Sven Altenburger | Essay | 09.09.2025
Pflicht, Freiheit und Gleichheit
Zur normativen Rechtfertigung von Wehr- und Dienstpflicht
Der jüngst vom Bundeskabinett beschlossene „Neue Wehrdienst“ wird die öffentliche Debatte um die Wehr- und Dienstpflicht vermutlich nicht abklingen lassen. Allerdings ließe sich die Debatte weitaus gehaltvoller führen, als dies derzeit der Fall ist. Mit der Wehr- und Dienstpflicht sind schließlich zentrale Fragen politischer Ordnung und des Selbstverständnisses politischer Gemeinwesen verknüpft, die politiktheoretisch wie ideengeschichtlich fundierte Perspektiven einfordern. Hierzulande sind solche Perspektiven bislang eher essayistisch und zuweilen polemisch vorgetragen worden.[1] Der vorliegende Aufsatz widmet sich dagegen systematischer den normativen Werten, Prinzipien und Überlegungen, die den Einbezug der Bürgerschaft in Verteidigungsfragen leiten können. Dabei führt er Argumente weiter, die ich im Rahmen ausführlicher politiktheoretischer und ideengeschichtlicher Auseinandersetzungen mit der Wehr- und Dienstpflicht entwickelt habe.[2]
Meine zentrale These lautet, dass eine Wehrpflicht normativ legitim sein kann – allerdings nur, wenn sie in Form einer egalitären Dienstpflicht ausgestaltet ist. Dabei argumentiere ich von einer normativ wertepluralistischen Warte abseits von amoralischem Realismus und realitätsfernem Pazifismus.[3] Leitend sind die Annahmen, dass es prinzipiell moralisch zulässig sein kann, militärische Gewalt auszuüben, und dass in der Welt, wie sie sich derzeit darstellt, Militärinstitutionen notwendig und legitim sein können. Das Argument besteht aus drei Teilen: Im ersten Teil argumentiere ich, dass es moralische Bürgerpflichten zum Schutz eines legitimen Gemeinwesens und der Mitmenschen gibt, die unter bestimmten Umständen einen persönlichen Militärdienst erfordern und durch eine Wehrpflicht rechtlich kodifiziert werden können. Im zweiten Teil erörtere ich, weshalb der Einwand der moralischen Überforderung und der Vorwurf des illegitimen Freiheitseingriffs zweifelsfrei Gewicht haben, aber argumentativ und institutionell weitgehend entkräftet werden können. Und im dritten Teil lege ich dar, warum eine Wehrpflicht – auch unabhängig vom Pflichtargument – nur als egalitäre Dienstpflicht zu rechtfertigen ist. Im Zuge der Entfaltung des prinzipiellen Arguments rekurriere ich auch auf den deutschen Kontext, insbesondere in den abschließenden Bemerkungen.[4]
1. Moralische Schutzpflichten und Wehrpflicht
Sind wir moralisch verpflichtet, unsere Mitmenschen und unser demokratisches Gemeinwesen zu schützen? Zur Beantwortung dieser Frage müssen einerseits der mögliche Ursprung solcher Pflichten und andererseits die Bedingungen für ihre Geltung geklärt werden.
Im Einklang mit dem Gros der zeitgenössischen politischen Theorie gehe ich davon aus, dass Individuen positive moralische Pflichten besitzen, also Pflichten zum Handeln zugunsten anderer. Zudem setze ich den moralischen Wert territorial gebundener und begrenzter Bürgerschaft, mit der spezifische moralische Pflichten einhergehen, voraus.[5] Diese zweite Annahme ist politiktheoretisch umstrittener und nicht zwingend erforderlich, trägt jedoch ganz wesentlich zur Stärkung des Arguments bei. Bürgerschaft kann sowohl ein intrinsischer Wert zugesprochen werden – im Sinne des moralischen Guts gleicher Mitgliedschaft in einem partikularen demokratischen Gemeinwesen –, als auch ein instrumenteller, wenn sie als Mittel zur Sicherung anderer wichtiger moralischer Güter begriffen wird. Dabei ist der Konnex von Bürgerschaft und Demokratie zentral: So ist davon auszugehen, dass – zumindest auf absehbare Zeit – jegliche Form von Demokratie abseits territorial gebundener und begrenzter Bürgerschaft aus politisch-institutionellen wie kulturell-sozialpsychologischen Gründen vor kaum lösbaren Machbarkeitsproblemen steht.[6]
Die mit dem Bürgerschaftsstatus verbundenen moralischen Pflichten werden in der zeitgenössischen politischen Theorie im Wesentlichen mit drei unterschiedlichen Ansätzen begründet. So lassen sich Bürgerinnenpflichten etwa aus einer vorgelagerten moralischen Gerechtigkeitspflicht ableiten. Transaktionale Ansätze greifen hingegen auf Gesellschaftsvertrags- oder Fairnessüberlegungen zurück. Schließlich verschreiben sich assoziative Theorien einer Position des ethischen Partikularismus und postulieren, dass besondere Pflichten ihren Ursprung im Bürgerstatus haben.[7] Hier soll keine bestimmte Begründungstheorie verteidigt werden; es genügt vielmehr festzustellen, dass entsprechend all dieser einflussreichen Theorien mit dem Bürgerschaftsstatus moralische Pflichten einhergehen.
Eine spezifische Bürgerinnenpflicht wird häufig darin gesehen, sowohl die Mitmenschen als auch die Institutionen des eigenen Gemeinwesens zu schützen – wobei der Gemeinwesensschutz freilich als mittelbarer Mitmenschenschutz konzipiert werden kann.[8] Diese Pflicht übersteigt dabei in Umfang und Stärke andere, vom Bürgerstatus unabhängige, universelle und besondere Pflichten, Menschen vor unzulässigen Eingriffen in ihre Rechte zu schützen.[9] Allerdings wird die Bürgerinnenpflicht zum Schutz der Mitmenschen und des Gemeinwesens gemeinhin von bestimmten normativen und kontextuellen Voraussetzungen abhängig gemacht.[10] Zum einen ist zu klären, ob ein bestimmtes Gemeinwesen und seine Institutionen über hinreichende normative Legitimität verfügen, die Voraussetzung für eine Schutzpflicht gegenüber diesem Gemeinwesen ist. Zum anderen geht es um die Interpretation zusätzlicher Kontextfaktoren, die für die Geltung der Pflichten von Bedeutung sind. Da hier der militärische Schutz vor äußeren Angriffen im Mittelpunkt steht, ist die Beurteilung der spezifischen Sicherheitslage eines Gemeinwesens unabdingbar. Schließlich kämen Schutzpflichten vor äußeren Bedrohungen in einem vollständig friedlichen Sicherheitsumfeld nicht zum Tragen, da die nötigen Kontextbedingungen fehlten.
Wird von der Existenz dieser moralischen Schutzpflichten der Bürgerschaft ausgegangen, ist damit noch nicht geklärt, wie diese zu erfüllen sind. Zur Abwehr von äußeren Bedrohungen durch staatliche Akteure lassen sie sich – so das hier vertretene Argument – unter gegenwärtigen Bedingungen effektiv nur über den Rückgriff auf eigene Staatsinstitutionen erfüllen.[11] In vielen Staaten erfolgt dies derzeit primär über Steuerzahlungen oder die Aufnahme von Staatsschulden, mit denen Streitkräfte finanziert werden. Schutzpflichten werden somit steuerlich vermittelt und an ein Berufsheer ausgelagert, welches das Gemeinwesen und dessen Einwohner nach Möglichkeit durch Abschreckung und im Ernstfall durch militärische Gewalt schützt.[12] Dieser Konstruktion liegt eine zutiefst liberale Annahme zugrunde: Bürgerinnen und Bürger zahlen Steuern und Abgaben, bleiben aber ansonsten vom politischen Gemeinwesen weitgehend unbehelligt.
Tatsächlich können die Bürgerinnen und Bürger ihre Schutzpflichten gegenüber dem Gemeinwesen und ihren Mitmenschen aber auch persönlich erfüllen – etwa durch einen freiwilligen Militärdienst. Aus klassisch-republikanischer Sicht sollten Bürger ihre Verteidigung und die dafür notwendige Ausbildung selbst übernehmen – als Ausdruck und zur Stärkung ihres bürgerschaftlichen Ethos.[13] In liberalen Demokratien ist jedoch ein konsequentialistisches Argument überzeugender: Demnach erweist sich der persönliche Militärdienst zur Ableistung der Schutzpflicht dann als notwendig, wenn es den Militärinstitutionen des Gemeinwesens nicht gelingt, auf andere moralisch und demokratietheoretisch zulässige Weise hinreichend Personal zu gewinnen und ihre steuerfinanzierte Schutzfunktion somit eingeschränkt ist.
Doch kann eine moralische Militärdienstpflicht auch bereits in Friedenszeiten bestehen? Hier lässt sich das konsequentialistische Notwendigkeitsargument um den Aspekt des Zeitbedarfs für militärische Ausbildung und deren organisatorische Voraussetzungen ergänzen: Gilt nämlich im legitimen Verteidigungsfall eine Schutzpflicht für (nahezu) alle Bürgerinnen und Bürger, ist zu bedenken, dass dann kaum noch ausreichend Zeit für eine sachgemäße Ausbildung verbleibt. Eine wirksame Pflichterfüllung im Verteidigungsfall setzt daher eine vorgelagerte militärische Ausbildung (nahezu) aller Bürgerinnen und Bürger voraus. Diese wird damit selbst zur vorausschauenden Pflicht, und zwar insbesondere in Friedenszeiten bei angespannter sicherheitspolitischer Lage.[14]
Bis hierhin war nur von rein moralischen Schutzpflichten die Rede. Diese können durch eine Wehrpflicht aber auch rechtlich kodifiziert werden. Dabei wird die moral- und rechtsphilosophische Position vorausgesetzt, dass die rechtliche Kodifizierung moralischer Pflichten prinzipiell zulässig ist.[15] Die Wehrpflicht lässt sich – wie jede formale Institution und Policy – unter verschiedenen Gesichtspunkten in Bezug auf ihre Zulässigkeit und Zweckdienlichkeit diskutieren. Mich interessiert hier jedoch ausschließlich ihre Begründung als Verrechtlichung moralischer Schutzpflichten, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen lässt sich der eben entwickelte konsequentialistische Gedankengang fortführen: Wird der funktional notwendig gewordenen moralischen Pflicht zum Militärdienst nicht ausreichend freiwillig entsprochen, rechtfertigt dies ihre Verrechtlichung. Vieles deutet im gegenwärtigen deutschen Fall darauf hin, dass eine solche Konstellation vorliegt.[16] Zum anderen ist nur durch eine solche Rechtspflicht sicherzustellen, dass die moralischen Schutzpflichten von (nahezu) allen Bürgerinnen und Bürgern übernommen werden und Trittbrettfahrerei nicht zum Massenphänomen wird. Bevor ich dieses Argument im dritten Argumentationsschritt des Beitrags ausführlich entfalten werde, gilt es zunächst, mögliche Einwände gegen moralische Schutzpflichten und ihre Verrechtlichung zu diskutieren.
2. Unzumutbarkeit und Freiheit: Einwände und Entgegnungen
Sowohl gegen moralische Schutzpflichten als auch gegen eine rechtlich kodifizierte Wehrpflicht lassen sich gewichtige normative Einwände vorbringen. Ich beginne mit jenen gegen moralische Schutzpflichten: So wird häufig eingewandt, dass eine Pflicht zum persönlichen Militärdienst moralisch nicht zulässig, überfordernd oder nicht zumutbar sei, da sie erhebliche Lasten – von der Verletzung oder Tötung anderer bis hin zur eigenen Verletzung oder Tötung – mit sich bringen kann. Der Einwand moralischer Unzulässigkeit bleibt hier unberücksichtigt, da mein Argument auf nicht-pazifistischen Prämissen beruht, die militärische Gewaltanwendung grundsätzlich gestatten. Doch kann in vielen liberalen Theorien die Übernahme der selbstgefährdenden und fremdschädigenden Aufgaben, die mit dem Militärdienst einhergehen können, auch deshalb keine Pflicht sein, weil von Individuen nicht erwartet werden kann, persönliche Opfer dieser Stärke zu erbringen. Anstelle einer Pflicht wird so mitunter von einem supererogatorischen Akt gesprochen, der moralisch lobenswert, aber eben nicht verpflichtend ist.[17]
Hinsichtlich dieses Einwands moralischer Überforderung oder Unzumutbarkeit lässt sich jedoch entlastend festhalten, dass die Pflichterfüllung nicht zwangsläufig mit Akten der Selbstgefährdung und Fremdschädigung verbunden sein muss. Auch jenseits des Diensts an der Waffe lassen sich Schutzpflichten gegenüber dem Gemeinwesen und den Mitmenschen auf zumutbare Weise innerhalb und außerhalb der Streitkräfte ableisten – etwa in der militärischen Logistik, im Sanitätsdienst oder im Zivilschutz. Aus liberaler Perspektive müsste somit sichergestellt sein, dass diese alternativen Einsatzbereiche Individuen stets offenstehen. Wenn selbst diese substitutiven Formen der Schutzleistung als überfordernd oder unzumutbar gelten, ist fraglich, ob die zugrundeliegende normative Position die Aufrechterhaltung demokratischer Ordnung im Verteidigungsfall zu begründen vermag.
Auch wenn grundsätzlich konzediert wird, dass der persönliche Militärdienst eine Pflicht sein kann, wird diese dennoch aus vielen normativen Perspektiven angesichts der potenziellen Lastenschwere an besonders hohe Rechtfertigungsanforderungen geknüpft.[18] So müssen die bereits dargelegten normativen und kontextuellen Voraussetzungen erfüllt sein, damit diese Pflicht ausgelöst wird und zudem gegenüber konfligierenden Pflichten zur Friedfertigkeit Vorrang beanspruchen kann.
Daneben kann für eine persönliche Militärdienstpflicht jedoch auch mit Blick auf die institutionellen Alternativen argumentiert werden: Demokratische Gemeinwesen können schließlich auch auf anderem Wege militärisches Personal gewinnen – etwa über private Militärfirmen, Fremdenlegionäre oder Kontingente von verbündeten Staaten. Doch ist Gewaltanwendung zu Profitzwecken – wie sie bei Militärfirmen erfolgt – nicht nur moralisch suspekt, sondern widerspricht auch der modernen Errungenschaft, einen engen Konnex zwischen Bürgerschaft und militärischen Verteidigungsaufgaben herzustellen: Die genannten Alternativen entkoppeln das Soldatentum vom Bürgerschaftsstatus und den damit verbundenen Loyalitätsbindungen wie staatlichen Zugriffsmöglichkeiten, was effektive Rechenschaftsmechanismen und demokratische Kontrolle untergräbt.[19] Der vorzugswürdige Weg ist somit der Rückgriff auf den Dienst der Bürgerinnen und Bürger, die in größerem Umfang persönliche Schutzpflichten erfüllen sollten. Institutionell lässt sich dies grundsätzlich in einer Berufsarmee, einem stehenden Wehrpflichtheer, einer Bürgermiliz oder einer Kombination dieser idealtypischen Modelle realisieren.
Ich komme nun zu grundsätzlichen Einwänden spezifisch gegen die Wehrpflicht. Der normativ gewichtigste Einwand gegen diese Institution lautet, dass sie auf unzulässige Weise die individuelle negative Freiheit und Autonomie der Bürgerinnen und Bürger einschränke.[20] Dieser Einwand ist moralisch höchst intuitiv und wird stets von unterschiedlichen Positionen im liberalen Spektrum vorgebracht – wobei historisch besonders die neoliberale Wehrpflichtkritik politisch wirkmächtig war. [21]
Auch diesem Einwand können entlastende Faktoren entgegengehalten werden. Schließlich kann die Wehrpflicht institutionell variabel gemäß liberalen Erfordernissen ausgestaltet werden und beispielsweise Ausnahmen aus Gewissensgründen ausdrücklich erlauben. Prinzipieller kann dem Freiheits- und Autonomie-Einwand mindestens auf drei Arten begegnet werden. Erstens ließe sich dessen zugrundeliegendes negatives Freiheitsverständnis problematisieren: So muss die Wehrpflicht nicht zwangsläufig als Freiheitsverlust gelten, etwa wenn Freiheit stärker als kollektives Gut verstanden wird. Doch wird in einer liberalen Gesellschaft wohl niemand ernsthaft behaupten wollen, dass die Wehrplicht keinen Eingriff in die individuelle Freiheitssphäre darstelle. Zweitens ließe sich das institutionelle Alternativmodell der sogenannten „Freiwilligenarmee“ stärker hinterfragen: dieses verzichtet zwar auf Rechtszwang, ist aber deshalb noch lange nicht frei von anderen Zwängen, etwa ökonomischen.[22] Bezüglich der Bundeswehr ist dieses Argument jedoch eher zu vernachlässigen – die Diagnose einer „Unterschichtenarmee“, in der ökonomische Zwänge wirken, geht derzeit wohl fehl. Der dritte Weg, dem Freiheits- und Autonomie-Einwand zu begegnen, ist der meines Erachtens vorzugswürdige: Hier wird zugestanden, dass eine Wehrpflicht die negative Freiheit und Autonomie der Bürgerinnen und Bürger einschränkt – doch folgt daraus keine zwingende Delegitimierung der Institution. Schließlich gibt es neben der negativen Freiheit der Einzelnen weitere moralische Güter, die mit dieser konfligieren können und die in einer wertepluralistischen Gesellschaft, die negative Freiheit nicht absolut setzt, ebenso von Bedeutung sind.[23] Neben den zentralen Werten Sicherheit und kollektive Freiheit, die hier aus Platzgründen nicht systematisch erörtert werden, gibt es mindestens einen weiteren Wert, der große Relevanz beanspruchen kann: Bürgergleichheit.
3. Bürgergleichheit: Dienstpflicht statt Wehrpflicht
Im Folgenden argumentiere ich, dass eine Wehrpflicht normativ nur als egalitäre Dienstpflicht gerechtfertigt werden kann – gestützt auf den Wert der Bürgergleichheit. Dies ergänzt und verstärkt das Pflichtargument, kann aber auch davon unabhängig normative Geltung beanspruchen. Grundvoraussetzungen sind auch hier die sicherheitspolitische Notwendigkeit von handlungsfähigen Militärinstitutionen sowie eine hinreichende normative Legitimität des betreffenden politischen Gemeinwesens. Allerdings weise ich auch daraufhin, dass eine egalitäre Dienstpflicht ihrerseits positive Auswirkungen auf die normative Beschaffenheit des Gemeinwesens haben könnte.
Historisch ist der egalitäre Wehrpflichtgedanke insbesondere seit der Französischen Revolution wirkmächtig, obgleich er nie hinreichend realisiert wurde. Systematisch nimmt das Argument seinen Ausgang von der Feststellung, dass der Dienst im Militär eine der härtesten, sozial erwünschten Tätigkeiten eines Gemeinwesens darstellt. Er ist – unabhängig von dem, was uns die Marketingkampagnen der Bundeswehr seit Jahren glaubhaft machen wollen – kein Job für Abenteurer und Selbstverwirklicher, sondern die potenziell gefährlichste, kollektiv organisierte Tätigkeit im Dienst des Gemeinwohls. Auch wenn es andere gefährliche Arbeiten wie etwa Bergbau oder Hochbauarbeiten gibt, unterscheiden sich diese vom Soldatentum dadurch, dass sich ihre Risiken prinzipiell durch bessere Arbeitsbedingungen minimieren lassen und dass sie keine vergleichbaren moralischen Lasten implizieren.[24]
Aus diesem Grund scheint es gerechtfertigt, dem Dienst im Militär eine besondere gesellschaftliche Stellung und Anerkennung einzuräumen. Dies sollte eine Abkehr vom Modus der ausschließlich marktbasierten Allokation dieser Tätigkeit beinhalten. Aus egalitärer Perspektive führt dieser Modus nämlich zwangsläufig zu einem self-selection bias und sozialen Ungerechtigkeiten, da besonders Wohlhabende und bestimmte soziale Schichten nicht oder kaum im Militär dienen.[25] Stattdessen sollten – wie klassisch John Rawls und Michael Walzer argumentieren – der Militärdienst und dessen inhärente Risiken qua Wehrpflicht auf (nahezu) alle Bürgerinnen und Bürger im Laufe ihres Lebens verteilt werden.[26] Eine Wehrpflicht kann eine formal gleiche Wehrdienstteilnahme garantieren und damit zu einer faireren Lastenverteilung führen sowie moralische Trittbrettfahrerei verhindern. Das Gleichheitsprinzip findet dabei (in aller Regel) auf bestimmte Alterskohorten Anwendung, die aus verschiedenen Gründen am besten für den Wehrdienst geeignet sind – woraus sich langfristig eine gesamtgesellschaftliche Dienstgleichheit ergibt.
Doch kann die Wehrpflicht für sich genommen – zumindest so, wie sie üblicherweise praktiziert wird – eine formale Gleichheit der Wehrdienstteilnahme nicht hinreichend verwirklichen. Zur Illustration sei an dieser Stelle knapp auf bundesrepublikanische Regelungen verwiesen: Erstens ist der grundgesetzlich verankerte Ausschluss von Frauen von der Wehrpflicht hervorzuheben. Dieser folgt einer historisch gewachsenen patriarchalen Ordnungslogik, der zufolge Männer öffentliche Aufgaben übernehmen und Frauen sich dem privaten Bereich widmen. Diese Logik degradiert Frauen mindestens symbolisch zu Bürgern zweiter Klasse.[27] Zweitens unterminierte die Regelung, dass Untaugliche keinen zivilen Ersatzdienst leisten mussten, das Prinzip der Bürgergleichheit. Drittens führten zahlreiche Zurückstellungen, etwa wegen Ausbildungs- und Berufssituationen oder dienender Familienangehöriger, zu weiteren Ungleichheiten.
Nur eine übergreifende und geschlechtsunabhängige Dienstpflicht, bei der Wehr- und Zivildienst gleichberechtigt nebeneinanderstehen und die Betroffenen wählen können, für welche Variante sie sich entscheiden, kann somit dem Gleichheitsprinzip gerecht werden. Das Aufbrechen tradierter geschlechtsspezifischer Regelungen würde damit dem Beispiel sämtlicher skandinavischer Staaten folgen, die die Wehrpflicht auf Frauen ausgeweitet haben. Die institutionelle Gleichrangigkeit von Wehr- und Zivildienst würde zudem dafür sorgen, dass Personen unabhängig von ihrer Militärtauglichkeit herangezogen werden. Ausnahmen sollte es nur in Härtefällen geben, etwa im Falle schwerer gesundheitlicher Beeinträchtigung oder aufgrund der Versorgung pflegebedürftiger Angehöriger.
Nun wäre es freilich eine recht schwache Begründung der nicht militärischen Dienstpflichtkomponente, wenn diese einzig dazu diente, die Gleichheitsproblematik der Wehrpflicht zu entschärfen. Der zivile Pfeiler einer Dienstpflicht lässt sich aber auch selbstständig plausibel begründen.[28] Zwei wichtige Rechtfertigungsgrundlagen seien kurz angesprochen: Zum einen lässt sich das egalitäre Argument der (zumindest partiellen und symbolischen) Teilung harter Lasten auch auf viele zivile Tätigkeiten im Rahmen einer Dienstpflicht anwenden, die häufig gesellschaftlich essenziell, aber individuell stark belastend sind – man denke unter anderem an bestimmte Tätigkeiten im Gesundheits- und Pflegebereich.[29] Zum anderen lassen sich im Rahmen einer Dienstpflicht auch Fähigkeiten vermitteln, die für Schutzpflichten im Verteidigungsfall zentral sind und über die rein militärische Dimension hinausgehen.[30] Bürgerinnen und Bürger könnten beispielsweise in einer verpflichtenden nicht militärischen Grundausbildung elementare Sicherheits- und Überlebenstechniken erlernen, während der anschließende Dienst auch im nicht militärischen Sicherheitsbereich wie den Blaulichtorganisationen oder dem Infrastrukturschutz geleistet werden könnte. Hier konvergiert die Sachdienlichkeit von Gesamtverteidigung mit den oben skizzierten liberalen Erfordernissen, die Pflichterfüllung abseits potenzieller Selbst- oder Fremdschädigung zu ermöglichen.[31]
Der Wert der Bürgergleichheit kann einer eigenständigen Begründung der Dienstpflicht dienlich sein. Über den unmittelbaren Gerechtigkeitsaspekt hinaus könnte eine Dienstpflicht zudem langfristig egalitäre Wirkungen entwickeln. Entscheidend hierfür wären Regelungen, die bewirken, dass Bürgerinnen und Bürger im Rahmen der Diensterbringung über Grenzen von Schicht, Milieu, Herkunft und Geografie hinweg miteinander interagieren. Aus einer solchen Anordnung könnten Erfahrungen erwachsen, die gegenseitige Verbundenheit und Vertrauen stärken.[32] Somit könnte eine Dienstpflicht auf lange Sicht auch den Nährboden für verstärkte gesellschaftliche Solidarität sowie egalitärere Mentalitäten und Policies herausbilden – und damit die normative Beschaffenheit des politischen Gemeinwesens positiv prägen.[33]
4. Dienstpflicht in Deutschland?
Ich fasse zusammen: Moralische Schutzpflichten und der Wert der Bürgergleichheit bilden eine normative Grundlage für die Rechtfertigung einer Wehr- oder Dienstpflicht. Sie ergänzen und verstärken sich dabei; auch wenn sie unabhängig voneinander gelten können, ist Bürgergleichheit für die Begründung einer Dienstpflicht unverzichtbar, die wiederum die einzig normativ überzeugende Form der Wehrpflicht darstellt. Die Einwände der Unzumutbarkeit und Freiheitsbeschränkung sind überwindbar, verlangen jedoch angemessene Berücksichtigung bei der institutionellen Ausgestaltung. Die entsprechenden Überlegungen basieren dabei auf der nicht idealen Berücksichtigung der gegenwärtigen Staatenwelt und globalen Sicherheitslage, in der Streitkräfte zu Verteidigungszwecken vielfach notwendig und absoluter Pazifismus bedauerlicherweise keine wirklichkeitskompatible moralische Position darstellt.
Was ergibt sich aus dem hier entwickelten Argument für die heutige Situation in Deutschland? Eine Antwort erfordert sowohl eine Positionierung zur normativen Legitimität des deutschen Gemeinwesens als auch eine Deutung seiner Sicherheitslage. Beide Aspekte werden in der derzeitigen öffentlichen Debatte intensiv, aber oft unsystematisch behandelt. Die Frage der Sicherheitslage ist insofern leichter zu beantworten, als es hierbei im Wesentlichen um die Interpretation von Fakten und nicht um normative Werturteile geht. Ungeachtet berechtigter Differenzen lässt sich nicht ignorieren, dass nahezu alle demokratischen Bundestagsparteien sowie die Sicherheits- und Regionalforschung weitgehend darin übereinstimmen, dass von Russland eine erhebliche Gefahr für Deutschland und die europäische Sicherheitsordnung ausgeht, der nicht zuletzt mit effektiver Abschreckung begegnen werden sollte.[34]
Doch ist Deutschland es wert, verteidigt zu werden? Hier ist zunächst kritischen Stimmen teilweise beizupflichten: Hierzulande bestehen erhebliche sozioökonomische Gerechtigkeitsdefizite – als Stichworte seien nur die eklatante und weiter wachsende Einkommens- und Vermögensungleichheit, ein sozioökonomisch abgehängtes Bevölkerungsdrittel und niedrige Löhne in systemrelevanten Berufen genannt. Diese Zustände sind nicht nur offensichtlich ungerecht, sondern gefährden die normativen wie praktischen Grundlagen des demokratischen Gemeinwesens[35] – und damit auch eine zentrale normative Voraussetzung für eine Dienstpflicht. Dringend geboten sind somit Policies, die hier korrigierend eingreifen. Dies sollte eine signifikante Reform der monetären Bürgerinnenpflichten einschließen, wofür es – gerade in Zeiten wachsender Verteidigungsausgaben – historische Vorbilder und aktuelle Vorschläge gibt.[36]
Sollten entsprechende Strukturreformen also eine zwingende Voraussetzung für die Einführung einer Dienstpflicht sein? Dies scheint angesichts der aktuellen Sicherheitslage und derzeitigen politischen Machtverhältnisse in Deutschland ein schwieriges und potenziell gefährliches Unterfangen. Stattdessen sei erneut – freilich hoffnungsvoll – auf das egalitäre Potenzial einer Dienstpflicht verwiesen: So trägt die Institution bei angemessener Ausgestaltung einen egalitären Impuls in sich, indem sie sozioökonomische und soziokulturelle Unterschiede zumindest temporär zu relativieren vermag. Dadurch könnte sie den Boden für verstärkte gesellschaftliche Solidarität sowie egalitärere Mentalitäten und Policies bereiten. Die gegenwärtige sicherheitspolitische Lage eröffnet den politischen Möglichkeitsraum für eine Institution, die über ihre zentrale Schutzfunktion hinaus egalisierende Wirkung entfalten könnte. Statt eine gerechtere demokratische Ordnung zur legitimatorischen Voraussetzung einer Dienstpflicht zu machen, könnte die Institution vielmehr (auch) durch das Bestreben nach größerer Gleichheit gerechtfertigt werden. Dieses egalitäre Potenzial einer Dienstpflicht sollte stärker gewürdigt werden. Es gilt, für eine Ausgestaltung der Institution einzutreten, die die normativen Werte und Prinzipien einer Gesellschaft gleicher Bürgerinnen und Bürger stärkt und sich von einseitig (neo-)liberalen Markt- und Freiheitskonzeptionen lossagt.
Fußnoten
- Siehe beispielsweise Oliver Eberl / Julian Nicolai Hofmann, Das Opfer der Anderen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.4.2025, S. 14; Egon Flaig, Die Demokratie vor dem Ernstfall, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.3.2025, S. 12; Jürgen Habermas, Für Europa, in: Süddeutsche Zeitung, 21.3.2025; Leander Scholz, Zwischen Freiheit und Pflicht, in: ipg-journal, 25.3.2025; Dietrich Schotte, Sterben für den Staat?, in: Philosophie Magazin 82 (2025), S. 11–12.
- Vgl. Sven Altenburger, Reconsidering Military and Civil Conscription, in: The Journal of Politics 87 (2025), 2, S. 464–478. Einige Passagen des vorliegenden Beitrags finden sich in ähnlicher Form auch in einem längeren deutschsprachigen Aufsatz, der zur Publikation eingereicht ist.
- Vgl. Seth Lazar, War, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy Archive (Spring 2020 Edition), 3.5.2016; Michael Walzer, Just and Unjust Wars. A Moral Argument with Historical Illustrations [1977], 5. Aufl., New York 2015. Ich beziehe mich hier insbesondere auf jene Spielarten des Pazifismus, die ein absolutes Gewaltverbot fordern oder militärische Gewaltanwendung praktisch unmöglich machen.
- Normative Erwägungen, die mit der Unionsbürgerschaft, humanitären Pflichten, globalsicherheitspolitischen Kalkülen und zwischenstaatlichen Bündnissen im Zusammenhang stehen, werden in diesem Aufsatz ausgeklammert.
- Für unterschiedliche Begründungen des moralischen Werts von Bürgerschaft vgl. Richard Dagger, Civic Virtues: Rights, Citizenship, and Republican Liberalism, Oxford u. a. 1997; Andrew D. Mason, Living Together as Equals: The Demands of Citizenship, Oxford 2012, S. 71–76; Nathan Pippenger, Listening to Strangers, or: Three Arguments for Bounded Solidarity, in: American Journal of Political Science 67 (2023), 3, S. 764–775. Diese normative Ausgangsprämisse schließt einzelne politische Theorietraditionen aus, wie etwa Anarchismus, Libertarismus und Teile des Kosmopolitismus.
- Vgl. Richard Bellamy, Citizenship: A Very Short Introduction, Oxford 2008; Dirk Jörke, Die Größe der Demokratie. Über die räumliche Dimension von Herrschaft und Partizipation, Berlin 2019; Sarah Song, The Boundary Problem in Democratic Theory: Why the Demos Should Be Bounded by the State, in: International Theory 4 (2012), 1, S. 39–68.
- Vgl. etwa Dagger, Civic Virtues; Mason, Living Together as Equals; Anna Stilz, Liberal Loyalty: Freedom, Obligation, and the State, Princeton, NJ 2009.
- Vgl. Seth Lazar, A Liberal Defence of (Some) Duties to Compatriots, in: Journal of Applied Philosophy 27 (2010), S. 246–257, hier S. 246; Cécile Fabre, War, Duties to Protect, and Military Abolitionism, in: Ethics & International Affairs 35 (2021), 3, S. 395–406, hier S. 397.
- Ob sich auf Grundlage dieser anderen Pflichten eine moralische Militärdienstpflicht oder gar eine gesetzliche Wehrpflicht begründen lässt, sei hier dahingestellt. Vgl. dazu Hugo A. Bedau, Military Service and Moral Obligation, in: Martin Anderson (Hg.), The Military Draft, Stanford, CA 1982, S. 181–204, hier S. 193 f.; Fabre, Duties to Protect; Michael L. Gross, Is There a Duty to Die for Humanity? Humanitarian Intervention, Military Service and Political Obligation, in: Public Affairs Quarterly 22 (2008), 3, S. 213–229; Seth Lazar, Associative Duties and the Ethics of Killing in War, in: Journal of Practical Ethics 1 (2013), 1, S. 3–48. Historisch vgl. etwa Robert B. Westbrook, Why We Fought. Forging American Obligations in World War II, Washington, DC 2004.
- Vgl. Bedau, Military Service and Moral Obligation, S. 193 f.
- Vgl. Walzer, Just and Unjust Wars, S. 341; Fabre, Duties to Protect, S. 39 f.
- Vgl. Yuichiro Mori, Defending the Universal Right to Flee Against the Duty to Fight for One’s Nation, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 111 (2025), 1, S. 7–25, hier S. 15, 17 f.
- Vgl. Jean-Jacques Rousseau, The Social Contract and Other Later Political Writings, Cambridge 1997, S. 113; William A. Galston, A Sketch of Some Arguments for Conscription, in: Philosophy & Public Policy Quarterly 23 (2003), 3, S. 2–7, hier S. 5 f.; Marcus Llanque, Der republikanische Bürgerbegriff. Das Band der Bürger und ihre kollektive Handlungsfähigkeit, in: Thorsten Thiel / Christian Volk (Hg.), Die Aktualität des Republikanismus, Baden-Baden 2016, S. 95–123, hier S. 100–104.
- Vgl. Fabre, War, Duties to Protect, and Military Abolitionism, S. 397–399 bezüglich der vorausschauenden moralischen Pflicht, ein stehendes Heer für den Kriegsfall zu unterhalten.
- Vgl. Cécile Fabre, Mandatory Rescue Killings, in: Journal of Political Philosophy 15 (2007), 4, S. 363–384, hier S. 373 f.; Lazar, A Liberal Defence of (Some) Duties to Compatriots, S. 254; Mason, Living Together as Equals, S. 5, 78 f.; Stilz, Liberal Loyalty, S. 5 f., 8, 209.
- Vgl. Peter Dausend, Ausgemustert, in: Die Zeit, 2.4.2025; Alexandr Burilkov / Guntram Wolff, Europa ohne die USA verteidigen: eine erste Analyse, was gebraucht wird, in: Kiel Policy Brief 183 (2025).
- Vgl. bspw. Stilz, Liberal Loyalty, S. vii.
- Vgl. bspw. Bedau, Military Service and Moral Obligation.
- Vgl. klassisch Raymond Aron, Is Multinational Citizenship Possible?, in: Social Research: An International Quarterly 41 (1974), 4, S. 638–656. Zu den moralischen und demokratietheoretischen Problemen von privaten Militärfirmen, vgl. Chiara Cordelli, The Wrong of Mercenarism: A Promissory Account, in: The Journal of Political Philosophy 31 (2023), 4, S. 470–493; James Pattison, The Morality of Private War. The Challenge of Private Military and Security Companies, Oxford 2014.
- Vgl. bspw. Pattison, The Morality of Private War, S. 122–124; John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge, MA 1971, S. 380.
- So zumindest im wichtigen US-amerikanischen Fall. Vgl. Deborah Cowen, Fighting for „Freedom“: The End of Conscription in the United States and the Neoliberal Project of Citizenship, in: Citizenship Studies 10 (2006), 2, S. 167–183; Milton Friedman, The Case for Abolishing the Draft – and Substituting for It: An All-Volunteer Army, in: The New York Times, 14.5.1967, S. SM11.
- Michael J. Sandel, What Money Can’t Buy: The Moral Limits of Markets, in: The Tanner Lectures on Human Values 21 (1998), S. 87–122, hier S. 110–112.
- Vgl. ähnlich Mason, Living Together as Equals, S. 78 f.
- Michael Walzer, Spheres of Justice: A Defense of Pluralism and Equality, New York 1983, S. 165–183. Freilich variieren die Risiken des Soldatentums zwischen Friedens- und Kriegszeiten erheblich. Hier wird von den stets möglichen Lasten im Kriegsfall ausgegangen. Dabei ist auch zu bedenken, dass man als Reservist diesen potenziellen Risiken ausgesetzt bleibt.
- Im historischen Liberalismus, etwa bei John Locke, findet sich dabei die implizite Annahme, dass Wohlhabendere ihrer Pflicht durch Steuerzahlungen nachkommen, während der Militärdienst von ärmeren Bevölkerungsschichten geleistet wird. Vgl. April Carter, Liberalism and the Obligation to Military Service, in: Political Studies 46 (1998), 1, S. 68–81, hier S. 73 f.
- Vgl. Rawls, A Theory of Justice, S. 381; Walzer, Spheres of Justice. Im Gegensatz zu Walzer rechtfertigt Rawls eine Wehrpflicht nicht über das Gleichheitsargument, sondern über den Schutz individueller Freiheit unter bestimmten Umständen; Gleichheit gilt bei ihm lediglich als normatives Ausgestaltungserfordernis (vgl. Rawls, A Theory of Justice, S. 380 f.).
- Vgl. R. Claire Snyder, Citizen-Soldiers and Manly Warriors: Military Service and Gender in the Civic Republican Tradition, Lanham 1999. Für eine nuancierte Analyse, siehe April Carter, Women, Military Service and Citizenship, in: Barbara A. Sullivan / Gillian Whitehouse (Hg.), Gender, Politics and Citizenship in the 1990s, Kensington 1996, S. 100–119. Für ein knappes Argument zugunsten der geschlechtsunabhängigen Wehrpflicht in Deutschland, siehe Ruth Seifert, Frauen, Militär und Wehrpflicht, in: Ines-Jacqueline Werkner (Hg.), Eine Rückkehr zur Wehrpflicht?, Heidelberg 2025, S. 19–27. Während die Thematik zunehmend öffentlich diskutiert wird, steht eine aktuelle demokratietheoretische Analyse aus.
- Zur Debatte dazu vgl. Altenburger, Reconsidering Military and Civil Conscription; Andreas Cassee / Sabine Hohl, Die allgemeine Dienstpflicht: Eine Kritik, in: Zeitschrift für Praktische Philosophie 10 (2023), 2, S. 15–38; Bouke de Vries, Care-Deficits and Polarization: Why the Time is Ripe for a Universal Care Conscription, in: Nursing Ethics 29 (2022), 3, S. 709–718; Debra Satz, In Defense of a Mandatory Public Service Requirement, in: Royal Institute of Philosophy Supplement 91 (2022), S. 259–269.
- Vgl. Walzer, Spheres of Justice, S. 174–177.
- Vgl. Elisabeth Braw, The Case for National Resilience Training for Teenagers, in: RUSI Occasional Paper, March 2020; James Kenneth Wither, Back to the Future? Nordic Total Defence Concepts, in: Defence Studies 20 (2020), 1, S. 61–81.
- Vgl. Altenburger, Reconsidering Military and Civil Conscription, S. 467 f. zu normativen Folgeproblemen und Lösungsansätzen für eine Dienstpflicht, die Bürgergleichheit anstrebt, zugleich aber die Wahl zwischen militärischem und zivilem Dienst erlaubt.
- Vgl. bspw. Richard Dagger, A Duty to Serve? Responsibility, Reciprocity and the Paradox of Civic Service, in: Juncture 12 (2005), 1, S. 15–21; Satz, In Defense of a Mandatory Public Service Requirement.
- Dadurch entsteht freilich ein gewisses Paradox: Die Dienstpflicht könnte die normative Legitimität eines politischen Gemeinwesens heben, die gleichfalls Voraussetzung für die Einführung einer Dienstpflicht ist. Siehe ähnlich auch bereits Dagger, A Duty to Serve?.
- Vgl. bspw. Seth G. Jones, Russia’s Shadow War Against the West, in: CSIS Briefs, März 2025; Andrea Kendall-Taylor / Michael Kofman, Putin’s Point of No Return. How an Unchecked Russia Will Challenge the West, in: Foreign Affairs, 18.12.2024; Jeffrey Mankoff, The War in Ukraine and Russia’s Quest to Reshape the World Order, in: Survival 66 (2024), 5, S. 99–126.
- Das lässt sich hier nicht vertiefen; anstelle vieler, siehe jüngst dazu Thomas Piketty / Michael Sandel, Equality: What it Means and Why it Matters, Cambridge 2025.
- Vgl. bspw. Kenneth F. Scheve / David Stasavage, Taxing the Rich: A History of Fiscal Fairness in the United States and Europe, Princeton, NJ 2016; Sven Altenburger, The Case for Tax Publicity, in: European Journal of Political Theory, Online First, 27.4.2025; Wolfgang Kessler, Pflichtdienst und Grunderbe: Warum wir beides brauchen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik (2025), 1, S. 33–36.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.
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