt als würde der Gemeinschaftsgedanke auf diesen Veranstaltungen dominieren?
Hackathons sind als Wettkämpfe konzipiert, die von einer Community-Idee gerahmt werden – es sind somit gemeinschaftliche Wettbewerbe. Hier ist die geschlechtertheoretische Perspektive interessant: Klassische „Techniknerds“ sind überwiegend männlich; kompetitive Spiele gelten als typische Männerdomäne. Ein Attribut von Maskulinität, das auf Hackathons hochgehalten wird, ist beispielsweise Erschöpfung, die sehr positiv konnotiert ist. Subjektive Verausgabung bis hin zur völligen Ermattung wird regelrecht zelebriert. Um der (eigenen) Erwartung an Leistung gerecht zu werden, sind die Teams gefordert, bis an ihre Grenzen und darüber hinaus zu gehen. Diese arbeitsethischen Superlative erinnern mitunter an Extrem- oder Leistungssport. Dennoch gehören auch Pizza und Bier zu den durchgearbeiteten Nächten, und die sind wiederum typische Attribute von Vergemeinschaftung.
In aktuellen Diskursen, die sich um die angeblich arbeitsunwillige Gen Z drehen, wird häufig infrage gestellt, dass junge Leute eine große Arbeitsbereitschaft mitbringen. Würden Sie vor dem Hintergrund Ihrer Forschung bestätigen, dass man eine grundsätzliche Veränderung der Arbeitsmentalität beobachten kann?
Der Diskurs selbst ist interessant. So war ich neulich auf einer Party und habe dem Gespräch von zwei Endfünfzigern gelauscht, die sich darüber ausließen, dass die Zwanzigjährigen nicht mehr bis ultimo arbeiten, nach dem Motto: Wenn das Projekt fertig werden muss, gibt es halt keinen Feierabend. Auch sonst scheint mir die Diskussion um die angeblich arbeitsfaule Gen Z vor allem von Repräsentant:innen der Boomergeneration getrieben zu sein, die sich nicht damit abfinden können, dass sich Nachfolgegenerationen von ihren Werten emanzipieren wollen – und sich ein weniger rigides Arbeitsethos dank des demografischen Wandels und vergleichsweise entspannter sozioökonomischer Bedingungen auch leisten können. Bislang lässt sich die These der angeblich arbeitsunwilligen Gen Z jedoch empirisch kaum untermauern. Im Gegenteil: Aus einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung aus dem Jahr 2025[3] geht hervor, dass sich die Arbeitszeitvorstellungen der verschiedenen Kohorten nicht so eklatant unterscheiden, wie es im öffentlichen Diskurs gerne dargestellt wird. Durchaus verstärkt habe sich aber eine allgemeine Sensibilität für Ausbeutung. Ferner sei auch die Präferenz für Teilzeitbeschäftigungen gestiegen, auch unter männlichen Beschäftigten, selbst wenn sich beispielsweise die Bereitschaft von Männern, in Elternzeit zu gehen, nach wie vor in Grenzen hält.
Der Stellenwert von Arbeits- und Lebenszeit ist aktuell also durchaus Gegenstand von Verhandlungen und gerade in jüngeren Milieus herrscht eine große Entschlossenheit vor, die Grenzen neu auszuloten. Aus Arbeitgeber:innensicht fällt die Bewertung dieser Veränderungen sicherlich ambivalent aus, aus herrschaftskritischer Perspektive handelt es sich um einen begrüßenswerten Emanzipationsprozess.
Laut der OECD-Erhebung für das Jahr 2023[4] liegt die durchschnittliche jährliche Arbeitszeit in Deutschland unter den Werten aller anderen Industrienationen. Sind wir hinsichtlich der Work-Life-Balance nicht schon recht gut aufgestellt?
Den Anschein macht es. Man muss sich aber genauer ansehen, wie diese niedrigen Zahlen zustande kommen. In Deutschland liegt zum Beispiel die Teilzeitquote von Frauen weit über dem internationalen Durchschnitt. Statt pauschal mehr Arbeit zu fordern, sollten wir daher die Frage nach Gleichberechtigung stellen, also nach einer gerechteren Arbeitsverteilung sowie der symbolischen Gleichwertigkeit von Care- und Lohnarbeit.
Die Arbeit in der Kreativbranche gilt mitunter als paradigmatisch für neue Arbeitsformen. Was kann man von Kreativarbeiter:innen über die Arbeitswelt im 21. Jahrhundert lernen?
Zuvorderst erfahren wir etwas über die unterschiedlichen arbeitsgesellschaftlichen Subjektideale. In den 2000er- und 2010er-Jahren – also in einer zeithistorischen Epoche, die manche als Postfordismus, andere als Neoliberalismus oder als Finanzmarktkapitalismus bezeichnen – war der Diskurs über Kultur- und Kreativarbeit von drei zentralen Thesen beherrscht, die ich als Opfer-, Unternehmer- und Komplizenthese beschreibe.[5] Dieser Dreiklang deutet an, dass wir es mit recht widersprüchlichen Deutungen der Arbeitsweise zu tun haben. Um die Jahrtausendwende dominierte in herrschaftskritischen Diskursen die These, nach der künstlerische und kreative Arbeit gewissermaßen das Experimentierfeld prekärer Arbeitsverhältnisse bildet. Künstler:innen und Kreativarbeiter:innen seien Opfer einer neoliberalen Deregulierung von Arbeit und Wohlfahrtsstaat, was sie gewissermaßen zu den „Posterkids“ der Prekarisierung mache. Zur gleichen Zeit wurden Kulturschaffende aber aus wirtschaftsliberaler Perspektive als zentrale Akteur:innen einer neuen kreativen Klasse begriffen, die die Volkswirtschaft mit innovativen Impulsen vorantreibe und sich zu einer neuen hegemonialen und kosmopolitisch orientierten Mittelklasse formiert habe.
Die dritte These verknüpft beide Stränge mit einer kapitalismuskritischen Perspektive, in der Künstler:innen als kreative Systemstützen fungieren. Die Verinnerlichung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen führe dazu, dass Kulturschaffende durch ihre Bereitschaft zur Selbstprekarisierung die kapitalistische Wirtschaftsordnung vornehmlich kulturell legitimierten. Man könnte sie daher auch als Vertreter:innen einer kulturell hegemonialen Gruppe bezeichnen – jener, die Nancy Fraser meint, wenn sie von progressiven Neoliberalen spricht.[6] Über die Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts lernen wir also zunächst einmal, dass die Kultur- und Kreativbranche eine Art diskursive Projektionsfläche abgibt, in der sich recht widersprüchliche Szenarien sozialen Wandels entdecken lassen.
Hat die akademische Debatte über kreative Arbeit auch Spuren in der gesellschaftlichen Wahrnehmung hinterlassen?
Sicherlich. In Politik und Gesellschaft erfreut sich das Thema künstlerisch-kreative Arbeit großen Interesses. Beispielsweise wurde noch mitten in der Corona-Phase vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft in NRW eine Kommission ins Leben gerufen, die sich auf Mindesthonorare für freischaffende Künstler:innen verständigen sollte. Das Ergebnis wurde schließlich auch auf Bundesebene von der Kulturministerkonferenz ratifiziert. Die wissenschaftliche, insbesondere empirisch fundierte Beschäftigung mit den Arbeits- und Sozialverhältnissen von Kulturschaffenden ist in Deutschland hingegen nicht sehr weit gediehen. International sieht das ganz anders aus: In den stärker auf Dienstleistungen und Marktlösungen fokussierten angelsächsischen Ländern sind seit den 1990er-Jahren ganze Forschungsinstitute und Studiengänge eingerichtet worden, die sich mit den sogenannten Creative Industries befassen. Wer sich diesem Thema widmet, untersucht – dem dortigen Selbstverständnis nach – die Zukunft der Arbeitsgesellschaft. Der exotische Status, den das Thema demgegenüber in der deutschen Wissenschaftslandschaft innehat, beruht meines Erachtens auf einem tief verankerten industriegesellschaftlichen Bias. Künstlerisch-kreative Arbeit gilt mitunter nach wie vor nicht als Arbeit im klassischen Sinn. Das ist einerseits gut nachvollziehbar, denn Kunst als Arbeit ernst zu nehmen, fällt teils selbst den Kulturproduzent:innen nicht ganz leicht. Oberflächlich betrachtet, erscheint sie eher als Spiel oder eben „nur“ als Kultur, deren gesellschaftlicher Beitrag gegenüber beispielsweise industrieller Erwerbsarbeit vernachlässigbar erscheint. In dieser einerseits industriegesellschaftlich verengten, andererseits an bestimmten Vorstellungen eines „bürgerlichen“ Lebens orientierten Sichtweise lassen sich durchaus Parallelen zum Dienstleistungsbereich oder zur Reproduktionsarbeit erkennen, denen ebenfalls lange, teils bis heute, wenig gesellschaftliche Anerkennung zuteilwird.
Im Maschinenraum der Gesellschaft sieht die Situation allerdings ganz anders aus: Seit den 1960er-Jahren ist der Bereich der Kreativarbeit stärker gewachsen als jeder andere Wirtschaftszweig. In den Kultur- und Kreativberufen zeigt sich der arbeitsgesellschaftliche Wandel wie unter einem Brennglas – sei es die zunehmende Verflüssigung von Arbeitsverhältnissen, die Tendenz zum Postmaterialismus oder eben der progressive Neoliberalismus. Diese rasante Entwicklung wird auch in volkswirtschaftlichen Kennzahlen abgebildet, wie etwa der Monitoringbericht Kultur- und Kreativwirtschaft[7] des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz regelmäßig – und zuletzt für das Jahr 2024 – zeigt. Hier wird die jährliche Bruttowertschöpfung der Branche mit 123,2 Milliarden Euro ausgewiesen. Neben der wirtschaftlichen Verwertbarkeit ist jedoch auch die Anerkennung künstlerisch-kreativer Tätigkeiten als gesellschaftlich relevante Arbeit zentral. Diese Forderung wurde erstmals in den 1970er-Jahren erhoben, als Kunst- und Kulturschaffende mit der Installierung der Künstlersozialkasse als berufsbezogenes soziales Sicherungssystem quasi in den Wohlfahrtsstaat hineingeholt und als schutzbedürftige Sozialbürger:innen adressiert wurden. Während sie in den 2000er- und 2010er-Jahren zunehmend für ihr unternehmerisches Innovationspotenzial gefeiert wurde, wäre die Künstlersozialkasse 2008 im Bundesrat um ein Haar abgeschafft worden, weil sie angeblich ein bürokratisches Hindernis bei der Entfaltung unternehmerischer Initiative darstelle. Auch mit Blick auf den Wohlfahrtsstaat zeigen sich die ideologischen Etappen der jüngeren Zeitläufte also deutlich.
Welche Rolle kommt Hybridarbeit, also der Verbindung von abhängigen und selbstständigen Arbeitsformen, im heutigen Kulturbetrieb zu?
Grundsätzlich verstehen wir unter hybrider Arbeit jedwede Kombination von abhängiger und selbstständiger Tätigkeit – sei es, dass beide Arbeitsformen synchron, also gleichzeitig, ausgeübt werden, oder sequenziell, das heißt nacheinander im Erwerbsverlauf. Es geht demnach um Erwerbstätige, die mindestens einmal in ihrem Erwerbsleben mehrgleisig fahren oder zwischen verschiedenen Erwerbsformen wechseln. Im Grunde ist das Phänomen nicht neu. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in der frühen Industriegesellschaft, war es in der untersten Gesellschaftsklasse gang und gäbe, dass das Blumenmädchen oder der Zeitungsjunge gezwungen waren, weiteren Beschäftigungen nachzugehen, um sich ihr Auskommen halbwegs zu sichern. Neu ist zum einen die wissenschaftliche Aufmerksamkeit, die Hybridarbeit erfährt. Dass auch selbstständige Arbeit flexibel ist und die Formel „Einmal selbstständig, immer selbstständig“ längst nicht mehr gilt, ist eine jüngere Erkenntnis der Forschung. Zugleich zeigen Längsschnitt-, aber auch qualitative Daten, dass hybride Arbeitsverhältnisse seit den 1990er-Jahren über die Erwerbsformen hinweg stark zugenommen haben. Die Ursachen sind unter anderem Deregulierungsprozesse, also die Auslagerung von Tätigkeiten und sinkende Honorare in vielen freiberuflichen Segmenten, aber auch Gelegenheitsstrukturen für gut dotierte Nebentätigkeiten.
Selbstredend betreffen diese Veränderungen auch den Kulturbetrieb. Dort wurden, wie auch in anderen Wirtschaftszweigen, neoliberale Methoden zur Effizienzsteigerung und Kosteneinsparung eingesetzt, etwa im Theaterbereich. Dazu gehören beispielsweise eigenverantwortliche Budgetbereiche, sogenannte „Profit Center", und die Ausrichtung an messbaren Erfolgsquoten wie Zuschauerzahlen, Ticketverkäufen oder medialer Reichweite. Große Fernseh- und Medienhäuser engagieren schon seit den 1990er-Jahren überwiegend freie Mitarbeitende; Theater- und Schauspielhäuser planen mit „atmenden Ensembles“, deren Belegschaftsgröße und Beschäftigungsdauer dem aktuellen Programm entsprechend angepasst werden. Dabei wurden Beschäftigungsverhältnisse als rationalisierbarer Kostenfaktor betrachtet und die für sie aufgewendeten Mittel gekürzt. Unter diesen Bedingungen ist hybrides Arbeiten fast eine Notwendigkeit. Im Performancebereich wurde diese Tendenz durch den Prestigezuwachs der freien Theaterszene verstärkt, die ein weiteres Erwerbsfeld für hybrides Arbeiten darstellt. Für manche darstellenden Künstler:innen ist die freie Szene trotz ihrer prekären Bedingungen künstlerisch reizvoll, andere werden durch die strikte Personalpolitik an Theaterhäusern hineingespült. Insofern gibt es verschiedene Anreizstrukturen, die in der Summe zu einem Anstieg unsteter, hybrider Erwerbsbiografien führen.
Hatte der Transformationsprozess seit den 1990er-Jahren auch positive Auswirkungen?
Es ist recht auffällig, dass hybride Arbeit in erster Linie im Kontext prekärer Arbeit und der Working-Poor-Problematik diskutiert wird. Meines Erachtens ist das zwar berechtigt, greift letztlich aber zu kurz. Möchte man die Vielschichtigkeit und auch die Drastik der Veränderung verstehen, muss man sowohl die Verlierer:innen als auch die Gewinner:innen hybrider Arbeitsmodelle betrachten. Beim Blick auf die Kulturszene ist es aufschlussreich, die Karrieren von Superstars anzuschauen, die aufgrund ihrer Popularität in einem spezifischen Kunstfeld plötzlich auch in einem anderen reüssieren. Der vielen bekannte Schauspieler Lars Eidinger ist ein gutes Beispiel. Er kommt ursprünglich vom Theater, gehört noch immer zum Ensemble der Schaubühne Berlin und feiert schon länger große, auch internationale Erfolge auf der Kinoleinwand. Zuletzt trat er auch noch als Fotograf mit einer Einzelausstellung in Erscheinung, die er laut eigener Aussage seiner Popularität als Schauspieler verdankt. Im Übrigen zählen auch Professor:innen zu den großen Profiteuren hybriden Arbeitens. Berater:innenposten und weitere lukrative Nebenjobs stellen für diese Berufsgruppe eine Ressource zur Rufsteigerung dar – Hybridarbeit dient gewissermaßen als ein Mittel zur Akkumulation symbolischen Kapitals. Für die meisten bleibt mehrgleisiges Arbeiten jedoch eine prekäre Überlebensstrategie: Sie kombinieren verschiedene Erwerbsgelegenheiten, machen mehrere Brotjobs, um sich über Wasser beziehungsweise im angestammten Berufsfeld zu halten.
Die Verbreitung hybrider Arbeit ist also ein Aspekt eines übergreifenden Wandlungsprozesses von Arbeit, der viele Nuancierungen und Grauzonen jenseits eindeutig abhängiger oder selbstständiger Beschäftigung aufweist. Dieser Wandel sollte zum Anlass genommen werden, Arbeitsformen und (Dis-)Kontinuitäten in Erwerbsverläufen nochmals stärker mit Blick auf den Vergesellschaftungscharakter von Arbeit zu diskutieren.[8]
In Ihren jüngeren Publikationen[9] haben Sie sich insbesondere mit dem Theater als Arena arbeitspolitischer Kämpfe befasst, in der neue unkonventionelle Akteure der Interessenvertretung auftreten. Welche Spezifika für Arbeitskämpfe im Kulturbetrieb lassen sich daraus ableiten?
In der Branche des darstellenden Spiels lassen sich seit Längerem interessante neue Formen arbeitspolitischer Kämpfe beobachten. Sie zeigen, dass selbst in einem vermeintlich unpolitischen, vorwiegend auf Selbstverwirklichung zielenden Bereich Interessenvertretung stattfindet. Der Kampf für bessere Arbeitsbedingungen nimmt dabei natürlich feldspezifische Formen an, die sich etwa zwischen den institutionalisierten Theaterbetrieben – wie dem Stadttheater – und der freien Szene unterscheiden.
Im ersten Fall ist abhängige, aber regelhaft befristete Beschäftigung die Norm. In der freien Szene dagegen dominiert vor allem die für die Kreativbranche typische soloselbstständige Erwerbsform. In beiden Feldern haben arbeitspolitische Initiativen in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren viel erreicht. So war etwa der Bundesverband Freie Darstellende Künste (BFDK) mit seiner Forderung nach Mindesthonoraren im Jahr 2015 einer der Wegbereiter für die erwähnte Mindesthonorarkommission für freie Künstler:innen. Und selbst im Theater, wo Arbeitnehmer:innen lange schwach organisiert und kaum gewerkschaftlich engagiert waren, wird inzwischen sehr erfolgreich für bessere Arbeitsbedingungen, höhere Bezahlung und mehr Mitsprache gestritten. Am Theater konnte eine 2015 von zwei Schauspieler:innen gegründete, basisnahe Initiative, das Ensemblenetzwerk, die eingefahrenen Machtverhältnisse ordentlich aufrütteln. Das Netzwerk kritisierte den geltenden Tarifvertrag der Bühnen-Gewerkschaft GDBA am öffentlichen Theater und die charismatisch begründete Machtfülle der Intendanzen scharf – auch vor dem Hintergrund zahlreicher #MeToo-Fälle an Theatern. Das Ensemblenetzwerk konnte sich mit geschickten, künstlerisch kuratierten Öffentlichkeitskampagnen – wie etwa Besuchen von Theaterkünstler:innen bei Abgeordneten – innerhalb kurzer Zeit als klientelorientierte und zeitgemäße Interessenvertretung gegenüber der damals in weiten Teilen verknöcherten Gewerkschaft profilieren. Der Coup war dann, dass eine der Gründer:innen des Ensemblenetzwerks, Lisa Jopt, im Jahr 2021 zur neuen Gewerkschaftspräsidentin gewählt wurde. Man kann davon sprechen, dass die orthodoxe Fraktion von der häretischen – soll heißen: kämpferischen – verdrängt wurde. Offenbar gab es im Feld ein großes Bedürfnis nach Neuerung – und der Politikwechsel zahlt sich aus: Seit 2021 konnte die GDBA Gagensteigerungen von mehr als 30 % durchsetzen, während allein im Zeitraum 2020 bis 2023 die Mitgliederzahlen um rund 45 % anstiegen.
Wir haben viel über Wandel in der Arbeitswelt gesprochen. Suchen wir vielleicht zu sehr nach Zäsuren und übersehen dabei die vielen Kontinuitäten?
Für Soziologinnen und Soziologen liegt es näher, Zäsuren zu identifizieren, als Kontinuitäten zu verfolgen. Die Soziologie als Wissenschaft ist schließlich seit ihrer Entstehung auf Wandlungsprozesse ausgerichtet. Und auch medial besitzen Themen, die Brüche und Erschütterungen betonen, meist einen größeren Nachrichtenwert als Diagnosen, die Gesellschaft als langen, ruhig dahinfließenden Fluss beschreiben – was in den heutigen ereignisreichen Zeiten ohnehin kein angemessenes Bild wäre.
Was mir aktuell – neben vielen anderen Dingen – Sorge bereitet, ist die Normalisierung und Legitimation aggressiver Zerstörungswut, die sich gegen kulturelle Errungenschaften der liberalen Gesellschaft richtet. Das, was wir derzeit als Ausdruck sozialen Wandels etikettieren, mag zwar nicht völlig neu sein, doch die „Kettensägen-Politik“ der radikalen Rückabwicklung ist in ihrer Banalität und in ihrem maskulinistischen Ausdruck ein Novum – und äußerst beunruhigend. Noch ist nicht abzusehen, welche langfristigen Folgen beispielsweise die Abkehr US-amerikanischer Unternehmen von ihren Diversity-Agenden oder die zunehmende Akzeptanz von Hate Speech auf großen Social-Media-Plattformen zeitigen werden – und ob sich diese Veränderungen im Nachhinein als grundlegende Zäsuren erweisen oder ob man lediglich dem Getöse von „strong men“ und ihren Bullytaktiken auf den Leim gegangen ist.[10] Aus meiner Sicht müssen wir nicht nur über die Frage nach Wandel oder Kontinuität sprechen, sondern auch dringend mehr über Backlashes und rückwärtsgewandte Tendenzen der Gegenwartsgesellschaft.
Die „Kettensägen-Politik“ richtet sich nicht nur gegen liberale Persönlichkeitsrechte, sondern auch gegen arbeitspolitische Errungenschaften. Momentan tun sich nicht nur Tech-Firmen, sondern auch Politiker:innen mit Forderungen nach Mehrarbeit hervor...
Diese Forderungen, oder besser: diese Diskurse, implizieren gleich mehrere gesellschaftliche Rückschritte. Während man sich in arbeitspolitischer Hinsicht über die Sinnhaftigkeit einer Flexibilisierung der Maximalarbeitszeitgrenze unter Umständen noch streiten könnte, fällt aus kritischer, geschlechtertheoretischer Sicht vor allem die Tendenz zur Restauration auf. Die hohen Zustimmungswerte rechtspopulistischer Kräfte in Deutschland gehen einher mit restaurativen Vorstellungen von geschlechtsspezifischer Rollenverteilung und mit einer wachsenden Queerfeindlichkeit. Ein prägnantes Beispiel sind die sogenannten „trad wives“, die mehr als nur ein kurzlebiger Social Media-Trend sind und gewissermaßen als legitime Nachfolgerinnen progressiver Neoliberaler verhandelt werden. Traurig oder wütend werden könnte man auch angesichts des Frauenanteils von nicht einmal 30 Prozent im neugewählten Deutschen Bundestag. Die deutsche Politik ist eine extrem männlich dominierte Branche. Doch der Ruf nach Veränderung wird lauter. Das zeigt sich etwa an dem fast rebellisch anmutenden Schachzug der SPD, den Männerüberschuss der CDU mit einem von Frauen dominierten Regierungsteam zu kontern. Wenn allerdings gleichzeitig eine in weiten Teilen geschlechtsblinde Debatte um längere Arbeitszeiten geführt wird, lässt das für berufliche Chancengleichheit, faire gesellschaftliche Anerkennung von Care- und Familienarbeit und generell für die Freiheit privater Lebensführungen und der Selbstbestimmung nichts Gutes erwarten. Ein wenig fühlt es sich an, als säßen wir in einer Zeitmaschine zurück in die industriegesellschaftliche Vergangenheit.
Fußnoten
- Das Buchprojekt ist aus dem DFG-Netzwerk „Künstlerisch-kreative Erwerbsarbeit. Netzwerk zur Untersuchung der Arbeits- und Organisationspraxis in der Kultur- und Kreativwirtschaft“ in Zusammenarbeit mit Oliver Berli, Valentin Janda, Hannes Krämer, Diana Lengersdorf, Ronja Trischler, und Matthias Wieser hervorgegangen; siehe: dies., Hackathons. Eine Multigrafie kreativer Arbeit im digitalen Kapitalismus, Frankfurt am Main / New York 2025.
- https://de.wikipedia.org/wiki/Hackathon (20.06.2025)
- Timon Hellwagner / Enzo Weber, Generation Z – noch ein Klischee weniger, in: IAB-FORUM (16.6.2025).
- Organisation for Economic Co-operation and Development (Hg.), Hours worked, in: oecd.org, 2023 (26.3.2025).
- Alexandra Manske, Kapitalistische Geister in der Kultur- und Kreativwirtschaft. Kreative zwischen wirtschaftlichem Zwang und künstlerischem Drang, Bielefeld 2015.
- Nancy Fraser, Vom Regen des progressiven Neoliberalismus in die Traufe des reaktionären Populismus, in: Geiselberger, Heinrich (Hg.): Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit, Berlin 2017, S. 77-92.
- Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (Hg.), Monitoringbericht Kultur- und Kreativwirtschaft 2024, Berlin 2025, in: bmwk.de (26.3.2025).
- Siehe weiterführend dazu: Alexandra Manske, Hybride Arbeit und symbolisches Kapital: Der Wandel selbstständiger Arbeit am Beispiel des Theaterfeldes; in Soziale Welt 76 (2025), i.E. Der Sonderband unter dem Titel Verbreitung, Verwerfungen, Vorstellungen. Selbstständige Arbeit in der Gegenwartsgesellschaft wird herausgegeben von den Sprecherinnen des Arbeitskreises „Die Arbeit der Selbstständigen“ innerhalb der Sektion Arbeits- und Industriesoziologie (AIS) der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), Alexandra Manske, Katharina Mojescik und Isabell Stamm.
- Alexandra Manske, Das Theater als Arena arbeitspolitischer Konflikte. Wie ein neuer Akteur eine alte Gewerkschaft wiederbelebte, in: Industrielle Beziehungen 30 (2023), 1, S. 41–68; dies., Arbeitskampf nicht nur in Hollywood. Eine Theatergewerkschaft auf Konfliktkurs, in: WSI-Mitteilungen 78 (2025), 2, S. 157–158.
- Ulrich Bröckling / Dorna, Safaian / Nicola Spakowski, Strongman Politics. Autoritäre Personalisierung im 21. Jahrhundert, in: Mittelweg 36, Zeitschrift des Hamburger Institut für Sozialforschung, 32(2023), 3–4, S. 3–12. Birgit Sauer, Maskulinistische Identitätspolitik. Affektive Mobilisierung von Geschlecht durch die autoritäre Rechte in Deutschland und Österreich, in: Margarete Menz / Daniel Rellstab / Miriam Stock (Hg.), Körper und Emotionen in Bewegung, Wiesbaden 2024, S. 85–103.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.
Kategorien: Arbeit / Industrie Care Gender Geschichte Gesellschaft Kapitalismus / Postkapitalismus Kultur Kunst / Ästhetik
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