Stephanie Kappacher | Zeitschriftenschau | 30.06.2025
Aufgelesen
Die Zeitschriftenschau im Juni 2025
Die politische Diskussion und mediale Berichterstattung über den Arbeits- und Fachkräftemangel der deutschen Wirtschaft ebbt nicht ab. Florian Butollo sieht in den aktuellen Meldungen jedoch erst „die Vorboten einer Tendenz, die sich angesichts des demografischen Wandels mit Wucht entfalten wird“ (S. 42). In seinem Aufsatz „Das knappe Gut Arbeit“ in der Ausgabe 1/2025 der WestEnd befasst er sich mit der Frage, warum heute Arbeitskräftemangel statt Massenarbeitslosigkeit herrscht, obwohl doch in den 1990er- und 2000er-Jahren vielfach Jobverluste durch Automatisierung und Digitalisierung prognostiziert und befürchtet wurden. Um diesem erklärungsbedürftigen Paradox auf den Grund zu gehen, untersucht Butollo jene „Tendenzen, die den arbeitssparenden Effekten der Automatisierung entgegenwirken“ (ebd.). Darüber hinaus entwickelt er in einer globalen Perspektive die These, dass „strukturelle Arbeitskräfteknappheit zu einem Strukturmerkmal der Ökonomien des Globalen Nordens wird“ (S. 50).
In Anlehnung an den in der politischen Ökologie verwendeten Begriff spricht Butollo von „Reboundeffekten der Automatisierung“ (ebd.). Er umschreibt damit das Paradox, dass trotz einer stetigen Ausweitung des Einsatzes von arbeitssparender Technik die Gesamtnachfrage an Arbeit steigt (ebd.). Dieser Umstand sei schon vielfach beschrieben, jedoch bislang nicht umfänglich durchdrungen worden, so Butollo. Im Folgenden analysiert er die Mechanismen, ordnet sie kapitalismustheoretisch ein und arbeitet drei Formen von Reboundeffekten heraus.
- Reboundeffekte durch Komplexität und Beschleunigung: Die meisten Prognosen über die Entwicklung der Beschäftigtenzahlen im Zuge der Automatisierung kranken Butollo zufolge daran, dass sie vom Ist-Zustand ausgehend abschätzen, welche Arbeitsschritte zukünftig unter Einsatz technischer Mittel ersetzt werden können. In dieser Hinsicht seien die Modelle statisch, würden die dynamischen Kräfte wirtschaftlicher Entwicklung vernachlässigen (S. 43) und deshalb zu falschen Schlüssen gelangen. Schließlich strebe der Kapitalismus danach, „stets neue Marktnischen zu erobern und Arbeit auf neue Art und Weise in Wert zu setzen“ (S. 44). Folglich würden „Produktkomplexität und -vielfalt ebenso zunehmen wie die sektorale Vielfalt“ (ebd.), die wiederum neue Arbeitsschritte erforderten und neue Tätigkeitsprofile hervorbrächten. Diesen Zusammenhang erläutert Butollo eindrucksvoll am Beispiel der Automobilindustrie, die trotz massiver Investitionen in die Automatisierung ihrer Herstellungsprozesse historisch eine relativ konstante Zahl an Beschäftigten aufweise (ebd.). Hinzu komme der von Hartmut Rosa beschriebene Effekt einer zunehmenden Beschleunigung der modernen Lebensverhältnisse,[1] der Butollo zufolge auch in der Arbeitswelt und auf dem Arbeitsmarkt zu finden sei: „obwohl Technik im Grunde zur Einsparung von Arbeit führen sollte, erhöht sich die Nachfrage nach Arbeit in einer ausdifferenzierten und kurzatmigeren Ökonomie“ (S. 45).
- Reboundeffekte durch Arbeit an der Digitalisierung: Bevor technische Innovationen Tätigkeiten erleichtern oder gar ganze Arbeitsschritte ersetzen und damit wertvolle Ressourcen wie Zeit und Arbeit einsparen können, müssen sie erst einmal entwickelt werden. Das erfordert zunächst, wie Butollo anhand der zweiten Art von Reboundeffekten verdeutlicht, die Investition von noch mehr Arbeit und Zeit. Durch den andauernden Konkurrenzdruck auf dem Markt liege auf der Hand, dass hier nicht nur vorübergehend von einem erhöhten Bedarf ausgegangen werden könne. Vielmehr sei dieser konstant hoch, weil Unternehmen ständig neue Verfahren, Apps und Geräte entwickeln würden, ja müssten, um im kapitalistischen System konkurrenzfähig zu sein und möglichst hohe Gewinne zu generieren (S. 47).
- Reboundeffekte durch Care-Krise und ökologischen Umbau: Butollo fasst diese beiden Faktoren zum dritten Typ von Reboundeffekten zusammen, die er mit den „zerstörerischen Folgen des Wachstums“ (S. 48) im Kapitalismus in Verbindung bringt. Er beschreibt die Sorgekrise als „Folge einer wachsenden Durchkapitalisierung der Gesellschaft“ (ebd.), denn auch wenn gerade im Bereich der Daseinsvorsorge das Beschäftigungswachstum relativ stark sei, könne der durch den demografischen Wandel herrschende hohe Bedarf an Arbeits- und Fachkräften nicht gedeckt werden. Zudem würden die starken Bestrebungen des Staates nach einer immer höheren Erwerbsquote in Kombination mit einer mangelhaften Ausfinanzierung der Daseinsvorsorge die Sorgekrise noch verschlimmern (ebd.). Schließlich würden so Ressourcen aus privaten Haushalten abgezogen, die für eine Pflege von Angehörigen zu Hause dringend vonnöten seien. Butollo zitiert hier Jutta Allmendinger, die diesbezüglich vom „Fachkräftemangel in den privaten Haushalten“ gesprochen hat (ebd.). Die Forderung der ehemaligen Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung nach einer 32-Stunden-Woche, die eine bessere Work-Life-Balance und damit eine Verbesserung der Situation überlasteter Familien ermöglichen soll, erachtet Butollo grundsätzlich als sinnvoll, jedoch vor dem Hintergrund des akuten Arbeitskräftemangels für kaum durchsetzbar (S. 49). Zumal die Situation in der Altenpflege sich durch den im Zuge des demografischen Wandels weiter steigenden Bedarf an Pflegepersonal weiter verschärfen werde.
Hinzu kämen jene Herausforderungen, die aus der Klimakrise und der notwendigen ökologischen Transformation resultieren. Verfolge man weiter den Ansatz eines Green statt De-Growth, sei ein umfassender „Umbau“ von Infrastrukturen, privaten Haushalten und Unternehmen notwendig (ebd.), etwa in Form einer Verkehrswende oder einer Wärmeversorgung mit grünen statt fossilen Energiequellen. Transformationsprozesse solchen Ausmaßes seien jedoch nur durch den erheblichen Einsatz von Arbeit realisierbar. Das ehrgeizige Ziel der ehemaligen Ampelregierung, jährlich 500.000 Wärmepumpen in privaten Haushalten zu installieren und damit sukzessive alte Öl- und Gaskessel zu ersetzen, drohe nicht zuletzt daran zu scheitern, so Butollo, dass allein über 60.000 Installateure fehlen (ebd.).
Als mögliche Antworten auf den Arbeitskräftemangel werden häufig (Flucht-)Migration und Deindustrialisierung ins Feld geführt. Butollo räumt mit diesen Vorstellungen auf. Er äußert sich kritisch gegenüber Studien und Stimmen, die es aus einer „technokratischen“ Perspektive für möglich halten, den hiesigen Bedarf an Arbeitskräften mit geflüchteten Personen zu decken, diese mithin funktionalisierten und so globale Missstände außer Acht ließen (S. 50). Darüber hinaus zeigt sich der an der TU Berlin ansässige Soziologe überrascht vom hartnäckigen Beharren auf Migration als Ausweg, schließlich erlebten wir politisch derzeit eine „Festlegung auf eine restriktivere Migrationspolitik, die arbeitsmarktpolitischen Zielsetzungen zuwiderläuft“ (ebd.). Auch die These, dass durch eine zunehmende Deindustrialisierung Deutschlands Arbeitskräftepotenzial in industriellen Bereichen freigesetzt und in anderen Sektoren zum Einsatz kommen könnte, hält Butollo für nicht haltbar (S. 52). Zum einen, weil „ein Umstieg von ehemaligen Industriearbeiter:innen in die Berufsfelder mit eklatantem Arbeitskräftemangel unwahrscheinlich ist“ (ebd.), zum anderen aber auch, weil der Beschäftigungsabbau in der Industrie bislang primär über Frühverrentung und andere sozialverträgliche Modelle vollzogen werde (ebd.). Butollos Prognose für die weitere Entwicklung dieser komplexen Situation stimmt wenig hoffnungsvoll: „In der Konsequenz ergibt sich daraus ein Auseinanderklaffen zwischen Erwerbspersonenpotenzial und der Nachfrage nach Arbeit, das sich in den nächsten Jahrzehnten vermutlich radikalisieren wird.“ (S. 52) Und das obwohl sich der demografische Wandel bislang kaum in den Zahlen niederschlage; das sei erst in den nächsten Jahrzehnten zu erwarten. Butollo konstatiert: „Der gegenwärtig vielfach beklagte Arbeitskräftemangel ist nicht Folge des demografischen Wandels, sondern eines Zuwachses der Nachfrage nach Arbeit, insbesondere im Expertenbereich und bei geringqualifizierten Helfertätigkeiten.“ (Ebd.)
Vor diesem Hintergrund beobachtet der Leiter des Fachgebiets Digitalisierung der Arbeitswelten eine Diskursverschiebung hinsichtlich des Stellenwerts technischer Innovation. Letztere werde „nicht als allgemeines Mittel zur Produktivitätssteigerung oder als Instrument zu einer besseren Kontrolle der Arbeitsleistung gedeutet, sondern als ein wichtiges Instrument zur Bekämpfung des Fachkräftemangels“ (ebd.). Dieser Deutung gegenüber zeigt sich Butollo skeptisch, schließlich könnten durch Automatisierung nur einfache Routinetätigkeiten ersetzt werden, was ohne Auswirkungen auf die von ihm beschriebenen Reboundeffekte und deren Ursachen bliebe.
Warum technische Innovationen die in sie gesetzten Erwartungen seiner Auffassung nach kaum erfüllen können, führt er in dem Abschnitt „Digitale Scheinlösungen“ (ebd.) anhand von „empirischen Vignetten“ eindrucksvoll aus. Im Bereich der Logistik etwa werde aufgrund extrem hoher Fluktuationsraten und eines steigenden Gesamtvolumens im E-Commerce ein erheblicher Aufwand betrieben, fahrerlose Transportsysteme, Pick-Roboter oder automatische Sortieranlagen in die Arbeitsabläufe zu integrieren. Der Wandel gehe jedoch nur zäh und sehr langsam voran, sodass er kaum in der Lage sei, dem Arbeitskräftemangel abzuhelfen (S. 54). Auch im Bereich der Pflege gebe es vor allem von politischer Seite Bestrebungen, das Problem des extremen Personalmangels mit digitalen Mitteln zu lösen. Doch existiere eine große Kluft zwischen formulierten Erwartungen und tatsächlichen Erträgen, insbesondere weil die bisherigen Verfahren (etwa in der Pflegerobotik) noch längst nicht ausgereift und ihre Einsatzmöglichkeiten ohnehin begrenzt seien. Technologische Lösungen böten daher auch keine Antwort auf die gegenwärtigen personellen Engpässe im Pflegesystem. Die Chancen, dass sich daran in Zukunft etwas ändert, hält der Soziologe realistischerweise für „relativ aussichtslos“ (S. 56). Vielmehr bedürfe es dringend „einer massiven Verbesserung der Bedingungen in den Pflegeberufen“ (ebd.). Doch weil dies zwangsläufig bedeute, mehr Personal einstellen zu müssen, befinde man sich in einem Teufelskreis (ebd.). Weil (technische) Lösungen nicht in Sicht seien, käme es zu immer größeren Spannungen und Konflikten, wie etwa die 2023 erstrittenen Entlastungstarifverträge im Gesundheitswesen gezeigt hätten (S. 57). Hier hatte das Kranken- und Pflegepersonal nicht für eine Lohnerhöhung, sondern für eine Erhöhung des Personalstands gestreikt, um so Entlastungen im Arbeitsalltag zu erreichen. Ähnlich habe es sich auch im vergangenen Jahr bei den Streiks der Lokführergewerkschaft GDL dargestellt: Eine der am härtesten umkämpften Forderungen sei hier die Einführung der 35-Stunden-Woche gewesen (ebd.) – während die Deutsche Bahn (wie andere Unternehmen und Institutionen auch) mit Personalmangel zu kämpfen hat. Hier zeige sich ein Wandel auf Seiten der Arbeitnehmer:innen, denen aufgrund größerer Wahlmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt die inhaltlichen Ansprüche ihrer Tätigkeiten zunehmend wichtiger würden, weshalb sie diese auch offensiver einforderten als noch zu Zeiten prekärer Beschäftigung und Massenarbeitslosigkeit (ebd.). Demgegenüber verfolgten Unternehmen und Staat das Ziel, „das so genannte Erwerbspersonenpotenzial maximal auszureizen“, um den Arbeitskräftemangel zu verringern, etwa mit einer Erhöhung des Renteneintrittsalters oder Anreizen zur Erhöhung der Vollzeitquote (ebd.).
Vor dem Hintergrund dieses Interessenkonfliktes und dessen wahrscheinlicher Verschärfung im Zuge des demografischen Wandels stellen technische Lösungen für Butollo keinen Ausweg aus der strukturell überlasteten Arbeitswelt dar. Er plädiert stattdessen dafür, „die Frage nach der gesellschaftlichen Sinnhaftigkeit von Arbeit offensiv zu stellen“ (S. 58) und essenziellen Gütern sowie den dafür notwendigen Tätigkeiten Vorrang zu geben – insbesondere vor den von David Graeber so treffend als Bullshit-Jobs bezeichneten Arbeiten. Zum Ende seines Aufsatzes erinnert Butollo nochmals daran, dass Komplexität und Beschleunigung keine „zivilisatorischen Konstanten“ seien (ebd.), sondern dem Kapitalismus inhärente Gesetzmäßigkeiten, und plädiert dafür, Arbeitskraft „für gesellschaftlich sinnvolle Zwecke“ zu mobilisieren (S. 59). Wenn uns das gelänge, seien im Wesentlichen auch die Weichen für die notwendige sozial-ökologische Transformation unserer Gesellschaft gestellt (ebd.).
Einem verbreiteten Narrativ zufolge ist der (auch von Butollo thematisierte) Personalmangel im Bereich der Alten- und Krankenpflege vor allem den dort herrschenden schlechten Arbeitsbedingungen geschuldet: Wer will schon bei mieser Bezahlung unter ständiger Überlastung in einem Schichtsystem arbeiten, das seine Beschäftigten überfordert und auspresst, sowie gesetzlich vorgeschriebene Ruhe- und Erholungszeiten regelmäßig missachtet? Dieses Narrativ übersieht einen wichtigen weiteren Aspekt, der im Zuge der Corona-Pandemie zwischenzeitlich einige mediale Aufmerksamkeit erlangte, in den seither geführten Debatten aber nur noch eine untergeordnete Rolle spielt: die so genannten moralischen Verletzungen von Angestellten. Der ursprünglich aus dem militärischen Bereich stammende Terminus bezeichnet „psychische Belastungen, die aus der Diskrepanz zwischen berufsethischen Idealen auf der einen Seite sowie den systemisch vorgegebenen Möglichkeiten auf der anderen Seite resultieren“.[2] Aufgrund der desaströsen Umstände in der Pflegearbeit, allen voran Zeitmangel und Überforderung, müssen die Beschäftigten ständig entscheiden, welche der zu vielen dringlichen Aufgaben sie abarbeiten und welche unerledigt bleiben. Dabei verstoßen sie notgedrungen immer wieder gegen ihre eigenen moralischen Ansprüche und Wertvorstellungen. Sie wollen gute Pflege leisten, sich angemessen um alte, kranke oder gar sterbende Menschen kümmern, doch die Bedingungen des Systems erlauben nur eine rudimentäre Versorgung – allzu oft gegen die innere Überzeugung und Hilfsbereitschaft des Pflegepersonals. Was bleibt, sind moralische Verletzungen, negative Emotionen wie Schuld, Scham oder Wut, die, wenn sie sich ständig wiederholen, psychische Erkrankungen verursachen können. Häufig führten die Erfahrungen auch dazu, dass die Betroffenen „irgendwann innerlich abhärten, krank werden oder letztlich kündigen, weil sie die Situation nicht mehr ertragen“, erklärt Jennie Auffenberg, Referentin für Gesundheits- und Pflegepolitik bei der Arbeitnehmerkammer Bremen.[3]
Moralische Verletzungen seien, so konstatierte die Medizinjournalistin Silke Jäger in ihrem gleichnamigen Artikel schon im Mai 2021, „Der wahre Grund, warum Pflegekräfte aufgeben“.[4] Jäger war es auch, die auf der Social-Media-Plattform X, damals noch Twitter, im Juni 2021 den Hashtag #moralischverletzt ins Leben rief,[5] unter dem seither Pflegekräfte von ihren Erfahrungen und Erlebnissen im Arbeitsalltag berichten.
In Ausgabe 1/2025 der Zeitschrift für Soziologie befassen sich Ruth Abramowski und Till Hilmar mit der Twitter-Kommunikation unter dem genannten Hashtag[6] und untersuchen „Berufsethische Ansprüche und die Artikulation kollektiver Ungerechtigkeitserfahrungen von Pflegekräften während der Coronapandemie“. Ihrer Analyse zufolge hat das Konzept der moralischen Verletzung in der Soziologie bislang noch nicht die gleiche Aufmerksamkeit erfahren wie etwa in der medizinischen und psychologischen Forschung. Dabei sei gerade die soziologische Perspektive relevant, um „die Interaktionszusammenhänge, in denen diese Konflikte artikuliert und sozial ausgehandelt werden, aufzuzeigen“ (S. 31). Mit ihrer Forschung wollen sie herausarbeiten, „was als moralisch verletzt erzählt wird, wie moralische Verletzungen diskursiv konstruiert werden und welche Variationen sich dabei finden lassen“ (S. 38). Dabei betonen Abramowski und Hilmar ausdrücklich, dass es sich bei moralischen Verletzungen nicht beziehungsweise nicht nur um individuelle Ereignisse und Erfahrungen aufgrund bestimmter Persönlichkeitsmerkmale handele, sondern vielmehr um kollektive Phänomene, weil viele Pflegekräfte aufgrund der Gegebenheiten und Zwänge des Systems wiederholt ähnliche Erfahrungen machten (ebd.).
Mit ihrer wissenschaftlichen Analyse des Twitter-Diskurses gewährt das Autor:innenduo einen Einblick in die subjektive Perspektive zumindest derjenigen in der Alten- und Krankenpflege tätigen Personen, die online aktiv sind. Der Datenkorpus umfasst die unter dem genannten Hashtag im Zeitraum vom 4. Mai 2021 bis zum 29. Dezember 2022 veröffentlichten Tweets, aber auch alle Konversationen mit den entsprechenden Keywords. Letztendlich sind es fast 40.000 Tweets, die Abramowski und Hilmar mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse untersuchen, um theoretisch relevante Muster im Material auszumachen (S. 35). Im Ergebnis arbeiten die beiden vier „induktive Hauptcodes“ (S. 38) heraus:
- Im Hinblick auf Ressourcenmangel und prekäre Arbeitsbedingungen beklagen die Angestellten neben der ständigen Forderung nach Arbeiten im Multitaskingmodus und dem Personalmangel, dass ihnen keine Zeit bleibe, um traumatische Erlebnisse zu bewältigen (ebd.). Auch der Mangel an Sachmitteln erschwere die Arbeit, etwa wenn Inkontinenzmaterial unabhängig vom tatsächlichen Bedarf nur begrenzt vorhanden ist. Dieser Mangelversorgung gegenüber stehen erschreckend-absurde Berichte im Zusammenhang mit der Ökonomisierung des Pflegesystems, beispielsweise einem „mutmasslich [sic!] Hirntoten noch schnell ein Kunstherz einbauen, damit man auf die Zahlen kommt“ (S. 39). Hier wird Kritik artikuliert „an der Kommodifizierung eines Lebensbereiches, der aus normativen Gründen von der Logik des Marktes geschützt werden sollte“ (ebd.).
- In Bezug auf die Einhaltung persönlicher Werte und beruflicher Ethik beschreiben die Verfasser:innen der Tweets eine „Kluft zwischen Handlung und Überzeugung“, sei es, weil sie eigenen Ansprüchen zu helfen nicht gerecht werden können oder aber weil der „Leistungswert ‚guter Pflege‘“ nicht erfüllt werden kann (ebd.). Viele beschreiben die eigene Situation als „ohnmächtig im System […], weil es einen nicht fachlich angemessen arbeiten lassen will“ (ebd.). Abramowski und Hilmar betonen auch den Aspekt von Kompetenzverletzungen und den Umstand, dass es sich überwiegend um Mehrfacherlebnisse handelt, die sich nicht erst seit der Corona-Pandemie ereigneten (ebd.).
- In den Tweets werden zudem die Reziprozitätsbeziehungen zwischen Pflegenden und Pflegebedürftigen, aber auch die Beziehungen zu weiteren Personen (Vorgesetzten, Kolleg:innen, Angehörigen) thematisiert. Schließlich wirken sich moralische Verletzungen auf Seiten des Personals auch auf den Gesundheitszustand der zu Pflegenden aus, etwa in Form von Unterversorgung und/oder Gefährdung: „Und ändern können [sic!] das in dem Moment keine*r der Beiden.“ (S. 40) Auch Gewalt spielt eine Rolle, etwa wenn Maßnahmen an Patient:innen gegen deren erklärten Willen vorgenommen werden odermedizinisch aussichtslos sind. So berichtet beispielsweise eine Pflegekraft von der ärztlich angeordneten Reanimierung eines 90-Jährigen auf einer geriatrischen Station. Während ihre Kollegin zur Durchführung der Maßnahme bereit gewesen sei, habe die berichtende Person unter Verweis auf die anderslautenden Vorgaben der bekannten Patientenverfügung ihre Mitwirkung verweigert. Daraufhin sei der Reanimationsversuch abgebrochen worden. „Ethisch bin ich dem Willen des Patienten gefolgt, moralisch meiner Kollegin in den Rücken gefallen. Das! Das macht kaputt. Jeden verdammten Tag was anderes.“ (Ebd.)
- Schließlich, so Abramowski und Hilmar, beteiligten sich Betroffene auch deshalb an der Aktion #moralischverletzt, weil es ihnen wichtig sei, eine kollektive Sprache zu finden und Kollektivität herzustellen (ebd.). Zum einen werde die „Logik der individuellen Schuldzuweisung thematisiert und abgewehrt“, sodass die Beschäftigten den systemischen Charakter ihrer moralischen Verletzungen erkennen und diese nicht mehr als charakterliche Schwäche oder eigene Unfähigkeit wahrnehmen würden (ebd.). Die beiden Forscher:innen sprechen dem Twitter-Diskurs in diesem Zusammenhang ausdrücklich bestärkendes Potenzial zu, weil er es Betroffenen ermögliche, individuelle Schuld- und Schamgefühle zu überwinden (S. 41). Zum anderen kritisierten Teilnehmende die fehlende Interessenvertretung der Pflegekräfte (ebd.) und riefen dazu auf, sich zu organisieren.
Der von Abramowski und Hilmar verfasste Artikel ist Teil einer von Eddie Hartmann und Frithjof Nungesser herausgegebenen Special Issue der Zeitschrift für Soziologie zum Thema „Verletzbarkeit und Gesellschaft“, die Beiträge zu „Soziologische[n] Perspektiven auf Vulnerabilität“ versammelt. Für Leser:innen, die an Fragestellungen im Kontext von Alten- und Krankenpflege interessiert sind, hält die Sonderausgabe einen weiteren Text bereit. Unter dem Titel „Verletzbarkeit und Gewalt in der Pflege von Menschen mit Demenz“ geht Jonas Barth der Frage nach, „[w]ie die Fähigkeit zur Gewalt und die Wahrscheinlichkeit, sie zu erleiden, [in diesem Setting] sozial verteilt wird“ (S. 82–98). Im Anschluss an teilnehmende Beobachtungen im Rahmen seiner ethnografischen Feldforschung, die er über einen Zeitraum von sechs Monaten in zwei deutschen Pflegeeinrichtungen betrieb, verfasste Barth rund 400 Seiten Beobachtungsprotokolle, die er um weitere Daten, etwa aus offenen Leitfadeninterviews mit Pflegekräften, ergänzte. Die Protokolle vermitteln nicht nur einen Eindruck von der Pflegebeziehung zwischen Personal und Pflegebedürftigen, sondern lassen auch erkennen, wie Festlegungen über die jeweiligen Möglichkeiten, Gewalt zu erfahren oder auszuüben, diskursiv gerahmt und in Interaktionen ausgehandelt werden (S. 82). In seinem Material identifiziert der an der Universität ansässige Soziologe zwei Muster, nach denen Pflegekräfte etwaige tätliche Übergriffe, die von Demenzkranken ausgehen, für gewöhnlich deuten: Nach dem ersten Muster relativieren Pflegekräfte körperliche Übergriffe, indem sie diese nicht als vorsätzliche Angriffe pflegebedürftiger Personen werten, sondern als krankheitsbedingte Begleiterscheinungen interpretieren. Nach dem zweiten Deutungsmuster hingegen unterstellen Pflegekräfte den Demenzkranken durchaus Gewaltfähigkeit und -absicht, insbesondere in ad hoc-Situationen. Das erste Deutungsmuster, so Barth, sei das professionstheoretisch favorisierte, weil es dem Personal ermögliche, die Situation zu lösen und die Arbeit fortzusetzen (S. 89). Zugleich sei es jedoch sehr voraussetzungsvoll, verlange es doch von den Pflegekräften, dass sie selbst dafür „Sorge tragen müssen, sich nicht verletzen zu lassen“ (ebd.). Um den damit verbundenen Herausforderungen begegnen zu können, entwickelten die Pflegenden unterschiedliche Strategien. Dazu gehörten etwa das gemeinsame Arbeiten mit anderen Pflegekräften, um herausfordernde Situationen sicherer gestalten zu können, sowie spezifische Formen von Körperhaltungen im Kontakt mit den Pflegebedürftigen zur Prävention eigener Verletzungen (S. 95). Doch auch Pflegeorganisationen seien dazu angehalten, zu gewährleisten, „dass Pflegekräfte entweder mit höherer Wahrscheinlichkeit das favorisierte Deutungsmuster verwenden oder aber gar nicht erst in die [herausfordernde] Situation geraten“ (S. 94). Letzteres werde unter anderem durch die Gabe von Psychopharmaka bewerkstelligt, die verabreicht würden, um Gewaltlosigkeit in der Pflege sicherzustellen. Auf diese Weise würden Pflegebedürftige daran gehindert, überhaupt tätlich zu agieren, wodurch wiederum weniger herausfordernde Situationen entstünden (S. 95). Ein solches Vorgehen sei jedoch nicht unumstritten, da die Verabreichung von Psychopharmaka nicht selten ebenfalls als illegitime Gewaltanwendung eingestuft werde (ebd.). Dieser Einwand habe bislang zwar nicht zu einem Verzicht auf den Einsatz derartiger Substanzen geführt, jedoch einen „engen Legitimitätskorridor“ geschaffen, „in dem Pflegekräfte die Bedarfsmedikation ausschöpfen bzw. Ärzt:innen dazu bewegen können, solche Medikamente zu verschreiben“ (ebd.).
Die hier vorgestellten Artikel werfen Schlaglichter auf den herausfordernden Arbeitsalltag von Pflegekräften sowie den desaströsen Zustand des deutschen Pflegesystems und die nicht ausfinanzierte Daseinsvorsorge. Politische Bemühungen und Maßnahmen haben sich bislang – trotz der Erfahrungen der Corona-Pandemie (Stichwort „systemrelevant“) als zu zaghaft und nicht zielführend herausgestellt. Folgt man Florian Butollo, werden auch die seitens der Politik vielfach favorisierten und angepriesenen technischen Innovationen daran nichts ändern. Dafür bräuchte es nichts Geringeres als den von Butollo und anderen geforderten „fundamentalen Ansatz“, verbunden mit einer Neugewichtung, welche Tätigkeiten wir als essenziell und gesellschaftlich sinnvoll erachten – und entsprechend fördern.
Fußnoten
- Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt am Main 2005.
- Anne-Katrin Wehrmann, Wenn Arbeit moralisch verletzt. Gerade in der Pflegebranche ist die psychische Belastung groß, in: BAM. Das Magazin der Arbeitnehmerkammer Bremen, 3. August 2022.
- Ebd.
- Silke Jäger, Der wahre Grund, warum Pflegekräfte aufgeben, in: Krautreporter, 4. Mai 2021.
- Post von „Die Krautreporter“ auf X/Twitter vom 21. Juni 2021.
- Genauer wird die gesamte Twitterkommunikation zu den Keywords „moralischverletzt“, „moralisch verletzt“ und „moralische Verletzung“ analysiert (S. 34).
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.
Kategorien: Affekte / Emotionen Arbeit / Industrie Care Gesundheit / Medizin Gewalt Kapitalismus / Postkapitalismus Ökologie / Nachhaltigkeit Wirtschaft
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