Karsten Malowitz | Zeitschriftenschau |

Aufgelesen

Die Zeitschriftenschau im Mai 2025

Es kann einer wissenschaftlichen Disziplin nicht gleichgültig sein, wenn der von ihr beforschte Gegenstand sich vor ihren Augen aufzulösen beginnt. Das gilt auch für die Demokratietheorie, deren Vertreter:innen schon seit längerem beobachten, wie die jahrzehntelang für stabil erachteten liberalen Demokratien des Westens unter dem wachsenden Druck politischer Gegner von innen und außen allmählich zu erodieren drohen. Die produktive Unruhe, welche die Disziplin seit Donald Trumps erster Präsidentschaft (2017–2021) erfasst und eine Vielzahl ebenso interessanter wie besorgniserregender Veröffentlichungen hervorgebracht hatte,[1] ist seit dem Beginn von dessen zweiter Amtszeit im Januar dieses Jahres einer merklich gestiegenen Anspannung gewichen. Finden die Debatten in den Vereinigten Staaten und andernorts – man denke an Länder wie Argentinien, Polen oder Ungarn – bereits vor dem Hintergrund konkreter Angriffe der Exekutive gegen liberale und demokratische Institutionen statt, ist es hierzulande die wachsende Angst vor solchen Angriffen, die den Diskussionen zunehmend ihren Stempel aufdrückt und sowohl inhaltlich als auch atmosphärisch in den Vordergrund rückt. Die demokratietheoretische Debatte über die Demokratie findet heute überwiegend im Verteidigungsmodus statt. Ein Blick in jüngst erschienene Zeitschriften bestätigt den Befund, lässt zugleich aber unterschiedliche Reaktionsmuster und Schlussfolgerungen im Umgang damit erkennen. Drei dieser Reaktionsmuster sollen im Folgenden vorgestellt werden.

Wie belastbar ist der Verfassungspatriotismus?

Eine resümierend-reflektierende Antwort auf die demokratietheoretischen Herausforderungen der Gegenwart bietet Andreas Voßkuhle mit „Verfassungspatriotismus revisited“. In Heft 1 der Zeitschrift Der Staat nimmt der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts den im Vorjahr begangenen 75. Geburtstag des Grundgesetzes zum Anlass, um über die Bedeutung des Verfassungspatriotismus für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland nachzudenken. Dabei wird schnell deutlich, dass es ihm nicht um eine ideengeschichtliche oder politiktheoretische Auseinandersetzung mit dem Konzept gleichen Namens geht, sondern um den gelebten Verfassungspatriotismus, wie er wesentlich in der Anerkennung der Verfassung und des Bundesverfassungsgerichts durch die Bürgerinnen und Bürger zum Ausdruck kommt. Konkret interessiert ihn die Frage, wie sich erklären lässt, dass sich beide Institutionen – allen Krisen und Herausforderungen der letzten Jahre zum Trotz –nach wie vor anhaltend hoher Zustimmungswerte erfreuen.

„Sollten der staatliche Umgang mit der Pandemie, die sich radikalisierende Protestbewegung für durchgreifende klimapolitische Maßnahmen, die gesellschaftliche Uneinigkeit über den Umgang mit Migration, die Kriege in der Ukraine, in Israel und im Gazastreifen sowie das Erstarken rechtsextremer Parteien und Gruppierungen tatsächlich keine größeren Spuren hinterlassen haben?“ (S. 2)

Seiner Antwort auf diese Frage nähert sich Voßkuhle in mehreren Schritten, die nicht zuletzt dem Zweck dienen, die besonderen Umstände der gegenwärtigen Situation im Kontext ihrer historischen, politischen und intellektuellen Entwicklungsbedingungen zu verstehen. Zu diesem Zweck erinnert er zunächst an die vergleichsweise späte ,Entdeckung‘ des Verfassungspatriotismus durch Dolf Sternberger und Jürgen Habermas, die Ende der Siebziger- beziehungsweise Mitte der Achtzigerjahre unterschiedliche Versionen des Verfassungspatriotismus propagierten, die nicht folgenlos für das politische Selbstverständnis der Republik geblieben sind. Ebnete Sternberger für Voßkuhle einem auf die Verfassung gegründeten Patriotismus als Alternative zum problematischen, weil tendenziell chauvinistischen Nationalstolz den Weg, so sorgte Habermas dafür, „das tradierte kulturnationale durch ein emanzipatorisches intellektualistisches Verfassungsverständnis zu ersetzen, das auf jede Form von Symbolpolitik oder Verfassungsfolklore verzichtet und stattdessen auf Verfahren und Diskurse baut“ (S. 3 f.).

Voßkuhle erinnert auch an die vornehmlich konservativen Kritiker des Verfassungspatriotismus, die das Konzept unter anderem als „ätherisches Gebilde“ (Hermann Lübbe) oder als „dünne Abstraktion“ (Josef Isensee) verunglimpften, um anschließend einen Blick auf das in Folge dieser Kritik entwickelte Konzept der Leitkultur zu werfen, das die integrierende und identitätsstiftende Bedeutung von Heimat, Sprache, Kultur, Geschichte, Brauchtum und Vereinsleben betont. Welchen Stellenwert er der Idee beimisst, lässt sich an der knappen Art erkennen, mit der er es – gewissermaßen en passant – erledigt:

„Gehen wir die Begriffe mal einzeln durch: Heimat bedeutet für die allermeisten Menschen vor allem regionale Verbundenheit. Deutsch wird auch in Österreich, der Schweiz, Norditalien und einigen Landstrichen Belgiens gesprochen. Deutsche Kultur und Geschichte? Ja, aber was genau? Bleiben noch Brauchtum und Vereinsleben. Aber reicht das für einen deutschen Patriotismus?“ (S. 6)

Voßkuhle belässt es aber nicht bei feiner Ironie. Gegenüber der Kritik am vermeintlich abstrakten und blutleeren Konzept des Verfassungspatriotismus betont er dessen historische Dimension. Sowohl die Verfassung selbst als auch das für ihre Einhaltung und Auslegung zuständige Gericht blickten mittlerweile zurück auf eine lange politische Wirkungs- und eine noch längere ideelle Herkunftsgeschichte. Während die ideellen und intellektuellen Bestände, die bei der Interpretation der Verfassung eine Rolle spielen, bis zur Frankfurter Paulskirche und in die Weimarer Nationalversammlung zurückreichten, habe das Bundesverfassungsgericht mit seinen richtungsweisenden Grundsatzentscheidungen zusammen mit der Geschichte der Bundesrepublik auch das Bewusstsein ihrer Bürgerinnen und Bürger nachhaltig geprägt.

„Verfassungspatriotismus besitzt nach alledem zwei Seiten: Er steht zum einen für ein rationales, auf universelle Prinzipien hin ausgerichtetes Projekt, das nie sein Endziel erreicht, weil die Verfassungswirklichkeit stets dem Ideal hinterherhinkt. Zum anderen ist der Verfassungspatriotismus fest verankert in der nationalen Rechtskultur.“ (S. 8)

Worauf genau beruht nun aber der Verfassungspatriotismus, der sich in einem – gerade im Vergleich zu anderen Institutionen – ausgesprochen hohen Maß an Vertrauen in die Verfassung und das Bundesverfassungsgericht zeigt? Da die meisten Bürgerinnen und Bürger weder mit den Entscheidungen noch mit den Arbeitsabläufen des Gerichts vertraut sind und auch die juristische Materie nur unzureichend überblicken, kommt Voßkuhle zu dem Schluss, dass hier einerseits „,Mythen‘ und ,Narrative‘“ und andererseits die Praxis des Gerichts, verstanden als „ein komplexes Gefüge aus Codes (sprachliche Zeichen und Regeln), (implizitem) Wissen, Diskursen, Handlungen, Tradition, Symbolen, Artefakten und Institutionen“ eine Rolle spielen (S. 10).

Die etwas vage anmutende Erklärung gewinnt schärfere Konturen und wird verständlich, wenn man einen Blick auf die zu ihrer Konkretisierung angeführte Liste mit „Faktoren für die Vertrauensbildung“ wirft (S. 11), die Voßkuhle im Anschluss präsentiert. Neben der Art der Richterwahl – Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag oder Bundesrat – und der zeitlichen Begrenzung der Amtsdauer ohne die Möglichkeit zur Wiederwahl scheinen insbesondere folgende Faktoren bemerkenswert: Die politische und gesellschaftliche Anschlussfähigkeit der Gerichtsentscheidungen, die Erfahrung effektiven Rechtsschutzes für die Ratsuchenden, der Mut des Gerichts zu politisch unbequemen Entscheidungen sowie die nahezu völlige Skandalfreiheit des Gerichts. Wollte man den Befund mit einfachen Worten zusammenfassen, könnte man sagen, dass Ansehen und Vertrauen des Bundesverfassungsgerichts auf dem guten Eindruck gründen, den viele Bürgerinnen und Bürger von der Kompetenz und der Arbeit der dort tätigen Personen haben. Im Unterschied zu anderen Einrichtungen erscheint das Bundesverfassungsgericht in den Augen eines Großteils der Bevölkerung als eine funktionierende Institution, deren Angehörige im Dienst der Allgemeinheit geräuschlos und effizient ihre Arbeit erledigen und nicht durch Profilierungssucht auffallen.

Diese Deutung von Voßkuhles Befund wird durch seine abschließende Diskussion der Auswirkungen von Migration, Pandemie, Verfassungsfeinden, ,Klimaklebern“ und Krieg als Herausforderungen sowohl für die Leistungsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts als auch für die Belastbarkeit des Verfassungspatriotismus in gewisser Weise bestätigt. So erweise sich der Verfassungspatriotismus insbesondere in den Fällen als solide Grundlage für den Zusammenhalt der Gesellschaft und die Stabilität der politischen Ordnung, in denen die Arbeit und die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zwar von inhaltlichen Differenzen, nicht aber von schrillen Misstönen und wechselseitigen unsachlichen Vorwürfen der streitenden Parteien begleitet werden. Wo diese Versachlichung der Debatte nicht gelinge – Voßkuhle verweist vor allem auf die Auseinandersetzungen um die Regelung der Migration und die Verfassungsmäßigkeit der Corona-Schutzmaßnahmen –, sei es auch für das Bundesverfassungsgericht schwierig, Vertrauen zu stiften oder verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. 

Für die Demokratietheorie halten Voßkuhles Ausführungen zwei Lehren bereit: Zum einen sollten alle politischen Akteure, denen an einem Erhalt der repräsentativen Demokratie und der bestehenden Verfassungsordnung gelegen ist, von unsachlichen und diffamierenden Angriffen auf politische Gegner absehen, da derlei Attacken niemals nur ihr eigentliches Ziel treffen, sondern das Vertrauen in das politische System als Ganzes unterminieren; und zum anderen sollten sie den Wählerinnen und Wählern glaubhaft den Eindruck vermitteln, dass sie den sachlichen Problemen intellektuell gewachsen sind und ernsthaft an deren Lösung arbeiten.

Instabilität als Herausforderung und Chance

Einen anders gelagerten, stärker auf Analyse und Abklärung zielenden Zugang wählt Armin Nassehi in Heft 221 des Kursbuch, das dem Thema „Verteidigung“ gewidmet ist. Unter der Überschrift „Verteidigung der Demokratie nach innen. Über ein schwieriges Selbstverhältnis“ nimmt Nassehi die Herausforderung der westlichen Demokratien durch die gegenwärtigen Krisen zum Anlass für eine Reihe grundsätzlicher Überlegungen zum Verhältnis von Instabilität und Politik. Tatsächlich, so Nassehi, könne man Instabilität als zentrales Bezugsproblem der Politik verstehen, und zwar im doppelten Sinne als Herausforderung für die Ordnungsbildung wie als Quelle von Gestaltungsmöglichkeiten:

„Instabilität ist nichts Negatives, sondern die große Chance, Variation, Möglichkeiten, Abweichungen, Entwicklungen, Kritik und so fort in ein System einzubauen.“ (S. 140)

So verstanden ist Politik nichts anderes als der Versuch, mittels kollektiv bindender Entscheidungen die Bearbeitung systemimmanenter Instabilität zu ermöglichen und gleichzeitig genügend Instabilität aufrecht zu erhalten, um weitere Entscheidungen zu ermöglichen und damit den Fortbestand des Systems sicherzustellen. Das Mittel zur Bewältigung dieser Aufgabe ist für Nassehi politische Macht, deren erfolgreiche Ausübung immer darauf angewiesen ist, dass die Adressaten der Macht, also die Bürgerinnen und Bürger, die getroffenen Entscheidungen als bindend anerkennen. Während autokratische oder diktatorische Regime zur Bewältigung dieser Aufgabe auch vor Drohungen, Zensur und dem Einsatz von Gewalt nicht zurückschreckten, zeichneten sich liberal-demokratische Systeme dadurch aus, dass sie auf die freiwillige Folgebereitschaft der Bürgerinnen und Bürger setzen, was sie in hohem Maße instabil und irritationsanfällig mache.

„Demokratische politische Formen und Verfahren sind per se instabil, weil sie ergebnisoffen sind, weil sie zwar kollektiv bindende, aber nicht unbedingt kollektiv, sondern nur mehrheitlich zustimmungsfähige Entscheidungen treffen können. Sie sind vor allem deshalb in besonderer Weise instabil, weil der Machtkreislauf anfälliger ist. Es bedarf tatsächlich politischer Entscheidungen, die in der Lage sind, so viel Plausibilität beim Publikum zu erzeugen, dass weitere Entscheidungen möglich sind. Die Demokratie versucht die Instabilität nicht zu umgehen oder gewaltsam zu verhindern, sondern im Gegenteil: sie einzusetzen.“ (S. 142)

Unerlässlich für das Funktionieren liberal-demokratischer Systeme sei, dass alle beteiligten politischen Akteure die etablierten Verfahren zur Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen akzeptieren, also auch diejenigen, die sich mit ihren Ansichten nicht durchsetzen konnten, keine Mehrheit fanden. Werde dieser „Konsens über den Dissens“ (ebd.) und die Rechtmäßigkeit der Verfahren infrage gestellt, das politische Gegenüber mithin nicht mehr als zu respektierender Gegner, sondern als unter allen Umständen zu besiegender Feind verstanden, gerate das liberal-demokratische System an seine Grenzen.

„In der Krise ist die Demokratie, wenn die Antipoden sich gegenseitig nicht anerkennen, wenn man sich Regierungswechsel nicht mehr vorstellen kann, wenn es keine Kompromissmöglichkeiten mehr im System der checks and balances gibt.“ (S. 143)

Ebendiese Angewiesenheit liberal-demokratischer Systeme auf die Loyalität derjenigen, die nicht zur Mehrheit gehören, machten sich ihre rechtspopulistischen und autoritären Gegner zunutze, um die demokratischen Routinen außer Kraft zu setzen und damit schrittweise zu delegitimieren. In dem Maße, in dem es ihnen gelingt, sich rationalen inhaltlichen Auseinandersetzungen und sachlichen Kompromissen zu verweigern und allein ihre eigene Position als legitimen Ausdruck des Volkswillens erscheinen zu lassen, seien sie in der Lage, den demokratischen Prozess zu lähmen und die anderen Parteien zu erpressen.

„Es ist wie ein Kreislauf: Wenn es gelingt, bestimmte Themen so zu setzen, dass dem politischen Publikum Disruptionen und radikale Entweder-oder-Lösungen plausibel erscheinen, werden diejenigen politischen Kräfte gewinnen, die solches anbieten. Diese Kräfte aber sind nicht mehr kompatibel mit jenem Institutionengewebe der Demokratie, das die Dinge üblicherweise klein arbeitet und in Entscheidungen transformiert, mit denen auch die Gegner leben können. Die Demokratie ist in Gefahr, wenn das nicht mehr gilt.“ (S. 149)

Was also tun? Appelle an den Gemeinsinn und Aufrufe zum Umdenken, daran lässt Nassehi keinen Zweifel, werden nicht helfen, müssen sie doch auf Seiten des Publikums bereits voraussetzen, was sie erzeugen wollen. Was es stattdessen brauche, sei eine Besinnung der demokratischen Parteien auf die anspruchsvollen Funktionsvoraussetzungen liberal-demokratischer Systeme und eine politische Praxis, die von ebendem Respekt und der Sachlichkeit im Umgang miteinander geprägt ist, den die autoritären und rechtspopulistischen Parteien absichtsvoll vermeiden. Das Heil in einer Art Überbietungswettkampf in der Übernahme radikaler Positionen oder Problembeschreibungen zu suchen, sei der falsche Weg.

„Die wirksamste Verteidigung der Demokratie wären nicht Bekenntnisse und Appelle an den Gemeinsinn, sondern gelingende Politik – und gelingende Politik heißt in erster Linie eine Form, die eine Kompetenzanmutung vermittelt. Davon kann derzeit nicht die Rede sein. So naiv die Aufforderung wirkt, aber die einzige Chance besteht darin, Sachfragen als Sachfragen zu lösen und dafür eine anschlussfähige Sprache zu finden.“ (S. 153)

Max Weber nannte das dereinst „ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“.[2]

Der Fluch der Selbstbeschränkung

Eine kämpferische Antwort auf die Ausgangsfrage liefert schließlich Uwe Volkmann in Heft 912 des Merkur. Unter dem sprechenden Titel „Demokratischer Minimalismus. Zur Kapitulation der Demokratietheorie vor der gegenwärtigen Lage“ geißelt er die Verzagtheit der aktuellen Debatten und liest der Zunft die Leviten. Volkmann interessiert sich weniger für die diagnostizierte Krise der Demokratie, sondern in erster Linie für deren demokratietheoretische Verarbeitung. Ihm zufolge hat die Krise „längst ihr eigenes Literaturgenre hervorgebracht, mit neuen Hervorbringungen nahezu im Wochenrhythmus und nicht nur gelegentlichen Anleihen bei der Sprache der Pathologie“ (S. 7). Darin sieht Volkmann nun allerdings keinen Beweis für den lebendigen Charakter der Disziplin, vielmehr attestiert er den betreffenden Publikationen ein grundsätzliches Manko, nämlich den Verzicht auf eine normativ anspruchsvolle Konzeption von Demokratie. Sie alle, so Volkmann, suchten ihr Heil nur noch „in der Anspruchslosigkeit, im Abschied von den hoffnungsvollen Erwartungen, die sich auf sie als politische Form einmal richten mochten“ (ebd.). Als Beispiel für eine radikale und eben deshalb besonders bezeichnende Ausprägung dieser normativen Bescheidenheit verweist er auf Adam Przeworskis Minimaldefinition von Demokratie, der zufolge es sich dabei um ein politisches System handelt, in dem Regierungen Wahlen verlieren können und friedlich abtreten.[3]

„Das ist der demokratische Minimalismus in seiner radikalsten Form, gespeist aus tiefem Misstrauen gegen die menschliche Fähigkeit zur Demokratie überhaupt. Aber auch soweit sie diese Grundannahmen nicht teilt, arbeitet die aktuelle Krisenliteratur fast durchgängig mit einem sparsamen Modell, das noch die rechtsstaatlichen Gewährleistungen der Verfassung hinzunimmt und dann wahlweise als konstitutionelle oder liberale Demokratie bezeichnet wird, als entscheidend für das Vorhandensein von Demokratie aber immer auf die reale Möglichkeit des Machtwechsels abstellt. Man muss eben mit dem zufrieden sein, was man – noch – hat.“ (S.7 f.)

Um den defizitären Charakter der gegenwärtigen Demokratietheorien zu verdeutlichen, kontrastiert Volkmann sie mit Theorieentwürfen und Debatten der 1970er- bis 2000er-Jahre, die das Fach im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts maßgeblich prägten, etwa John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit, die Beiträge zur Liberalismus-Kommunitarismus-Kontroverse, oder Jürgen Habermas’ deliberative Demokratietheorie. Von dem Gestaltungsoptimismus, den hohen Maßstäben und der visionären Kraft dieser Arbeiten ist für ihn heute nichts mehr vorhanden. Der Glaube an den Fortschritt sei der Sorge vor dem Verlust gewichen, statt Optimismus und Aufbruchstimmung herrschten Mut- und Perspektivlosigkeit:

„Der demokratische Minimalismus passt in eine Welt, die sich von der Zukunft nicht viel erwartet und bloß noch hofft, dass es nicht schlimmer kommt. Vorherrschende Grundstimmung ist ein tiefer Pessimismus, gespeist aus existentiellen Sorgen: Die Jugend treibt die Angst vor dem Klimawandel um, die Mittelklasse fürchtet den sozialen Abstieg, die Älteren bangen um die Sicherheit ihrer Renten; die unteren Schichten fürchten sich davor, weiter abgehängt zu werden, die oberen vor der Wut der Abgehängten, sie alle zusammen nun vor dem nächsten Krieg. Zur dominierenden Kategorie ist dieser Gesellschaft der ,Verlust‘ geworden, den sie möglichst zu vermeiden trachtet.“ (S. 10)

Damit aber gehe der Demokratietheorie nicht weniger verloren als die Fähigkeit, eine von der Gegenwart institutionell und strukturell verschiedene Zukunft zu imaginieren. Statt den Horizont des Denkens zu erweitern und Alternativen zur bestehenden Ordnung aufzuzeigen, falle die Zunft in vormoderne Denkmuster zurück, indem sie die Zukunft nur noch nach der Gegenwart modelliere:

Die Zukunft „soll nicht mehr anders sein als die Gegenwart, schon gar nicht stellt man sie sich als besser vor, sondern man will möglichst viel von der Gegenwart erhalten und in die Zukunft hinein verlängern, auf diese Weise zugleich auch retten. Der Rückblick in die Vergangenheit und der Ausblick in die Zukunft dienen so gesehen nur dazu, die Gegenwart aufzuwerten, als die Zeitebene, auf der sich das Bewahrenswerte versammelt.“ (S. 11)

Beredter Ausdruck dieser intellektuellen Selbstbeschränkung, die sich nur noch auf die Verteidigung des Status quo konzentriere, ist für Volkmann der bemerkenswerte Erfolg des Konzepts der Resilienz, das längst auch in die Politik- und Sozialwissenschaft Einzug gehalten habe und darauf abziele, die Institutionen der liberalen Demokratie zu stärken und – etwa mit rechtlichen Mitteln – vor dem Zugriff autoritärer Kräfte zu schützen. Diese auf den ersten Blick plausible Abwehrstrategie greife jedoch in zweifacher Hinsicht zu kurz. Zum einen sei es problematisch, die Sicherung des demokratischen Prozesses an Instanzen zu delegieren, die, wie beispielsweise das Bundesverfassungsgericht, dem demokratischen Prozess enthoben sind; zum anderen, weil auch das Konzept der Resilienz kein positives Verständnis von Zukunft ermögliche, diese vielmehr nur als Risiko begreife. Es handle sich um ein rein defensives Konzept, das den „Geist der Wagenburg“ atme, die es unter allen Umständen zu verteidigen gilt. Damit aber, so Volkmann, gerate man in eine strukturelle Unterlegenheit gegenüber den Gegnern der Demokratie und ihren einfach gestrickten, aber wirkmächtigen Zukunftsnarrativen.

„Heute wird die Sehnsucht nach einer besseren Zukunft, auch wenn man es ungern einräumt, von jemandem wie Trump bedient. Gegen ,Make America Great Again‘ mag man deshalb vieles sagen, aber es erzählt in einem Satz eine Geschichte, die inspirierende Geschichte von vergangenem Niedergang und Aufbruch zu neuen Ufern; wenn dafür das Alte erst einmal zerhauen werden muss, nun gut. Mit Sätzen wie ,Sie kennen mich‘ wird man dagegen künftig nicht antreten können.“ (S. 13)

Aus dieser prekären Lage kann sich die Demokratietheorie Volkmann zu Folge nur mit Hilfe inhaltlich und normativ anspruchsvoller deliberativer Theorieentwürfe befreien, deren Ausbuchstabierung und argumentative Verteidigung sie nicht allein Institutionen wie dem Bundesverfassungsgericht überlassen dürfe. Solche Entwürfe brauche es nicht nur, um den Feinden der Demokratie ein positives Ideal von Demokratie entgegenzusetzen, sondern auch und vor allem, um einen Begriff von Demokratie zu entwickeln, der sich den Herausforderungen der Gegenwart gewachsen zeigt. Ohne einen solchen Begriff fehle es an einem geeigneten Maßstab, anhand dessen sich strukturelle Defizite und Fehlentwicklungen als solche überhaupt erkennen, benennen und kritisieren lassen. Der demokratische Minimalismus liefere zwar Kriterien zur Unterscheidung zwischen demokratischen und nicht (mehr) demokratischen Staaten, sei jenseits dessen aber nicht in der Lage, demokratiebegünstigende und demokratiegefährdende Tendenzen voneinander zu unterscheiden:

„Wo es am Ende nur auf die fortbestehende Möglichkeit eines Mehrheitswechsels ankommt, ist alles unterhalb dieser Schwelle ja erst einmal ohne Belang. Warum, zum Beispiel, soll es für die Demokratie ein Problem sein, wenn eine offensichtlich immer größere Zahl von Leuten die Fakten leugnet und die abstrusesten Ansichten vertritt?“ (S. 16)

Begreife man den demokratischen Prozess hingegen als eine Form des öffentlichen Vernunftgebrauchs, sehe man klarer, warum eine zunehmende Polarisierung der Gesellschaft und eine Verhärtung der politischen Fronten keineswegs kontingente Begleiterscheinungen der Gegenwart sind, sondern die der Demokratie zugrundeliegende Idee einer sich wechselseitig als Freie und Gleiche anerkennenden und über sich selbst bestimmenden Gemeinschaft von Bürgerinnen und Bürgern infrage stellen.

„Man kann so auch sehen, warum die Demokratie nicht erst dann zerfällt, wenn eine aus einer solchen Polarisierung hervorgegangene und sie selbst immer weiter vorantreibende Bewegung die politischen Ämter im Staat besetzt, sondern bereits lange zuvor; der Umschlag in den Autoritarismus ist nur noch der letzte Nagel in den Sarg, und was davor steht, ist bestenfalls eine defekte und bereits schwer beschädigte Demokratie.“ (S. 17)

Wolle man der fortschreitenden Bewegung auf dieser Abwärtsspirale nicht tatenlos zusehen, brauche es ein Ideal von Demokratie, dass das Versprechen auf allgemeine Mitwirkung am politischen Prozess glaubhaft zum Ausdruck bringe. Dies sei vor allem nötig, um der insbesondere von rechtspopulistischer Seite mit großem Aufwand betriebenen semantischen Verschiebung des Demokratiebegriffs und seiner Reduktion auf ein rohes Verständnis von Volkssouveränität etwas entgegenzusetzen. Statt sich auf die Beobachtung der Gegner zu fixieren und ängstlich auf den nächsten Angriff zu warten, müsse die Demokratietheorie ihrerseits mutig in die Offensive gehen und den längst begonnenen Kampf um die Begriffe endlich annehmen. „Aus dem Geist der Defensive“, so Volkmann abschließend, „lassen sich solche Kämpfe erfahrungsgemäß nur schwer gewinnen.“ (S. 19)

Die Verve und Eloquenz, mit der Volkmann für eine normativ gehaltvolle Demokratie streitet, sind beeindruckend und viele seiner Argumente treffend. Sein Plädoyer, aus Sorge um das Bestehende das Nachdenken über Alternativen aufzugeben, möchte man umgehend unterschreiben. Mit Blick auf seine Hoffnung in die mobilisierende Kraft normativ anspruchsvoller Demokratietheorien allerdings bleiben Zweifel. An Theorien, wie Volkmann sie fordert, herrscht schließlich kein Mangel. Wenn deren Strahl- und Anziehungskraft die Bürgerinnen und Bürger aber bis jetzt nicht für die Demokratie begeistert hat, warum sollte man annehmen, dass dies in Zukunft anders sein werde? 

Lässt man die Argumente der drei Beiträge Revue passieren, drängt sich der Eindruck auf, dass die Demokratietheorie ihr Ziel verfehlt, wenn sie ihre Aufgabe darin sieht, Begeisterung für die Demokratie zu wecken. Diese Aufgabe sollte sie der Politik überlassen. Politische Visionen mögen dabei helfen, scheinen aber nicht zwingend erforderlich zu sein. Die von Voßkuhle und Nassehi präsentierten Befunde deuten eher darauf hin, dass schon viel gewonnen wäre, wenn die Bürgerinnen und Bürger den begründeten Eindruck haben dürften, die politischen Akteure seien kompetent und die staatlichen Institutionen handlungsfähig. So, wie die Dinge liegen, scheint das schwer genug.

  1. Vgl. u.a. Timothy Snyder, Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand, übers. von Andreas Wirthensohn, München 2017; Steven Levitsky / Daniel Ziblatt, Wie Demokratien sterben. Und was wir dagegen tun können, übers. von Klaus-Dieter Schmidt, München 2018; Yascha Mounk, Der Zerfall der Demokratie. Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht, übers. von Bernhard Jendricke, München 2018; Veith Selk, Demokratiedämmerung. Eine Kritik der Demokratietheorie, Berlin 2023. Kritisch zur demokratietheoretischen Diskussion der letzten Jahre insgesamt: Philip Manow, Unter Beobachtung. Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde, Berlin 2024.
  2. Max Weber, Politik als Beruf (Oktober 1919), in: ders., Gesammelte Politische Schriften, hrsg. von Johannes Winckelmann, 5. Aufl., Tübingen 1988, S. 505–560, hier S. 560.
  3. Adam Przeworski, Krisen der Demokratie, übers. von Stephan Gebauer, Berlin 2020.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky.

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Karsten Malowitz

Karsten Malowitz, Politik- und Sozialwissenschaftler, arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteur der Zeitschrift Mittelweg 36 und des Internetportals Soziopolis.

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