Hubertus Buchstein | Essay | 09.09.2025
Gegen den Vulgärdemokratismus
Der demokratische Verfassungsstaat, politische Tugenden und demokratische Resilienz
Die Diskussionen über Philip Manows im vergangenen Jahr erschienenes Buch zur Genealogie und Kritik des Begriffs der „liberalen Demokratie“ oder Julian Nida-Rümelins aktuelle Streitschrift zur Rettung der Demokratie[1] haben einmal mehr verdeutlicht, wie sehr die Antworten auf die Frage nach der Wehrhaftigkeit beziehungsweise Resilienz der Demokratie vom demokratietheoretischen Grundverständnis der jeweiligen Antwortgeber*innen abhängen. Es genügt, sich exemplarisch die konkurrierenden Theorieansätze der radikalen Demokratietheorie, der partizipativen Demokratietheorie, der Elitentheorie der Demokratie und der liberal-repräsentativen Demokratietheorie vor Augen zu halten, um zu sehen, wie unterschiedlich die aus den jeweiligen Perspektiven sich ergebenden Vorschläge ausfallen: Die Erstgenannten setzen auf politische Konfliktverschärfung, die Zweitgenannten auf neue Formen der Bürgerbeteiligung und die beiden Letztgenannten auf eine Stärkung der politischen Eliten und der Exekutive beziehungsweise der Gerichtsbarkeit. Angesichts dieser Vielstimmigkeit im Chor der Antworten bedarf es Klarheit darüber, was gegenwärtig politisch auf dem Spiel steht. Als ersten Schritt in Richtung einer solchen Klarheit braucht es einen Paradigmenwechsel in unserem politischen Vokabular, der die Dinge beim Namen nennt und dabei auch deutlich macht, welche Möglichkeiten der Verteidigung gegenüber seinen Feinden der demokratische Verfassungsstaat bietet. Neudeutsch gesprochen: Es bedarf einer demokratiepolitischen Diskursverschiebung.
Schluss mit dem allgemeinen Gerede von ,der‘ Demokratie!
Meines Erachtens leidet die aktuelle Debatte über die Wehrhaftigkeit der Demokratie insbesondere daran, dass sie mit einem Vokabular geführt wird, das von einem falschen normativen Modell der in der Bundesrepublik bestehenden politischen Ordnung ausgeht. Die entsprechenden Lektionen älterer Politikwissenschaftler wie Ernst Fraenkel, Dolf Sternberger, Wilhelm Hennis oder Peter Graf Kielmansegg sind mittlerweile offenbar in Vergessenheit geraten. Entgegen der landläufigen Meinung und dem ihr entsprechenden Sprachgebrauch ist die politische Ordnung des Grundgesetzes nämlich keine Demokratie, sondern sie entspricht dem Typus einer Mischverfassung mit der Inkorporierung nicht demokratischer Strukturelemente. Daran ändert auch Jürgen Habermas’ elaborierte Theorie des demokratischen Rechtsstaats nichts, mit der er die Gleichursprünglichkeit von Demokratie und Menschenrechten zu begründen sucht.[2] Es wäre also eigentlich am besten, das irreführende Wort „Demokratie“ durch eine Bezeichnung zu ersetzen, die ohne die semantischen Belastungen der attischen demokratia auskommt.
Nun haben sich vorgeschlagene Alternativbegriffe wie „Politie“ (Dolf Sternberger) oder „Polyarchie“ (Robert A. Dahl) bekanntlich nicht durchsetzen können; der politische Eros des „demokratischen Versprechens“ (Dirk Jörke) hat sich bislang offenbar als zu stark erwiesen, um sich endgültig vom Demokratiebegriff zu verabschieden. Dieses Versprechen birgt allerdings neben den emanzipatorischen Hoffnungen vieler Linker auch Gefahren, die in der Aushebelung von rechtsstaatlichen Garantien und institutioneller Gewaltenvielfalt im Namen eines unbedingten Volkswillens bestehen. Ernst Fraenkel hatte diese Gefahren einst als „Vulgärdemokratismus“[3] bezeichnet. Die repressiven Wirkungen eines solchen Vulgärdemokratismus lassen sich in Ländern wie Ungarn oder der Türkei schon seit Jahren gut beobachten. Der vormalige österreichische Kanzlerkandidat der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), Herbert Kickl, hat den vulgärdemokratischen Furor mit seinem populistischen Wahlslogan „Euer Wille geschehe“ treffsicher auf den Punkt gebracht.[4]
Spätestens angesichts des wachsenden Erfolgs solcher – in Deutschland vor allem von der Alternative für Deutschland (AfD) propagierten – Parolen bedarf es einer politiktheoretischen Selbstvergewisserung unter den Anhänger*innen der politischen Ordnung des Grundgesetzes. Ein erster Schritt dazu bestünde darin, endlich mit dem allgemeinen und undifferenzierten Gerede von ,der‘ Demokratie Schluss zu machen und einen terminologischen Paradigmenwechsel einzuläuten. Statt ohne nähere Qualifizierungen immer nur von ,der‘ Demokratie zu sprechen, sollte man in öffentlichen Debatten zukünftig den Begriff des demokratischen Verfassungsstaates als Alternativbegriff in den Vordergrund stellen.
Dieser Begriff transportiert eine zentrale Botschaft. Sie besagt, dass die in der bundesdeutschen Verfassung formulierten Grundwerte, individuellen Rechtsgarantien und institutionellen Strukturen Vorrang vor dem Demokratieprinzip haben. Diese triviale Einsicht ist sowohl für die politische Bildung als auch für das Selbstverständnis und -bewusstsein derjenigen, die das Instrumentarium der wehrhaften Demokratie gegen Gegner der Verfassungsordnung handhaben und einsetzen müssen, von erheblicher praktischer Bedeutung. Unablässig wird seitens der rechtsextremen AfD im Namen der Demokratie und unter Berufung auf den vermeintlichen Volkswillen an den Grundfesten der bestehenden politischen Ordnung gerüttelt. Ein solcher Vulgärdemokratismus darf von der normativen Position des demokratischen Verfassungsstaates ausgehend guten Gewissens und mit allen dem Rechtsstaat zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpft werden. In jedem Fall aber sollte er nicht auch noch ungewollt gefüttert werden mit Theoremen aus dem philosophischen Argumentationsbestand der selbsternannten radikalen Demokratietheorie.[5]
Das magische Dreieck des demokratischen Verfassungsstaates
In der Theorie des demokratischen Verfassungsstaates bilden Bürger*innenrechte, Bürger*innenqualifikationen und institutionelle Arrangements so etwas wie die Eckpunkte eines magischen Dreiecks. Die besondere Magie dieses Dreiecks besteht darin, dass – je nach der speziellen Ausformulierung des Theorieansatzes unterschiedlich konturiert – sowohl Synergie- als auch Kompensationseffekte zwischen den drei Eckpunkten konstruiert werden. Beispielsweise müssen staatliche oder zivilgesellschaftliche Institutionen nicht ausschließlich als Ersatz für sparsame bürger*innenschaftliche Tugendzumutungen gedacht werden. Sie können auch als Produktions- und Stabilisierungszusammenhang von bürgerschaftlichen Tugenden gedacht werden – in diesem Fall stehen die beiden Eckpunkte des magischen Dreiecks dann nicht in einem Konkurrenz-, sondern in einem wechselseitigen Reproduktionsverhältnis. Ein weiteres Beispiel liefert die Beobachtung, dass bestimmte Formen von Bürger*innenrechten zu ihrer Realisierung Äquivalente in der Qualifikations- und Institutionenkomponente benötigen, denn die Verwirklichung sozialer oder ökologischer Bürger*innenrechte ist sowohl auf weithin geteilte Gerechtigkeitsintuitionen als auch auf passförmige assoziative Strukturen (Gewerkschaften, sozialpolitische Verbände, umweltpolitische Organisationen) angewiesen. Das Verhältnis von Bürger*innenrechten und Bürger*innenqualifikationen lässt sich – um eine dritte Beispielkonstellation anzuführen – aber auch so begreifen, dass die Bürger*innenqualifikationen erst das Fundament für die Realisierung der Rechte bilden. Nach dieser Logik erhöhen sich mit den rechtlichen Gewährleistungen automatisch auch die Zumutungen an die Bürger*innen; es wird von ihnen ein höheres Maß an Toleranz verlangt, wenn die soziale Heterogenität der Mitbürger*innen steigt, es wird aktive Teilnahme gefordert, wenn politische Rechte realisiert werden sollen, oder es wird eine gewisse Umverteilungsbereitschaft erwartet durch Steuerabgaben, um die sozialen Rechte von finanziell schlechter gestellten oder von außerordentlichen Belastungen betroffenen Mitbürger*innen zu realisieren.
Die genannten Beispielkonstellationen veranschaulichen, dass die Eckpunkte des magischen Dreiecks intern aufeinander verweisen und dass sich die konkreten Ausbuchstabierungen der normativen Theorie des demokratischen Verfassungsstaates danach unterscheiden lassen, wie sie dessen ideale Tektonik entwerfen.
Der politische Tugenddiskurs
Die Theorie des demokratischen Verfassungsstaates erachtet alle Eckpunkte des magischen Dreiecks für gleichermaßen konstitutiv. Demgegenüber messen politische Theorien, die den Demokratiebegriff priorisieren, den Bürger*innen gegenüber den Rechten und den institutionellen Strukturen ein stärkeres Gewicht bei. Das vulgärdemokratische Vokabular zwingt gleichsam dazu, den Bürger*innen ein hohes Maß an politischen Qualifikationen und eine herausragende Rolle im politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess zuzuschreiben. Verfechter*innen der politischen Ordnung des Grundgesetzes, die einem solchen demokratietheoretischen Selbstmissverständnis aufsitzen, machen es sich damit unnötig schwer, die beiden anderen Ecken des magischen Dreiecks in ihre Überlegungen zur Demokratieresilienz einzubeziehen. Das aber macht ihnen die Ausschöpfung des kompletten Instrumentariums des demokratischen Verfassungsstaates im Umgang mit seinen Feind*innen schwierig bis unmöglich.
Die demokratietheoretischen Debatten über Bürger*innenqualifikationen werden nun schon seit mehr als vier Jahrzehnten unter der Überschrift „politische Tugenden“ diskutiert. In diesen Debatten gibt es bis heute eine Reihe an Unklarheiten. Zwei davon will ich hier aufgrund ihrer Bedeutung gesondert hervorheben:
- Zum einen wird der Status des Tugendbegriffs sehr unterschiedlich verortet. Führen einige Autor*innen den Tugendbegriff instrumentell ein, da ihres Erachtens die Institutionen des demokratischen Verfassungsstaates ohne Büger*innentugenden nicht überlebensfähig sind, so werden Tugenden von anderen Autor*innen (meist mit aristotelischen Bezügen) als intrinsisch wertvoll angesehen. In der ersten Variante sind politische Tugenden die funktional notwendige Bedingung des demokratischen Verfassungsstaates (Ernst-Wolfgang Böckenförde); in der zweiten Variante ist die politische Tugend die Form des guten Lebens selbst (Dolf Sternberger, Hannah Arendt).
- Des Weiteren besteht kein Konsens darüber, an wen der Tugenddiskurs eigentlich adressiert ist. Sind es die Bürger*innen, die durch das öffentliche Bejammern von angeblichen Mängeln periodisch aufgerüttelt werden sollen? Oder richtet sich der Diskurs in erster Linie als Mahnung an Pädagog*innen, gesellschaftspolitische Multiplikator*innen oder gar nur an die Zunft der Politikwissenschaftler*innen?
So oder so: Der Tugenddiskurs der vergangenen Jahrzehnte ist so wortreich wie ergebnislos geblieben. Zwar wird das Bild des/r tugendhaften demokratischen Bürger*in aus der Zivilgesellschaft in politischen Festreden nach wie vor regelmäßig abgefeiert; im Bereich der politischen Theorie war die Debatte allerdings von prominenten Vertreter*innen bereits in den 1990er-Jahren vom Kranken- auf das Sterbebett verlegt worden.[6]
Da Totgesagte jedoch auch im wissenschaftlichen Diskurs bisweilen länger leben, ist es in der politikwissenschaftlichen Literatur zum Thema Krise und Regression der Demokratie seit einiger Zeit zu einer bemerkenswerten Wiederentdeckung des/r informierten und engagierten Bürger*in als unabdingbarer Ressource für den Erhalt und die Stabilität der Demokratie gekommen. Jahrzehntelang wurde die politische Bildung – auch und gerade in Kreisen der tonangebenden Politikwissenschaftler*innen in der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW), der Fachvereinigung der bundesdeutschen Politikwissenschaftler*innen – belächelt oder ignoriert und deren Vertreter*innen an den politikwissenschaftlichen Instituten nicht recht ernst genommen. Nun auf einmal kann man in den Schlusskapiteln der neueren Publikationen zur Krise der Demokratie – beispielsweise von Colin Crouch[7] oder Armin Schäfer und Michael Zürn[8] – die Forderung nach einer verbesserten politischen Bildung lesen. Das wirkt wie ein hilfloser Verzweiflungsappell.
Diese Beobachtung sollte jedoch diejenigen, die im Fach Politikwissenschaft zur politischen Bildung arbeiten, nicht zur Häme verführen, sondern als Chance begriffen werden, um die praktischen politikdidaktischen Implikationen solcher Forderungen (sowie den sich daraus ableitenden finanziellen und personellen Bedarf) zu erläutern. Zu solchen Erläuterungen gehört allerdings auch der ehrliche Hinweis auf die engen Grenzen der Wirkungsmöglichkeiten von staatlich betriebener politischer Bildung. Wenn sich Mainstream-Politolog*innen erstmals mit der politischen Bildung befassen, dann werden sie vermutlich mit einem gewissen Erstaunen bemerken, wie sehr die Bilder des normativen Idealbürgers in den Debatten zur politischen Bildung divergieren: Der regelkonforme Bürger, die duldsame und zurückhaltende Bürgerin, der informierte Bürger, die pflichtbewusste Bürgerin, der verantwortungsvolle Bürger, die vertrauende Bürgerin, der tolerante Bürger, der partizipationswillige Bürger, die loyale Bürgerin, der solidarische Bürger, der moralisch inspirierte Bürger, der reflektierende Bürger, die couragierte Bürgerin, der zivilen Ungehorsam oder Widerstand leistende Bürger – und seit einigen Jahren zunehmend auch die den demokratischen Verfassungsstaat verteidigende Bürgerin.
Das bürger*innenschaftliche Kompetenzprofil
Vor dem Hintergrund der aufgelisteten Vielfalt möchte ich eine von mir schon vor längerer Zeit vorgeschlagene Systematisierung von Bürger*innenkompetenzen erneut auf den Tisch legen und zur Diskussion stellen.[9] Ich unterscheide zwischen (1) kognitiven Kompetenzen bezüglich des Inhalts politischer Entscheidungen, (2) prozeduralen Kompetenzen bezüglich der Verfahren politischer Entscheidungsfindung und (3) gemeinsinnorientierten und affektiv verankerten habituellen Dispositionen. Den Tugendbegriff reserviere ich dabei allein für die zuletzt genannte Dimension.
- Als kognitive Kompetenz soll das Verfügen über politische Präferenzlisten bezeichnet werden, die die formalen Eigenschaften besitzen, sachlich informiert, freiwillig entwickelt, gefestigt, vollständig und transitiv zu sein. In dieser Dimension geht es ausschließlich um die Wissensdimension von Politik.
- Prozedurale Kompetenzen umfassen zum einen die Kenntnisse und strategischen Fertigkeiten, die notwendig sind, um die eigenen Ziele innerhalb der Regeln des politischen Systems zu verfolgen, und zum anderen die Fähigkeit, die Tätigkeit politischer Amtsinhaber*innen nach eigenen Maßstäben zu beurteilen.
- Habituelle Dispositionen als dritte Ebene von Bürger*innenqualifikationen bilden den eigentlichen Kern des Tugenddiskurses. Hier geht es unter anderem um folgende Fragen: In welchem Maße sind die Bürger*innen bereit, den mit den jeweiligen Bürger*innenrechten verbundenen Pflichten nachzukommen? Verteidigen sie die Einhaltung liberaler Grundrechte? Nehmen sie die Mühen politischer Partizipation auf sich? Bringen sie die zur Realisierung sozialer Rechte nötige Solidarität auf? Sind sie bereit, im Sinne einer wehrhaften Demokratie für den demokratischen Verfassungsstaat aktiv einzustehen? Die Antworten auf diese Fragen geben Auskunft darüber, wie es um den sense of citizenship oder – wofür ich den Begriff ausschließlich reservieren möchte – die politische Tugend der Bürger*innen bestellt ist. Damit bezeichne ich Verhaltensdispositionen, welche die folgenden Eigenschaften haben: Sie sind gemeinsinnorientiert, affektiv verankert und handlungsmotivierend. Nur wenn alle drei Eigenschaften vorliegen, ist es sinnvoll, von politischer Tugend zu sprechen.
Politische Tugend bedarf somit zum einen der Bereitschaft von Akteur*innen, ihr Handeln nicht ausschließlich am Eigeninteresse, sondern auch an einem kollektiv geteilten Guten, den Zielen einer politisch definierten Gruppe zu orientieren. Man kann nicht für sich allein politisch tugendhaft sein. Tugend ist ein reflexiver Filter, der Akteur*innen nötigt, ihre politischen Präferenzen und Handlungen moralisch oder ethisch zu evaluieren. Zur politischen Tugend gehört zweitens eine nicht kognitive Verankerung dieser Orientierung. Durch Praktiken der Übung und Gewöhnung internalisierte Tugenden sind der freien Wahl der Akteur*innen nur sehr begrenzt zugänglich. Sie sind aber in dem Sinne eine freiwillig erbrachte Leistung, als die Bereitschaft zum tugendhaften Handeln nicht von außen erzwungen werden kann, sondern sich aus einer inneren Motivationsquelle speisen muss. Politische Tugend bedarf drittens der Bereitschaft, über das bloße Wissen hinaus, was in einer konkreten Situation zu tun gut oder richtig ist, dieses auch im konkreten Handeln gegen innere und äußere Widerstände zu realisieren. Politische Tugend ist demnach ein komplexer Begriff, der sich von den ersten beiden Komponenten des staatsbürgerlichen Qualifikationsprofils darin unterscheidet, dass eine bestimmte mentale Ausrichtung (auf das Gemeinwohl) mit handlungsmotivierenden Dispositionen untrennbar verwoben ist.
Die Tugenden des demokratischen Verfassungsstaates
Unterschiedliche politische Systeme bedürfen zu ihrem Erhalt unterschiedlicher Sorten von motivationalen Ressourcen auf Seiten der Bürger*innen. Autoritäre und diktatorische Systeme beispielsweise benötigen eine ausgeprägte Bereitschaft zu unbedingtem Gehorsam. Bürger*innentugend im engeren Sinne hingegen zählt nur für solche Systeme zu den Bestandsvoraussetzungen, die demokratische Strukturelemente inkorporiert haben. Im spezifischen Fall des demokratischen Verfassungsstaates können die passenden Tugenden zunächst allgemein als Set an gemeinwohlorientierten Einstellungen gefasst werden, über die eine hinreichend große Zahl an Bürger*innen in ausreichendem Maße verfügen muss. Nur auf einer solchen gemeinsamen Basis kann eine politische Streitkultur ohne notorisch desintegrative Effekte gedeihen.
Der konkrete Tugendkatalog für den Mischtyp des demokratischen Verfassungsstaates beinhaltet einerseits habituelle Dispositionen, die in jedem Staatswesen hinreichend verbreitet sein müssen. Hinzu kommen andererseits solche Tugenden, die für den (Fort-)Bestand des rechtsstaatlichen Liberalismus, der demokratischen Selbstregierung, eines intervenierenden Sozialstaats sowie (seit neuerer Zeit anerkannt) einer ökologisch nachhaltigen Lebensweise notwendig sind. Erschwerend wirkt in diesem Zusammenhang, dass die Bürger*innentugenden aufeinander abgestimmt sein müssen. Für den Typus des demokratischen Verfassungsstaates lässt sich damit folgender Katalog aufstellen: Als staatliche Gemeinwesen bedürfen sie der Tugenden der Loyalität (der Bereitschaft, für die Gemeinschaft aller Mitbürger*innen Verantwortung zu übernehmen) und des Mutes (der Bereitschaft, das Gemeinwesen gegen Bedrohungen zu verteidigen). In ihrer liberalen Komponente sind sie angewiesen auf Rechtsgehorsam (auf freiwilliger und daher reflexiver Basis), Kooperationsbereitschaft, Fairness und Toleranz (die Bereitschaft, ethische Differenzen auszuhalten). In ihrer demokratischen Komponente bedürfen sie Tugenden der Partizipation (der Bereitschaft, sich an der öffentlichen Diskussion zu beteiligen), der Verantwortlichkeit (der Bereitschaft, politische Entscheidungen vor einem längerfristigen Zeithorizont zu evaluieren) sowie der Argumentation (der Bereitschaft, sich für die eigene Meinung öffentlich zu rechtfertigen). In ihrem sozialstaatlichen Moment benötigen sie zudem die Tugenden des sozialen Gerechtigkeitssinns und der Solidarität. In ihrer freiheitlichen Komponente berücksichtigen sie schließlich auch die legitimen Autonomieinteressen zukünftiger Generationen.
Unabhängig davon, ob der von mir aufgelistete Tugendkatalog des demokratischen Verfassungsstaates nun hinreichend, zu weit oder in allen Punkten konsistent ist, provozieren normative Theorien der/s Bürger*in im demokratischen Verfassungsstaat natürlich prompt die Frage nach dem adäquaten politikwissenschaftlichen Umgang mit solchen oder ähnlichen Katalogen. Doch – just for the sake of the argument – nur einmal angenommen, dass der genannte Katalog zumindest einige der für den Bestand des demokratischen Verfassungsstaates notwendigen wesentlichen Tugenden enthält, dann resultiert daraus sofort als Anschlussfrage: Wie gehen politische Bildner*innen und Politikwissenschaftler*innen mit dem naheliegenden Verdacht um, dass es sich bei den demokratischen Tugenden um eine ausgesprochen anspruchsvolle, schutzbedürftige und knappe Ressource handelt? Die klassische Reaktion auf diesen Verdacht lautet in Deutschland: staatsbürgerliche Erziehung beziehungsweise politische Bildung – und diese Antwort wird sogar von großen Teilen der dem Neutralitätsgebot verpflichteten liberalen Sozialphilosophie verteidigt. Doch beim Versuch einer Kartografie der unterschiedlichen vorgeschlagenen Wege, um diese aufgelisteten Bürger*innenqualifikationen einzustudieren, zu animieren oder zu reproduzieren, hilft auch das bestprogrammierte Navi nicht wirklich weiter. Die in der Literatur genannten Trainingslager für Bürger*innenqualifikationen decken eine viel zu umfangreiche Palette ab. Sie reicht vom Alltag in einer ethischen Gemeinschaft, der familiären Erziehung und der schulischen Sozialisation über obligatorische Gemeinschaftsarbeiten und Militärdienst bis hin zur Eigendynamik politischer Beteiligung und dialogischer Praxis oder neuen Partizipationsstrukturen wie ausgelosten Bürger*innenräten und natürlich der politischen Bildung.
Doch was hat zu geschehen, wenn man sich in Polykrisen des demokratischen Verfassungsstaates nicht auf das pädagogische Polen beziehungsweise Auftanken der staatsbürger*innenschaftlichen Batterien verlassen will? Wenn sich die politische Streitkultur von der notwendigen gemeinsamen Basis entfernt, weil sich ein der Teil Bürger*innen extremen, verfassungsfeindlichen Parteien zuwendet? Wenn diese Parteien – wie die AfD in Teilen Ostdeutschlands – in eine Machtposition gelangen können, die es ihnen ermöglicht, Vetopositionen im politischen Prozess zu erobern? Und wenn Teile der etablierten Parteien dem Populismus der Extremisten rhetorisch und inhaltlich nacheifern, statt ihm entgegenzutreten?
Die Wehrhaftigkeit des demokratischen Verfassungsstaates
Die Theorievarianten innerhalb des Paradigmas des demokratischen Verfassungsstaates unterscheiden sich also gar nicht so sehr in dem Grad der an den Bürger abstrakt herangetragenen Kompetenzzumutungen, sondern stärker darin, welche Bedeutung sie neben der politischen Bildung den beiden anderen Momenten des oben genannten magischen Dreiecks, konkret dem System der Rechte sowie den staatlichen Exekutivinstitutionen für den Erhalt oder die Stabilisierung der politischen Ordnung zuschreiben. Man kann – wie auch ich es zumindest versucht habe – mehr oder weniger Kluges über Bürger*innenqualifikationen und Tugendkataloge schreiben, doch man kommt an einer Einsicht nicht vorbei: Auch bei den drei von mir skizzierten Dimensionen eines Bürger*innenqualifikationsprofils (kognitiv, prozedural, habituell) handelt es sich um eine ebenso knappe wie anspruchsvolle und schutzbedürftige Ressource.
Das Konzept der Tugend kann den Bestand und das Wohlergehen der Verfassungsordnung nicht allein garantieren, es müsste im vulgärdemokratischen Denken aber genau dies leisten können. Im Hinblick auf die Resilienz demokratischer Systeme wäre das keine gute Nachricht – und machte den terminologischen Paradigmenwechsel gegenwärtig umso nötiger. Angesichts der steigenden Wahlergebnisse für eine offen rechtsextremistische und verfassungsfeindliche Partei wie die AfD halte ich es für unabdingbar, für den Schutz der politischen Ordnung auf das institutionelle Instrumentarium des wehrhaften, streitbaren oder militanten demokratischen Verfassungsstaates zu setzen. So wichtig die politische Bildung für die Förderung eines angemessenen Bürger*innenqualifikationsprofils hinsichtlich der Praktiken gelingender politischer Streitkultur auch sein mag – angesichts der offenen Herausforderung durch rechtsextreme Verfassungsfeinde ist der Einsatz des gesamten rechtstaatlichen Instrumentariums zur Verteidigung dieser Ordnung so legitim wie erforderlich. Also: eine konsequente gerichtliche Verfolgung von Volksverhetzung und beleidigenden Verunglimpfungen, eine Kürzung der finanziellen Ausstattung der AfD, ein Verbot des Zugangs von Rechtsextremisten zu Positionen im öffentlichen Dienst und in öffentliche Ämter sowie ein Parteien- und Vereinsverbot. Die in vulgärdemokratische Worte gehüllten Proteste seitens der Rechtsextremisten prallen an einem klaren Verständnis von den normativen Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaates ab. In der momentanen politischen Situation vermöchte der konsequente und erfolgreiche Einsatz der Institutionen des demokratischen Verfassungsstaates gegen seine gegenwärtigen Feinde aus dem rechtsextremistischen Lager bei vielen Bürger*innen sogar positiv Eindruck zu machen, weil er zeigte, dass sich der demokratische Verfassungsstaat nicht wehrlos mit der passiven Opferrolle abfindet. Das würde auch das tugendhafte Band unter den Anhängern des demokratischen Verfassungsstaates verstärken – und könnte somit ein weiteres Beispiel für positive Synergieeffekte im magischen Dreieck des demokratischen Verfassungsstaates abgeben.
Fußnoten
- Vgl. Tobias Müller / Hubertus Buchstein, It’s the constitutionalization, stupid! Rezension zu „Unter Beobachtung. Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde“ von Philip Manow, in: Soziopolis, 3.7.2024 sowie Jens Hacke, Geht’s raus und machts Demokratie!, in: Süddeutsche Zeitung, 31.7.2025.
- Vgl. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt am Main 1992.
- Ernst Fraenkel, Strukturanalyse der modernen Demokratie [1969], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5: Demokratie und Pluralismus, hrsg. von Alexander von Brünneck, Baden-Baden 2007, S. 314–343, hier S. 323.
- So die Aufschrift auf FPÖ-Plakaten während des Wahlkampfs im Sommer 2024 in Wien und andernorts.
- Vgl. Hubertus Buchstein, Warum im Bestaunen der Wurzeln unter der Erde bleiben? Eine freundliche Polemik zu den radikalen Demokratietheorien anlässlich des Einführungsbuches von Oliver Flügel-Martinsen, in: Theorieblog, 19.10.2020.
- Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung; Rainer Schmalz-Bruns, Reflexive Demokratie. Die demokratische Transformation moderner Politik, Baden-Baden 1995.
- Colin Crouch, Postdemokratie revisited, übers. von Frank Jakubzik, Berlin 2021, S. 240–260.
- Armin Schäfer / Michael Zürn, Die demokratische Regression. Die politischen Ursachen des autoritären Populismus, Berlin 2021, S. 220–222.
- Vgl. Hubertus Buchstein, Demokratietheorie in der Kontroverse, Baden-Baden 2009, S. 80–83.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.
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