Lukas Pfäffle | Rezension | 21.11.2024
Fiskalsoziologische Kaffeehauslektüre
Rezension zu „Fiskalische Herrschaft. Steuern, Staat und Politik in Italien seit 1945“ von Lars Döpking
Steuern begründen wohl eine der regelmäßigsten und doch oftmals kaum wahrgenommenen Formen der Interaktionen zwischen Staaten und ihren Bürgerinnen in kapitalistischen Demokratien. Bewusst wird diese Beziehung beim Erstellen der zumeist als dröge Pflicht empfundenen Steuererklärung oder aber angesichts unterhaltsamerer Steuerskandale, die es bis in die Boulevard-Presse schaffen. Letzteres veranschaulichen in Italien derzeit die anhaltenden Erb- und Steuerstreitigkeiten der Familie Agnelli.[1] In seiner Studie „Fiskalische Herrschaft. Steuern, Staat und Politik in Italien seit 1945“ will Lars Döpking die wechselhafte Geschichte dieser grundlegenden Beziehung zwischen Staat und Bürgern in Italien theoriegeleitet rekonstruieren.
Döpking setzt mit seiner Arbeit bei zwei gegenläufigen Deutungen steuerstaatlichen Wandels an, denen er seine eigene Studie der Geschichte des italienischen Steuerstaats gegenüberstellt (S. 19 ff.). Während auf der einen Seite die Neue Politische Ökonomie ein ab den 1970er-Jahren einsetzendes Staatsversagen attestiert, verweisen Analysen der Historischen Politischen Ökonomie auf das Ende des einstmals potenten Steuerstaats, der auf dem Altar des Neoliberalismus geopfert wurde. Der Autor hingegen betont die sukzessive, wenngleich selektive Ausweitung fiskalischer Herrschaft. Denn bei allen Unterschieden stimmen die ersten beiden Narrative darin überein, dass der Steuerstaat nach seiner goldenen Ära erodierte. Eine These der sukzessiven Ausweitung von Herrschaft steht dieser Erzählung entgegen und ist dementsprechend begründungsbedürftig. Diese Begründung will Döpking mithilfe eines neo-weberianischen Begriffs des Steuerstaats liefern.
Neo-weberianisch ist der Steuerstaat-Begriff, da er im Sinne Webers den Staat als politischen Anstaltsbetrieb versteht, der auf die Geltung der jeweiligen Steuerordnung zielt. In dieser Form tritt der Staat als Akteur auf, dessen Handeln Referenz für das Handeln der Zensitinnen ist. Daneben ist der Steuerstaat aber auch Gegenstand politischer Interessenkonflikte. Hier ist er nicht Akteur, sondern Struktur, die politisch umkämpft ist. Die doppelte Dynamik von inhaltlicher Ausgestaltung der Ordnung sowie ihrer Durchsetzung und Geltung soll davor schützen, den Steuerstaat in externen Machtbeziehungen aufgehen zu lassen (S. 87). Aus diesem doppelten Charakter des Steuerstaats leitet Döpking sodann vier Makroprozesse steuerstaatlichen Wandels ab (S.91 ff.). Erstens die Politisierung, die sich durch Konflikte um die inhaltliche Ausgestaltung der Steuerordnung auszeichnet, zweitens die Geo-Fiskalisierung, die die Auswirkungen der Sub-, Supra- sowie internationalen Beziehungen auf den Steuerstaat umfasst, drittens die Professionalisierung, die Ausmaß und Qualität der Machtkapazitäten des Verwaltungsstabs betrifft, und zuletzt die Durchstaatlichung, die die Beziehung zwischen der Steuerordnung und den Zensiten erfasst.
Gerüstet mit diesem begrifflichen Werkzeug nimmt Döpking sich des italienischen Steuerstaats und seiner historischen Entwicklung seit Ende des Zweiten Weltkriegs an. Sequenziert wird dieser Zeitraum durch drei steuerstaatliche Transformationen. Für jede dieser Sequenzen werden die vier Makroprozesse in ihrem Verlauf rekonstruiert. Im Stil einer eventfull sociology[2] sind diese Prozesse gekennzeichnet von Pfadabhängigkeit, Kontingenz und heterogener Kausalität, in der die identifizierten kausalen Effekte stets sozio-historisch gebunden sind. Die Prozesse sind ungerichtet und verfügen über kein allgemeines Verlaufsmuster. Vielmehr initiieren die jeweiligen Transformationen ihre Neuausrichtungen, die aber an den Ergebnissen der vorangegangenen Sequenzen ansetzen. Auf diese Weise entsteht ein Narrativ der selektiven Ausweitung fiskalischer Herrschaft in Italien. Denn das wachsende Steueraufkommen wird nicht von allen Bevölkerungsgruppen gleichermaßen gestemmt. Insbesondere Angestellte und Beamtinnen können sich kaum den steigenden und zunehmend professionell erhobenen Quellensteuern auf ihre Löhne entziehen. Demgegenüber stehen die Selbstständigen, deren Beziehung zum Steuerstaat sich im Zeitverlauf als volatiler erweist und von offenen Interessenkonflikten geprägt ist. Die historische Betrachtung endet mit einem Epilog zu den dramatischen Entwicklungen in Italien während der Staatsschuldenkrise. Auch hier eröffnet die entwickelte Heuristik eine gewinnbringende Perspektive auf das Material. Die Politik der fiskal-technokratischen Trägergruppe unter Ministerpräsident Monti dockt „an die zuvor bereits existente steuermoralische Anomie“ (S. 431) an und ist daher keineswegs als Ausdruck reiner Expertise, sondern nur aus der historischen Gewachsenheit fiskalischer Herrschaft in Italien heraus zu verstehen.
Das Konzept des Steuerstaats fungiert als Prisma, das die vier Prozesse steuerstaatlichen Wandels sichtbar macht. Die erklärende Kraft von Döpkings Analyse liegt in der Konjunktion der vier Prozesse steuerstaatlichen Wandels, wobei ihr Zusammenwirken von Sequenz zu Sequenz variiert. Diese Varianz gilt es überzeugend zu veranschaulichen. Bei aller berechtigten Skepsis gegenüber teleologischen, evolutionären oder zu robusten Prozessbegriffen, hätte eine stärkere Theoretisierung der Prozesse die Überzeugungskraft des Narrativs womöglich weiter gestützt. Dafür hätte man beispielsweise das Verhältnis von Akteuren und Strukturlogik, die Zeithorizonte der Prozessverursachung sowie der Manifestierung ihrer Ergebnisse in den Blick nehmen[3] oder die Potenziale von Theorien prozessualer Eigendynamiken ausschöpfen können.[4] Denn sowohl die theoretische Herleitung der Prozesse als auch ihre historische Rekonstruktion legen nahe, dass Eigenschaften wie das Verhältnis von Strukturlogik und Akteuren nicht beliebig oder gleichförmig in ihnen vorzufinden sind, sondern durch die Art des Prozesses bedingt ist. Der Prozess der Politisierung ist richtungsoffen. Hier verfolgen Trägergruppen ihre Interessen hinsichtlich der Gestaltung der Steuerordnung: Anfangs trieben fiskalische Technokraten die Modernisierung des Steuerstaats voran (S. 159). Anschließend trugen die Fiskalklassenkonflikte der Triade von Besteuerten (Tartassati), Hinterziehenden (Evasori) und parteipolitisch imprägnierter Verwaltung (Patritocrazia) zur Legitimationserosion der Steuerordnung bei (S. 303). Zuletzt entstand ein bipolarer parteipolitischer Konflikt, in der Tartassati (sozial-liberale Fiskaltechnokratie) und Evasori (Populismus) aufgingen (S. 326). Die sozialliberale Regierung forcierte ab Mitte der 1990er-Jahre durch Modernisierungsmaßnahmen einen pünktlichen Beitritt zur Währungsunion (S. 333), bevor ein Mitte-Rechts-Bündnis zu Beginn des Millenniums eine inkohärente Politik des fiskalischen Klientelismus betrieb (S. 351). Im Unterschied dazu ist die Durchstaatlichung geprägt durch die Leitdifferenz von Macht und Herrschaft in der Beziehung von Steuerordnung und Zensitinnen. Dieser Fokus auf die Geltung der Ordnung berücksichtigt zwangsläufig nicht die vielfältigen fiskalpolitischen Interessen der Akteure gegenüber der Ordnung, sondern rückt die normative Beziehung ins Zentrum. Die inhaltliche Ausgestaltung der Steuerordnung ist richtungsoffen, die binäre Leitdifferenz von Macht und Herrschaft definitionsgemäß limitiert. Solche Unterschiede sind bedeutsam für mögliche Dynamiken in den jeweiligen Prozessen. Eine weiterführende Theoretisierung der vier Prozesse steuerstaatlichen Wandels hätte das Potenzial, mittels allgemeiner Erzählungen zu generalisieren.[5]
450 Seiten zur Geschichte des italienischen Steuerstaats mögen für den neutralen Leser nicht im Verdacht stehen, vergnügungssteuerpflichtig zu sein. Umso mehr ist daher die Leistung des Autors bei der Aufbereitung des Materials zu würdigen. Die Arbeit bleibt zu jeder Zeit verständlich, mehr noch, die Lektüre ist dauerhaft interessant. Sie wird – und das ist für wissenschaftliche Publikationen keine Selbstverständlichkeit – zu einem echten Page-Turner. Das liegt auch daran, dass die systematische Rekonstruktion von Reformen, Interessenkonflikten und Steuerquoten immer wieder mit lebensweltlichen Informationen angereichert wird. Vieles hat dabei zwangsläufig anekdotischen Charakter und wird entsprechend gekennzeichnet. Doch es trägt dazu bei, die Leserinnen im Material zu orientieren. Zugleich unterstreicht dieses Vorgehen die, für den gleichberechtigten Dialog mit historischem Material unabdingbare,[6] gute Kenntnis des Autors der lebensweltlichen Zusammenhänge des Phänomens. Ferner entfaltet diese Einbettung ein unerwartet unterhaltendes Potenzial. Insbesondere die Steuerskandale und -praktiken der Reichen und Schönen ermöglichen das zweifelhafte Vergnügen, sich in einem Café sitzend an Klatsch und Tratsch zu erfreuen, während man nach außen mit einem dicken Wälzer Fachliteratur die akademische Fassade wahrt. Zuträglich hierfür ist auch, dass die italienischen Fälle meist mehr Glamour und Esprit versprühen als die teutonischen Gegenstücke à la Zumwinkel, Schwarzer und Hoeneß. Anzumerken bleibt, dass sich aus dem Aufbau des Buchs manche Redundanz ergibt. Einige Ereignisse sind naturgemäß in mehreren der Makroprozesse von Bedeutung. Die separate Rekonstruktion der Prozesse sorgt daher zwangsläufig dafür, dass diese wiederholt auftauchen, was die Darstellung manchmal sprunghaft erscheinen lässt. Die Lektürefreude schmälert das jedoch nur geringfügig und fordert den Leser zur aktiven Relationierung der einzelnen Prozesse auf.
Döpkings Studie unterstreicht das Potenzial theoriegeleiteter historischer Soziologie und leistet damit einen wichtigen Beitrag zu der anfangs skizzierten Debatte über den Status Quo des Steuerstaats. Die Rekonstruktion der sukzessiven Ausweitung fiskalischer Herrschaft ist überzeugend und kann von alternativen Deutungen steuerstaatlichen Wandels wie der zunehmenden Neoliberalisierung nicht ignoriert werden. Zeichnet sich der real existierende Neoliberalismus womöglich nicht durch einen Rückbau staatlicher, fiskalischer Herrschaft aus, sondern durch die nachträgliche Schaffung von Ausnahmen bei gleichzeitiger Herrschaftsausweitung?[7] Das Konzept des Steuerstaats liefert vielfältige Impulse sowohl für weitere Analysen in der historischen Soziologie als auch für soziologische Beiträge zur politischen Ökonomie, die nicht auf den historischen Fall Italien beschränkt sind.
Fußnoten
- Siehe etwa: https://www.zeit.de/2024/41/agnelli-familie-gianni-marella-erbe-vermoegen-turin-steuer (18.11.2024)
- Sewell Jr., William H., Logics of History. Social Theory and Social Transformation, Chicago/London 2005, S. 102.
- Pierson, Paul, Big, Slow-Moving and ... Invisible, in James Mahoney / Dietrich Rueschemeyer (Hg.), Comparative Historical Analysis in the Social Sciences, Cambridge 2003, S. 177–207, hier S. 179.
- Mayntz, Renate / Nedelmann Birgitta, Eigendynamische soziale Prozesse, in Renate Mayntz, Soziale Dynamik und politische Steuerung. Theoretische und methodologische Überlegungen, Frankfurt am Main / New York 1997, S. 86–114.
- Knöbl., Wolfgang, Die Soziologie vor der Geschichte, Berlin 2022, S. 191 ff. Abbott, Andrew, Was machen Fälle eigentlich, in ders., Zeit zählt. Grundzüge einer prozessualen Soziologie, Hamburg 2020, S. 152 ff.
- Beard., Mary., Kleopatras Nase. Neue Begegnungen mit der Alten Geschichte, Frankfurt am Main 2017, S. 26.
- Für diese Überlegung gilt mein Dank Markus Lang.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.
Kategorien: Demokratie Geld / Finanzen Geschichte Politik Politische Ökonomie Sozialer Wandel Staat / Nation Wirtschaft
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