Timo Daum | Rezension | 04.05.2022
Privacy im digitalen Kapitalismus
Rezension zu „Industry Unbound. The Inside Story of Privacy, Data, and Corporate Power” von Ari Ezra Waldman

Aktuell liegen dem US-amerikanischen Kongress und der Securities and Exchange Commission (SEC) zehntausende Seiten interner Facebook-Dokumente vor, die die Whistleblowerin Frances Haugen ihnen zur Verfügung gestellt hat. Die Dokumente haben eine Debatte über das ausgelöst, was schon lange an verschiedenen Stellen vermutet wurde: nämlich wie schädlich Facebook insbesondere für seine jungen Nutzer:innen tatsächlich ist, und seit wann das Unternehmen um diesen Umstand weiß. Die Tech-Industrie, allen voran Meta Platforms, also das Unternehmen das neben Facebook auch Instagram, WhatsApp und andere soziale Medien unter sich vereint, steht unter Beschuss. Ihre Bemühungen, sich als verantwortungsbewusste Sachwalter unserer digitalen Leben darzustellen, können durchaus als gescheitert bezeichnet werden. Lange ist es her, dass Facebook für seine (vermutlich überschätzte) Rolle im Arabischen Frühling gefeiert wurde oder für seine Fähigkeit, junge Wähler:innen in den USA für den ersten schwarzen Präsidentschaftskandidaten zu mobilisieren. Heute hingegen dominieren schwerwiegende Probleme: Fake News, Hatespeech, Meinungs- oder gar Wahlmanipulation beherrschen die Debatte, und die informationelle Monopolmacht der Plattformen gerät ins Visier von Politik, Regulierungs- und sogar Strafverfolgungsbehörden. Facebook hat vor diesem Hintergrund die Flucht nach vorn angetreten und versucht, sich im Metaversum neu zu erfinden.
Eine entfesselte Industrie
Entgegen aller Beteuerungen dreht sich doch die gesamte Aktivität der Digitalkonzerne um das organisierte und systematische Unterlaufen von privacy (Datenschutz) – so die zentrale These von Ari Ezra Waldmans Buch Industry Unbound. Die Digitalkonzerne seien zu einer Überwachungsindustrie geworden, deren Alltagsgeschäft darin bestehe, ständig jene Prinzipien zu unterlaufen, zu deren Schutz und Bewahrung sie angeblich angetreten sind.
In seinem neuen Buch konzentriert sich der führende Experte für Recht, Technologie und Gesellschaft auf die „soziale Praxis des Datenschutzrechts“[1] in großen Tech-Unternehmen: Als „doing privacy“ beschreibt Waldman die Praxis der Umsetzung von Rechtsauffassungen in Computer-Code, der wiederum in Form von Apps, anderen Anwendungen und Online-Angeboten die digitale Welt beherrscht. Diese Art von „Daten(schutz)praxis“ stelle gleichzeitig die systemische Demontage seiner eigenen Grundlagen dar, so Waldman, Professor für Rechtswissenschaften und Informatik sowie Direktor des Center for Law, Information and Creativity (CLIC) an der Northwestern University in Boston.[2]
„Doing privacy“
Waldmans Thema ist die Alltagspraxis der Unternehmen, die mit ihrer Aktivität tagtäglich darüber bestimmen, wie Datenschutz beziehungsweise der Erhalt der Privatsphäre tatsächlich aussieht, Waldman nutzt den Begriff der „Datenschutzpraxis“ oder „doing privacy“. Eine Formulierung, die an „doing gender“ erinnert und mit der – in der Denktradition von Judith Butlers Unbehagen der Geschlechter – gemeint ist, dass gender oder eben hier privacy sich erst durch soziale Praktiken herstellt, also immer wieder neu ausgehandelt und konstituiert werden muss.
Bei Waldman wird privacy von einem abstrakten Prinzip oder Rechtsgut zu einer performativen Alltagspraxis, die von privaten Unternehmen exekutiert wird; es geht dem Autor darum zu zeigen, „how companies do privacy”. Mit welcher Intention das System beziehungsweise die Gesetze „eigentlich“ gemacht wurden, sei unerheblich, entscheidend sei ihre tatsächliche manifeste Ausgestaltung; um mit dem Kybernetiker Stafford Beer zu sprechen: „Der Zweck eines Systems ist, was es macht.”[3] Überlegungen darüber, wofür ein System ursprünglich eigentlich gedacht gewesen ist, seien müßig.
Alltagspraxis
Für sein Buch hat Waldman zunächst zahlreiche Interviews geführt: Software-Ingenieur:innen, Datenschutzexpert:innen, Datenschutzanwält:innen, Verkaufspersonal und Führungskräfte kommen zu Wort. Er hat darüber hinaus auch mit Mitarbeiter:innen von Regulierungsbehörden, Risikokapitalgebern und Compliance-Verantwortlichen gesprochen. Auf diese Weise gelingt dem Autor eine plastische Beschreibung des Alltags in diesen Firmen, „in dem die einfachen Beschäftigten darauf eingeschworen wurden, den Überwachungsinteressen der Informationsindustrie zu dienen“.[4] In den Interviews mit Anwält:innen, Programmierer:innen und Designer:innen wird die Allgegenwärtigkeit einer isoliert-vernetzten corporate world deutlich, in der meist im Verborgenen eine hohle und scheinheilige Praxis stattfindet, und die in der folgenden Interviewantwort zum Ausdruck kommt:
F: „Wie wäre es, wenn Sie diese Standardeinstellungen in etwas anderes als die offenste Freigabeeinstellung ändern?“
A: „So wird es einfach nicht gemacht. Das würde das ganze System untergraben.“[5]
Waldman skizziert eine Welt, die hochprofessionell, geradezu fabrikmäßig mit Privacy umgeht, aber in ihrer Gesamtheit Buchstaben und Geist geltender Gesetze, best practices und Prinzipien guten Datenschutzes zuwiderläuft, ja ihnen gar entgegenarbeitet.
Die zu Regulierenden regulieren sich selbst
Die Implementierung und Umsetzung entsprechender Richtlinien und Gesetze wird zudem weitgehend den Plattformen selbst überlassen. Da verwundert es kaum, dass die Digitalkonzerne Regulierungsbemühungen zunehmend nicht nur öffentlich gutheißen, sondern sogar proaktiv fordern, führen sie doch zu verlässlichen rechtlichen Rahmenbedingungen, deren genaue Ausgestaltung bei den Unternehmen nicht kontrolliert wird. Regulierungsbehörden wie die US-amerikanische Federal Trade Commission (FTC) stellten schon ihrem Selbstverständnis nach kein Gegengewicht dar, sondern arbeiten Hand in Hand mit der Industrie.[6]
Auch die Europäische Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) und weitere europäische Gesetze überließen, so Waldmans Einschätzung, das Tagesgeschäft, die Exekution der von ihnen erlassenen Regularien den Firmen selbst. Er schreibt: „Gesetze wie die DSGVO verlassen sich ausdrücklich auf interne Datenschutzexperten, um die laufende Arbeit der Interpretation, Überwachung und Einhaltung zu erledigen.“[7] Die Kontrollbehörden sähen sich als Partner der Unternehmen und verweigerten sich ausdrücklich der Haltung, das Gesetz könne gegen Fehlverhalten in Stellung gebracht werden, ganz zu schweigen davon, deren zentrale Wertschöpfungsmechanismen zu gefährden.
Überwachungskapitalismus
Dass die Verletzung der Privatsphäre core operation der Digitalkonzerne ist, hat die Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff in ihrer Analyse des „Überwachungskapitalismus“[8] als ökonomisches Verwertungsmodell herausgearbeitet. In offensichtlicher Analogie zum Mehrwert bei Marx, den die Arbeiter im Produktionsprozess an das Kapital abführen, legt sie einen Mechanismus offen, innerhalb dessen die Nutzer:innen „Mehrverhalten“ (behavioural surplus) auf möglichst vielen Kanälen liefern. Die Nutzer:innen stellen gleichzeitig auch das „Vorhersage-Produkt“ her, nämlich verwertbare Information, die der Ware als Ergebnis des Produktionsprozesses entspricht. Schließlich werden diese Vorhersageprodukte auf einem eigens eingerichteten Verhaltensmarkt veräußert.
Waldman erkennt die Bedeutung der Zuboff’schen Analyse aus ökonomischer Perspektive an. „Der informationelle Kapitalismus ist eine gute Beschreibung der politischen Ökonomie unserer Zeit“, schreibt er. Diese Analyse sei aber nicht ausreichend, um „das Schicksal der Privatsphäre im informationellen Kapitalismus“[9] zu beschreiben.
Ganz ähnlich wie Waldman argumentierte schon Katharina Pistor in ihrem 2019 erschienenen Buch The Code of Capital. Sie zeigte zunächst eindrucksvoll, dass Regeln, Gesetze, Standards, internationale Abkommen etc. einen legal code konstituieren, der für die langfristige Reproduktion des Kapitals unerlässlich ist. Ebenso wie Waldman betont auch sie dabei den Prozess der ständigen Veränderung und Anpassung an neue Rahmenbedingungen. Das Kapital müsse seinen Zugriff auf assets via deren immer wieder neu formulierter und ausgehandelter Kodifizierung sicherstellen, um seinen von Gesetz und Ordnung anerkannten wie verteidigten Zugriff auf diese zu festigen.
Gegenmaßnahmen?
Was also tun? Wenn es um wirksame Gegenmaßnahmen geht, wird es bei Waldman eher vage, dieser Teil des Buches ist schwach. Der Autor betont, es würden Gesetze missachtet und Macht missbraucht, was nach all den Berichten, die er liefert, wahrlich nicht überrascht. Waldman schwankt an dieser Stelle in der Wahl möglicher Gegenmittel: Müssen die Gesetze einfach nur richtig angewendet werden, oder muss Privacy völlig neu definiert werden? Auch die Definition des Individuums als Warenbesitzer, als Konsumentin und Vertragspartner auf einem Markt wird von ihm letztlich nicht konsequent in Frage gestellt.
Hier fällt Waldman seine fehlende Perspektive auf oder das mangelnde Interesse für die ökonomischen Mechanismen seines Gegenstandes auf die Füße, sodass er hinter seiner eigenen Analyse zurückbleibt. An dieser Stelle ist Zuboff radikaler, weil ihre Analyse die tiefe Unvereinbarkeit von Datenschutz und dem zentralen Paradigma der privat angeeigneten ansatzlosen Datensammlung als Rohstoff eines Überwachungskapitalismus plausibel machen kann.
Fazit
Waldman zeichnet ein Porträt der gesellschaftlichen Praxis im Umgang mit der Privatsphäre in der politischen Ökonomie des informationellen Kapitalismus. Eindrucksvoll gelingt es ihm, seine Kernthese, nämlich dass die Umsetzung von Recht am Beispiel von Privacy als soziale Praxis zu verstehen sei, zu untermauern. Sein zentrales Argument lautet, dass dieses „organisatorische, technologische und diskursive System“ bewusst gegen Privacy aufgestellt sei.[10] Die informationskapitalistischen Unternehmen „perpetuieren ein System privatwirtschaftlicher Überwachung für den Profit“[11], so seine Feststellung.
Waldman gewährt seinen Leser:innnen einen faszinierenden Einblick in den Maschinenraum der überwachungskapitalistischen „großen Industrie” (Karl Marx). Das Buch ist – insbesondere als Ergänzung der eher ökonomisch-analytischen Arbeiten von Zuboff und Pistor – eine fabelhafte Darstellung der Alltagspraxis rund um Privacy im digitalen Kapitalismus.
Fußnoten
- Ari Ezra Waldman, Industry Unbound. The Inside Story of Privacy, Data, and Corporate Power, Cambridge 2021, S. xiv: „social practice of privacy law“, meine Übersetzung T. D. Alle folgenden Fußnoten enthalten den Originalwortlaut, dessen Übersetzung ich im Text vornehme.
- Waldman ist ebenfalls Gründer von @Legally_Queer, einem Social-Media-Projekt, das die Öffentlichkeit über die Geschichte, Gegenwart und Zukunft der LGBTQ-Freiheit aufklären möchte.
- Stafford Beer, Diagnosing the system for organizations, Chichester u. a. 1985, S. 99.
- S. 5: „the result is a system in which the rank and file have been conscripted into serving the information industry’s surveillance interests”.
- S. 222: „What about changing these default settings to something other than the most open sharing setting?” – „That’s just not how it’s done. That would undermine the whole system.”
- Debra A. Valentine, Industry Self-Regulation and Antitrust Enforcement: An Evolving Relationship, in: Federal Trade Commission, 24.5.1998.
- S. 3: „laws like the GDPR that explicitly rely on in-house privacy professionals to do the ongoing work of interpretation, monitoring, and compliance”.
- Shoshana Zuboff, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Frankfurt am Main / New York 2018.
- S. xiv.
- S. 5: „The organizational, technological, and discoursive system is stacked against privacy.”
- S. 260, „perpetuate a system of corporate surveillance for profit”.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
Kategorien: Daten / Datenverarbeitung Digitalisierung Geld / Finanzen Kapitalismus / Postkapitalismus Medien Politik Recht Technik
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