Lutz Raphael | Rezension |

Schadensbilanz eines fatalen Erfolgs

Rezension zu „Der Preis der Welt. Eine Globalgeschichte des Kapitalismus“ von Friedrich Lenger

Friedrich Lenger:
Der Preis der Welt. Eine Globalgeschichte des Kapitalismus
Deutschland
München 2023: C.H. Beck
669 S., 38,00 EUR
ISBN 978-3-406-80834-0

Friedrich Lenger, Neuzeithistoriker in Gießen, hat seinen Leibniz-Preis 2015 dazu genutzt, seine Forscherneugierde dem Weltphänomen Kapitalismus zuzuwenden. Nachdem er zunächst noch ganz auf den Spuren seiner preisgekrönten Sombart-Biografie den wissenschafts- und ideengeschichtlichen Fundamenten moderner Kapitalismusforschungen nachgegangen ist,[1] hat er nun eine Globalgeschichte des Kapitalismus vorgelegt. Auf nur 530 Seiten Text, denen weitere 170 Seiten Literaturnachweise angehängt sind, entwickelt Lenger in sechs Akten die bekannte Aufstiegsgeschichte kapitalistischen Wirtschaftens zur heute weltweit dominanten Wirtschaftsform. Das ist kurz und bündig, wenn man den langen Zeithorizont – vom 15. Jahrhundert bis heute – und die globalhistorische Perspektive bedenkt, der sich das Buch verschreibt.

Leitthema und roten Faden des Buches formuliert Lenger klar auf der ersten Seite: „Während die Rede von der Einen Welt im Zuge endloser Globalisierungsdiskussionen zur Binsenweisheit geworden ist, bleibt das Bewusstsein davon, dass wir auch von dieser Einen Welt leben, weniger ausgeprägt.“ (S. 11) Es geht deshalb in diesem Buch um die Dynamik eines welterfassenden und gleichzeitig die Lebensgrundlagen gefährdenden und zerstörenden Kapitalismus. Es ist eine Wirtschaftsgeschichte des Anthropozäns in Handbuchformat. Der Anspruch ist groß und, um es vorweg zu sagen, für den Rezensenten wird Lenger seinem Anspruch gerecht. Er zeichnet die großen Linien und Gestaltungsformen nach, in denen weltumspannende Unternehmungen auf der Suche nach profitablen Kapitalanlagen in den letzten fünf Jahrhunderten nach und nach die Kontinente durchdrungen, sich dabei aller gewinnträchtigen Rohstoffe bemächtigt und die Arbeitskraft von immer mehr Menschen profitorientiert genutzt haben. Zug um Zug wurden immer mehr Weltregionen und regionale Arbeits-, Lebens- und Wirtschaftsformen transformiert.

Beim Lesen des Buches hallen immer wieder die prophetischen Ankündigungen von Marx und Engels aus dem Manifest der Kommunistischen Partei nach. Nur beschreibt Lenger diesen Siegeszug einer weltweit vernetzten, Kultur- und Sprachgrenzen souverän überspringenden Form profitorientierter, auf Privateigentum beruhender Wirtschaft nicht im Ton politischer Prophetie, sondern in betont nüchterner Berichterstattung, ohne Hang zur thesenstarken, aber realitätsfernen Zuspitzung. Als Sozialhistoriker vermeidet er vor allem die Verkürzungen rein ökonomischer Darstellungen, indem er auch über die Zeiten merkantilistischer Staatskontrolle hinaus Staat und Markt als ebenbürtige Gestalter des modernen Kapitalismus ernst nimmt. Das Buch ist über weite Strecken die globale Rekonstruktion wirkmächtiger National- und Imperialökonomien und lenkt den Blick der Leser:innen immer wieder auf die üblichen Begleiterscheinungen dieser Gemengelage von Kapitalmacht und Staatsräson: Kriege, Gewalt und Ausbeutung. Gegen die Apologeten des Marktes betont Lenger dessen politische Konstruktion und Indienstnahme, gegen die in jüngsten Debatten betonte Engführung der kapitalistischen Erfolgsstory auf koloniale und imperiale Gewalt lenkt er die Aufmerksamkeit auf Gemengelagen und Transformationen, die nicht zuletzt aus Gegenwehr und Gegenkräften zu erklären sind. Als Sozialhistoriker notiert er die konkreten gesellschaftlichen Konflikte, welche die Dynamik des modernen Kapitalismus begleitet haben.

Lenger lässt immer wieder seine Sympathien für kritische Theorien des Kapitalismus erkennen, nutzt aber deren Einsichten in kritischer Distanz zu ihren meist modellerzwungenen Erklärungsnotständen, wenn es um Gesamtinterpretation, Prognose und Entwicklungsdynamik geht. Besonders skeptisch ist er gegenüber den Aufladungen der Kapitalismustheorien mit Rationalitätsmodellen und Gesellschaftstheorien der Moderne, welche den historischen Verwicklungen nicht gerecht werden und letztlich die Anpassungsfähigkeit profitorientierter Unternehmungen an die Wechsellagen konkreter gesellschaftlicher Hierarchien, religiöser Überzeugungen und kulturellen Routinen ihrer Umgebung unterschätzen. Vor allem die Prädestinationslehre okzidentaler Rationalität belegt Lenger mit kritischem Spott und empirischen Gegenbeispielen. Das Buch liefert immer wieder Gegenbeispiele, um die etablierten Gegensatzpaare wie Marktrationalität und Gewalt, Handels- und Industriekapitalismus, Merkantilismus und Freihandel zu unterminieren. Stattdessen nimmt es die vielen Belege der internationalen wirtschaftsgeschichtlichen Forschung für graduelle Abstufungen, Gemengelagen und kontingente Konstellationen auf. Der Autor übt sich ostentativ und in kritischer Auseinandersetzung mit den sozialwissenschaftlichen Großtheorien in theoretischer Bescheidenheit: seine „Arbeitsdefinition“ des Kapitalismus setzt lediglich „die Existenz von Eigentumsrechten, von Warenmärkten und von Kapital“ (S. 19) voraus und rückt mit Weber „die Ausnützung von Tausch-Chancen“ (ebd.) in den Mittelpunkt. Damit werden Handel und Produktion als gleichermaßen wichtige Sphären der Kapitalproduktion gesehen. Entsprechend große Aufmerksamkeit widmet das Buch ihren epochenspezifischen institutionellen und organisatorischen Verknüpfungen. Daraus gewinnt Lenger letztlich den roten Faden seiner Darstellung, um die Fülle an wirtschaftsgeschichtlichen Fakten und historischen Ereignissen zu ordnen, aus denen sich das Gesamtbild weltumspannender kapitalistischer Dynamik zusammensetzt.

Handel, Raub und Plünderung

Das dramatische Welttheater dieser globalen Kapitalexpansion wird in sechs Kapiteln aufgeführt. Der Prolog sucht nach den Anfängen, Vorläufern des Handelskapitalismus im Zeichen der europäischen Expansion. Das erste Kapitel widmet sich dem Zeitraum vom späten 15. bis ins frühe 18. Jahrhundert, korrigiert damit die üblichen Zäsuren 1500 und 1800. Es zeigt, wie die anfangs nach Umfang und Reichweite eher bescheidenen europäischen Kapitalunternehmungen durch die enge Verbindung mit den seegestützten militärischen Machtmitteln ihrer Staaten monopolbasierte Handelsgewinne realisierten, die sie allmählich zu einer ebenbürtigen Größe neben den bis dahin reicheren und erfolgreicheren Kapitalunternehmungen in der islamischen Welt, in China, Japan oder auf dem indischen Subkontinent werden ließen. Das Ausgreifen des europäischen Handelskapitals nach Amerika, Asien und Afrika war durchweg abhängig vom Einsatz militärischer Macht und staatlichen Zwangs. Merkantilistische Handelsmonopole gingen Hand in Hand mit Raub und Plünderung. Die eigentliche Zäsur sieht Lenger erst im Schritt hin zur systematischen Verknüpfung von Handelsgeschäften in Übersee mit Investitionen in Plantagensklaverei oder in andere Formate erzwungener Arbeit zur Produktion der profitträchtigen Konsumgüter Zucker, Tabak oder Baumwolle. Afrika, Amerika und Indien wurden nun die Hauptschauplätze dieser ersten Hochphase kapitalistischer Wachstumsdynamik. Deren mörderische und gewalttätige Seite verband sich, wie Lenger zeigt, bruchlos mit der Präzisierung betrieblicher Kosten- und Gewinnkalkulation, also mit kalkulierter, langfristiger Profitorientierung, und war bereits begleitet von Raubbau und der Zerstörung natürlicher Ressourcen und Lebensgrundlagen vor Ort. Sein Überblick ist auf der Höhe der aktuellen Forschungen und informiert meist knapp und eher beiläufig über Kontroversen und Probleme. Gerade wenn man eher an den späteren Phasen oder gegenwärtigen Entwicklungen interessiert ist, wird man dankbar diese beiden ersten Kapitel lesen, welche immerhin gut 300 Jahre handelskapitalistischer Akkumulationsgeschichte umfassen.

Im dritten Kapitel überschreiten wir gewissermaßen die Schwelle zum Anthropozän: Neben den Handel tritt nun die gewerbliche Produktion unter der Regie eines stetig wachsenden Kapitals. Der Industriekapitalismus und die mit ihm verbundene „industrielle Revolution“ betreten die Bühne. Was zunächst vor allem in der Plantagenwirtschaft zusammengebunden war, nämlich Handelsgewinne und Direktinvestitionen in Arbeitskräfte, Maschinerie und Produktionsanlagen, wurde nun zum Geschäftsmodell für kapitalbasierte Kombinationen von Warenproduktion, Technikentwicklung und Energieeinsatz in ganz neuen Größenordnungen. Lenger sucht sich in diesem dritten Kapitel einen Weg durch die heftigen Forschungskontroversen, die in den letzten Jahrzehnten das etablierte Bild der industriellen Revolution ausgehend von Großbritannien und die Großerzählung vom Aufstieg des Westens korrigiert haben. Gegenüber den Skeptikern hält er an der Zäsur fest, welche sich aus den Produktivitätsgewinnen in der britischen Gewerbeproduktion durch den Einsatz neuer Maschinen und dann von Kohle als neue Energiequelle ergaben. Er deutet diesen Entwicklungssprung aber als Ergebnis paralleler, sich in der Zeit erst verkoppelnder und wechselseitig verstärkender Ereignisse und Trends, verweist auf die bereits vorhandenen Absatzmärkte in Folge des Aufstiegs Großbritanniens zur ersten Seemacht weltweit und die auf dieser Basis erzwungenen Marktöffnungen in den eigenen Kolonien, aber auch in anderen Territorien. Ohne die bereits etablierte atlantische Ökonomie – so Lengers Fazit zum Stand der Forschung – wäre die heimische Gewerberevolution kaum erfolgreich geblieben. „Aber Großbritannien allein verfügte aufgrund seiner einzigartigen Machtstellung im atlantischen Raum über die Rohstoffquellen und Absatzmärkte, ohne welche die Industrielle Revolution kaum vorstellbar ist.“ (S. 159) Die Leser:innen erfahren dann im Folgenden viele Details über den Verlauf der industriellen Revolution in den verschiedenen Gewerben bzw. Branchen.

Lenger verfolgt den Aufstieg des Industriekapitalismus Land für Land. Seine Beschreibung ist klassisch nationalökonomisch. Damit nimmt er ein Ordnungsmuster auf, das für knapp 200 Jahre die Ausgestaltung des modernen Kapitalismus prägen sollte und neben den imperialen Einflusszonen einen nach außen abgegrenzten „nationalen“ Markt schuf, in dem Staaten diese neue Produktionsweise regulierten, förderten oder kontrollierten, in dem aber auch die neuen gesellschaftlichen Konflikte ausgetragen wurden, welche die Dynamik des Industriekapitalismus hervorbrachte. Importsubstitution und Exportorientierung sind in diesen und den folgenden Kapiteln die Schlüsselbegriffe, um sowohl die Verflechtung der sich herausbildenden Volkswirtschaften auf nationalstaatlicher Basis als auch die koloniale Erweiterung zunächst europäischer Staaten, am Ende des 19. Jahrhunderts dann auch der USA und Japans, zu beschreiben. Bereits vor 1870 und damit dem Beginn der großen zweiten Welle kolonialer Expansion, etablierte sich ein Welthandel, der auf dem Export zunächst nur britischer, dann europäischer Industriewaren einerseits und andererseits der Ausfuhr von agrarischen und bergbaulichen Rohstoffen aus der übrigen Welt beruhte. Die Umstellung der Agrar- und Gewerbeproduktion in weiten Teilen Amerikas, Afrikas und Asiens auf die Produktion von Rohstoffen für den Export nach Übersee setzte einen Entwicklungspfad fort, den bereits die atlantische Plantagensklaverei erschlossen hatte. Er wurde durch Direktinvestitionen vor allem britischen Kapitals, später dann auch aus anderen europäischen Ländern abgesichert beziehungsweise erst geschaffen. Meist geschah dies weiterhin unter dem Einsatz von Gewalt, staatlichen Zwangsmaßnahmen und einer außenwirtschaftlichen Steuerung im Sinne europäischer oder nordamerikanischer Kapitalinteressen. Den meisten Staaten außerhalb Europas und Nordamerikas fehlten die Machtmittel, um gegen diese Übermacht eine erfolgreiche Politik nachholender Industrialisierung zu initiieren, wie sie in Europa seit Beginn des 19. Jahrhundert mit den Mitteln des Zollschutzes, der Technikförderung und der Steuervorteile betrieben wurde. Die Asymmetrien des globalen Austausches waren bereits fest verankert, bevor sich Handels- und Industriekapitalismus aufs engste mit der kolonialen Expansion imperialer Mächte verband.

Verflechtung und Raubbau

Das vierte Kapitel fasst unter der Überschrift „Zweite Industrialisierung und Globalisierung“ die sechs Jahrzehnte zwischen 1870 und 1930 zusammen, in denen sich die globale Dynamik des noch jungen Industriekapitalismus noch einmal steigerte und aufs engste mit dem Zenit der britischen Weltmacht und London als Zentrums eines globalen Kapitalismus verbunden ist. Die modernsten Organisationsformen kapitalistischer Unternehmen, so betont Lenger, entstanden aber bereits in den Nachzüglerländern, allen voran in den USA und im Deutschen Reich. Besonderes Augenmerk gilt in diesem Kapitel den Formen und Folgen kapitalistischer Unternehmungen in Lateinamerika, Afrika und Asien. Auf den unterschiedlichsten Wegen verfestigte sich die Arbeitsteilung zwischen den Nationalökonomien des Südens und den entwickelten Industrieländern: exportorientierte Rohstofferzeugung und der Ausbau entsprechender Infrastrukturen wurden hochprofitable Anlagen vor allem britischen Kapitals in Übersee. Die Substitution der Industrieimporte blieb für alle souveränen Staaten mit weitergehenden Machtambitionen und Souveränitätsansprüchen, von Japan bis Argentinien, ein Ziel, das in dieser Phase liberaler Globalisierung nur von Japan erreicht wurde. In den lateinamerikanischen Ländern und Indien konnten sich bestenfalls in einzelnen Produktionszweigen erfolgreich einheimische Firmen etablieren. Auch die erste Globalisierung war, wie Lengers Reise durch die Länder der Welt dokumentiert, eine Ära ungleichen Tausches, massiver, gewaltgestützter Ausbeutung von Arbeitskräften und rücksichtslosen Raubbaus im „globalen Süden“. Mit Immanuel Wallerstein spricht er von einer Dreiteilung der kapitalistischen Welt in Zentrum, Semi-Peripherie und Peripherie.

Das fünfte Kapitel widmet sich den Transformationen des globalen Industriekapitalismus nach der Weltwirtschaftskrise 1929/32. Es behandelt vier Jahrzehnte, in der sich die politische Weltordnung in Folge der Weltwirtschaftskrise, des Zweiten Weltkriegs, des Kalten Kriegs und der Entstehung eines sozialistischen Staatenblocks massiv veränderte und neue Ordnungsmodelle für Welthandel und Weltmarkt entstanden. Mit Blick auf den Welthandel betont Lenger die Zäsuren der Weltwirtschaftskrise und des Zweiten Weltkriegs. Auf den Aufstieg von protektionistisch gegeneinander abgeschotteten Währungsblöcken in den 1930er-Jahren folgte die zwischen 1945 und 1971 maßgeblich von der USA geprägte Ordnung von Bretton-Woods. Nach New Deal und dem Rüstungsboom der frühen 1940er-Jahre war der US-amerikanische Industriekapitalismus Pionier des globalen Aufschwungs einer Industrieproduktion, die auf standardisierter Massenfertigung und billiger Energie beruhte. Großkonzerne und Unternehmensgruppen dominierten mehr denn je eine Wachstumsphase, die auch in den Ländern mit kapitalistischer Wirtschaftsordnung von staatlichen Eingriffen in die eigene Nationalökonomie und vielfältigen Formen der Lenkung des Außenhandels und des Weltmarkts geprägt war. Selbst die USA blieben nach Kriegsende eine „koordinierte Marktwirtschaft“ (S. 393). Umweltgeschichtlich waren dies fatale Jahrzehnte gravierender Umweltschäden im Zuge des wachsenden Raubbaus zwecks Rohstoffgewinnung, die vor allem in Lateinamerika, Afrika und Teilen Südostasiens weiterhin die Exporte dominierte, aber noch viel stärker in Folge der weltweit voranschreitenden Industrialisierung, die insbesondere in Japan, Taiwan und Südkorea dank staatlicher Lenkung und Subventionen rasch voranschritt. Die internationale Arbeitsteilung und die Verhältnisse des ungleichen Tausches zwischen Zentrum und Peripherie auf den Weltmärkten begannen, so der Befund, sich langsam aufzulösen.

Der letzte Akt dieses Wachstumsdramas ist den zurückliegenden 50 Jahren gewidmet. Seit der Aufkündigung der festen Wechselkurse 1971 und dem Ende der Ordnung von Bretton-Woods entstand im Verlauf einer krisenhaften Wachstumskonjunktur eine neue Weltordnung kapitalistischer Produktion, die seit den 1990er-Jahren erstmals weltumspannend im Wortsinn wurde. Deren neue Spielregeln sieht Lenger wie andere kritische Beobachter der zweiten Globalisierungswelle im Washington Consensus von 1989 verkörpert, der nationaler Wirtschaftspolitik klare Grenzen setzte, und das nicht nur für die Staaten des globalen Südens: Die eigenen Märkte waren für ausländische Investoren zu öffnen, die Staatsquote galt es zu senken, Exportbranchen zu fördern. Vor allem der grenzüberschreitende Kapitalverkehr befeuerte die Entstehung internationaler Finanzmärkte. Der Siegeszug der asiatischen Schwellenländer und dann seit den 1980er-Jahren Chinas sorgten für eine Neuverteilung der globalen Industriestandorte. Sie wurde – zusammen mit der Digitalisierung und der weiteren Kostensenkung im internationalen Seehandel – zur Grundlage der neuen internationalen Wertschöpfungsketten, die von alten und neuen Zentren der Weltwirtschaft in Europa, Nordamerika und Ostasien koordiniert werden. Den Kapitalismus des 21. Jahrhunderts sieht Lenger als ein internationales System, in dem sich die Asymmetrien der Vergangenheit in neuen regionalen Verteilungen reproduziert haben. Dem spektakulären Aufstieg des Finanzmarktkapitalismus und seinen Spekulationskrisen widmet er die Schlussszene dieses letzten Aktes.

Der Autor entlässt seine Leser:innen mit skeptisch-pessimistischen Schlussbemerkungen. Die Spielräume politischer Steuerung eines globalen Produktionsregimes, das auf immer größerer Stufe Raubbau am Planeten treibt, sind erheblich geschrumpft. Diese Globalgeschichte dieses Wachstumsmodells endet mit der Erinnerung daran, dass der globale Süden bislang die Hauptlast der ökologischen, aber auch ökonomischen Folgen dieses Modells zu tragen hatte und nach wie vor hat.

Wer immer sich einen Überblick über die Expansionsgeschichte des Kapitalismus angesichts der aktuellen Probleme unserer Weltökonomie verschaffen will, sollte zu diesem Buch greifen. Die nüchterne Berichterstattung über deren Etappen ist immer faktengesättigt und differenziert. Gegen eine marktzentrierte Deutung des Kapitalismus als eines quasi autonomen Wachstumssystems betont Lenger die tiefen Spuren, die staatliche Eingriffe und Lenkung in dieser Wachstumsgeschichte hinterlassen haben. Die nationalökonomische Perspektive, die er immer wieder einnimmt, um Folgen der Weltmarktintegration für einzelne Länder und Regionen auszuloten, ist eng gekoppelt mit dem kritischen Blick auf die Verbindungen der Kapitalunternehmen mit europäischer Expansion, Kolonialregimen und Imperialismus. Die kritische Historiografie des Kapitalismus hat mit Der Preis der Welt einen neuen Klassiker.

  1. Friedrich Lenger, Globalen Kapitalismus denken. Historiographie-, theorie- und wissenschaftsgeschichtliche Studien, Tübingen 2018.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky, Stephanie Kappacher.

Kategorien: Geld / Finanzen Geschichte Gewalt Globalisierung / Weltgesellschaft Kapitalismus / Postkapitalismus Kolonialismus / Postkolonialismus Macht Wirtschaft

Lutz Raphael

Lutz Raphael ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier.

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