Monika Oberle, Tine Stein | Essay | 09.09.2025
Freiheitliche Demokratie unter Druck
Wie normativ bestimmt soll politische Bildung sein? Eine Antwort in acht Thesen
Unter dem Eindruck der Angriffe auf die freiheitliche Demokratie, die mittlerweile nicht mehr nur von autoritären Staaten oder terroristischen Bewegungen kommen, sondern auch aus der Mitte der Bürgerschaft, gewinnt die politische Bildung in der Politikwissenschaft an neuer Aufmerksamkeit. Im Zentrum der Diskussion steht erstens der 1976 entstandene Beutelsbacher Konsens[1] mit seinen Prinzipien des Überwältigungsverbots und des Kontroversitätsgebots sowie mit dem Ziel der Herausbildung subjektiver Urteilskraft und Interventionsfähigkeit. Dabei stellt sich insbesondere die Frage nach den Grenzen des Kontroversitätsgebots. Zweitens wird eine weitere Funktion politischer Bildung kritisch diskutiert, nämlich ihr Beitrag zur Extremismusprävention. In der aktuellen fachdidaktischen Debatte um das Verhältnis von Prävention und politischer Bildung wird offenbar, dass klärungsbedürftig ist, worüber in normativer Hinsicht ein rahmender Grundkonsens bestehen sollte, der dem politisch kontroversen Sektor entzogen ist. Auf die freiheitliche demokratische Grundordnung als normativen Grundkonsens politischer Bildung beziehen sich Stellungnahmen und Leitfäden der Kultusministerien ebenso wie die 2018 verabschiedete gemeinsame Erklärung der Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE), der Deutschen Vereinigung für politische Bildung (DVPB) und der Sektion für Politikwissenschaft und Politische Bildung der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW).[2] Von manchen Seiten wird jedoch kritisiert, dass diese normative Orientierung an der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu statisch und zu wenig ergebnisoffen für politische Bildungsprozesse sei und dass dadurch ein ungebührlicher Widerspruch zur Subjektorientierung der politischen Bildung entstehe. Es stellt sich allerdings die Frage, welche Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung von ihren Kritiker*innen als zu statisch und zu wenig ergebnisoffen wahrgenommen werden.[3] Wird hier zugunsten von Subjektorientierung und Ergebnisoffenheit jegliche Vorfestlegung politischer Bildung auf einen Wertebezug abgelehnt, womit dann auch beispielsweise rassistische Weltbilder oder der Ruf nach einem autoritären Führer als gleichberechtigte Positionen behandelt werden müssten? Oder stoßen sich die Kritiker*innen am Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, während Menschenwürde und Demokratieprinzip als Rahmung des Kontroversitätsgebots im politikdidaktischen Diskurs breiteren Anklang finden? Wird unter der freiheitlichen demokratischen Grundordnung womöglich fälschlicherweise der gesamte Wortlaut des Grundgesetzes verstanden? Oder stört man sich gar nicht am inhaltlichen Gehalt der mit der „fdGO“ aufgerufenen Prinzipien, sondern lediglich am Begriff, der auch historisch bedingt als ein politischer Kampfbegriff wahrgenommen und deshalb als Bezugspunkt der politischen Bildung abgelehnt wird? Eine transparente Auseinandersetzung über das, was der normative Bezug auf die freiheitliche demokratische Grundordnung als nicht kontroverser Sektor für die politische Bildung eigentlich bedeuten soll, und die nachvollziehbare Offenlegung der dabei erzielten Ergebnisse könnten hier Klarheit bringen. Die entsprechende Debatte sollte sowohl im politikdidaktischen Fachdiskurs als auch in der politischen Bildungspraxis geführt und dabei stets auch auf die politiktheoretische Diskussion bezogen werden.
Wir wollen die Diskussion über die freiheitliche demokratische Grundordnung aufgreifen und darlegen, warum eine der zentralen Aufgaben der politischen Bildung darin besteht, diese Ordnung wehrhafter gegenüber ihren Gegnern zu machen. Damit Lehrende und Lernende die normativen Grundlagen des Zusammenlebens in der freiheitlichen Demokratie verteidigen können, müssen sie in die Lage versetzt werden, diese nicht nur zu verstehen, sondern auch zu begründen. Dazu stellen wir im Folgenden acht Thesen auf.
These 1: Das Doppelparadox der wehrhaften Demokratie
Der Kern politischer Freiheit besteht darin, dass sich die Bürgerschaft in freier Selbstbestimmung politisch äußern und organisieren können muss. Damit ist im Prinzip auch die Option verbunden, dass politische Inhalte befürwortet werden, die auf eine Abschaffung der Demokratie gerichtet sind – Demokratie zunächst verstanden im basalen Sinn als System, in dem auf der Basis politischen Wettbewerbs Regierungen auf Zeit gewählt werden. Wenn eine Partei, die darauf abzielt, den demokratischen Wettbewerb zu ihren Gunsten abzuschaffen, eine Regierungsmehrheit erhält, dann wird das Paradox politischer Freiheit sichtbar: Freiheit wird genutzt, um Freiheit abzuschaffen. Eine Antwort auf dieses Paradox ist bekanntlich das Konzept der wehrhaften Demokratie, das die Demokratie davor schützen soll, mit ihren eigenen Mitteln abgeschafft zu werden. Oder in den Worten des Bundesverfassungsgerichts in der zweiten NPD-Entscheidung: es sollen „Verfassungsfeinde nicht unter Berufung auf die Freiheiten, die das Grundgesetz gewährt, und unter ihrem Schutz die Verfassungsordnung oder den Bestand des Staates gefährden, beeinträchtigen oder zerstören“ können.[4] Dabei existiert ein Spannungsfeld zwischen der von den Gegner*innen der Demokratie ausgehenden Gefahr und den zum Schutz der Demokratie einzusetzenden rechtlichen Mitteln. Zu diesen zählen in der grundgesetzlichen Ordnung das Vereinsverbot, die Beschränkung der Versammlungsfreiheit und der Meinungsäußerungsfreiheit, der Ausschluss von staatlicher Parteienfinanzierung sowie das schärfste Schwert der wehrhaften Demokratie, nämlich das Parteiverbot nach Art. 21 GG. Hier wird der Glutkern der Demokratie getroffen, nämlich die Freiheit der Bürgerschaft, sich politisch zu organisieren und Regierungsverantwortung zu übernehmen. Die Antwort auf das Paradox, dass die Demokratie mit ihren eigenen Mitten abgeschafft werden kann, besteht also in einem weiteren Paradox, nämlich, dass zum Schutz der Demokratie die politische Freiheit beschränkt werden können muss. Was heißt das für die politische Bildung?
These 2: Normative Rekonstruktion statt kritische Dekonstruktion
Zunächst einmal heißt es zu erkennen, dass politische Bildung nicht in ein veraltetes Programm der Staatsbürgerkunde und des Staatsschutzes zurückfällt, wenn sie das Konzept der wehrhaften Demokratie zum Thema macht. Tatsächlich erscheint aber aus der Perspektive eines prozeduralen Demokratieverständnisses ein damit verbundenes materiales, also an bestimmten inhaltlichen Prinzipien ausgerichtetes Demokratieverständnis als problematisch. Das gilt insbesondere für demokratietheoretische wie auch politikdidaktische Ansätze, denen es inhaltlich vor allem um Kritik des Bestehenden und methodisch um Dekonstruktion statt Rekonstruktion geht. Nun ist die Fähigkeit zu kritischer Urteilsbildung selbstverständlich das A und O für eine mündige Bürgerschaft. Aber darin sollte auch die Fähigkeit eingeschlossen sein, begründen zu können, warum eine Demokratie besser ist als eine Diktatur, warum und wie die Bindung an das Recht dazu dient, Freiheit zu garantieren, und welche Erfahrungen mit unterschiedlichen politischen Institutionen in je anderen Kontexten gemacht wurden und werden.
Im Sinne der gegenwärtig verstärkt geforderten Kontextualisierung demokratiepolitischer Begriffe sollte dabei durchaus auch die ambivalente Geschichte, die sich mit dem Konzept der wehrhaften Demokratie in der frühen Bundesrepublik verbindet, behandelt werden.[5] Es ist ja in demokratiepolitischer Hinsicht nicht nur der Radikalenerlass der Siebzigerjahre problematisch gewesen, sondern auch die in den Fünfziger- und Sechzigerjahren vorherrschende Politik, der es weniger um Demokratieschutz als um Staatsschutz ging – maßgeblich unterstützt und ins Werk gesetzt von Jurist*innen, von denen etliche schon im sogenannten Dritten Reich ihren Dienst getan hatten und die nun als Beamte der Bundesrepublik für Recht und Ordnung sorgen sollten. All das verdient eine kritische Analyse. Aber diese Erfahrungen können nicht als Rechtfertigung dienen, die Argumente, die die Ratio der wehrhaften Demokratie politiktheoretisch begründen, zu ignorieren. Es sollte jede Lehrperson eine Antwort auf die Frage haben, warum es normativ richtig ist, das eine Paradox mit einem anderen zu beantworten und damit der Komplexität gerecht zu werden. Dabei fällt die politiktheoretisch-normative Argumentation für die wehrhafte Demokratie besonders überzeugend aus, wenn die prinzipielle Ebene mit dem Grundgesetz als Probe aufs Exempel verbunden wird. Denn anhand der sogenannten Ewigkeitsgarantie im Art. 79 Abs. 3 GG, einem weiteren Mittel aus dem Instrumentenkasten der wehrhaften Demokratie, lässt sich verdeutlichen, warum die Begrenzung politischer Freiheit gewissermaßen aus systematischen Gründen notwendig ist.
These 3: Die Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes als ein verfassungspraktisches Beispiel für den Universalitätsanspruch des demokratischen Verfassungsstaates
In der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG werden die grundlegenden Verfassungsprinzipien, wie sie in Artikel 1 und 20 niedergelegt sind, vor einer Änderung durch den verfassunggebenden Gesetzgeber geschützt. Selbst mit Einstimmigkeit in Bundestag und Bundesrat könnten die hier enthaltenen grundlegenden Prinzipien nicht geändert oder abgeschafft werden. Dies betrifft das Demokratieprinzip, die Bindung aller staatlichen Politik und Gewalt an das Recht, die Gewaltenteilung in horizontaler und vertikaler Dimension und schließlich, dass es sich um ein inhaltlich ausgewiesenes Recht handelt: In Art. 1 ist das Prinzip statuiert, dass allen Menschen eine gleiche Würde zukommt und dass daraus Menschenrechte folgen, die sich in Grundrechten niederschlagen. In der neuen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Parteiverbotsverfahren lassen sich diese Prinzipien unter der Überschrift der freiheitlichen demokratischen Grundordnung wiederfinden, die im Wesentlichen aus den drei Pfeilern der Demokratie, der Menschenwürde und Menschenrechte sowie der Rechtsstaatlichkeit besteht. Der herausgehobene rechtliche Geltungsanspruch dieser Prinzipien entspricht ihrem normativen Geltungsanspruch als universelle Prinzipien. Denn von gleicher Menschenwürde und Menschenrechten, die das Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung beinhalten, geht ein unbedingter Anspruch auf Geltung jenseits von Zeit und Raum aus. Dieser Anspruch, dass jedem Menschen qua Menschsein eine gleiche Würde zukommt, wäre mit einer räumlichen Begrenzung (etwa auf die im Westen lebenden Menschen) oder zeitlichen Befristung (etwa auf eine bestimmte Bürgerschaft, die sich in ihrer Verfassung darauf als Wertgrundlage geeinigt hat) auf der Ebene normativer Begründung nicht in Einklang zu bringen.
Zugleich bedarf es der Anerkennung dieser Begründung in faktischer Hinsicht, das heißt dieser universale Geltungsanspruch muss politisch und gesellschaftlich auch anerkannt und getragen werden. In diesem Sinne kann der Art. 79 Abs 3 GG verstanden werden: Hier wird normlogisch unterstrichen, dass ein relatives Verständnis in der Begründung von Menschenwürde und Menschenrechten nicht gelingen kann und dass sich die deutsche Bürgerschaft in ihrer Verfassung darauf verpflichtet hat, dem universalen Anspruch folglich auch in Zukunft gerecht werden zu wollen. Damit wird weder behauptet, dass die deutsche Verfassung an dieser Stelle in einzigartiger Form den gordischen Knoten von Universalismus und Partikularismus gelöst hat – es mag andere, funktional äquivalente institutionelle und rechtliche Arrangements mit dem gleichen Ziel geben –, noch wird damit das spezifische institutionelle Setting des Grundgesetzes als superrepräsentative Demokratie mit einer starken gerichtlichen Kontrolle für die Ewigkeit zementiert. Änderungen der Verfassung im Rahmen des Grundgerüsts einer auf individuellen Rechten, Gewaltenteilung und Demokratie basierenden politischen Ordnung sind durchaus möglich.
Auch wenn vermutlich strittig sein dürfte, ob bestimmte grundlegende Änderungen noch zu rechtfertigen sind oder schon in den von der Ewigkeitsgarantie geschützten Bereich hineinragen, ist der zentrale Aspekt für die Wehrhaftigkeit der Demokratie, dass überhaupt die Idee eines solchen normativen Korridors besteht. Eine Änderung der superrepräsentativen Ausrichtung durch Aufnahme direktdemokratischer Verfahren in die Gesetzgebung des Bundes befände sich wohl innerhalb des grundgesetzlichen Korridors; eine Umwandlung in eine plebiszitär-identitäre Organisation von Demokratie, welche eine einmal zustande gekommene Mehrheit auf Dauer stellen will, befände sich hingegen außerhalb, da in diesem Fall die Grundpfeiler von Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung, die die individuelle Freiheit schützen sollen, eingerissen würden. Die Weimarer Verfassung hatte bekanntlich keine solche inhaltliche Schranke für die Änderung des Verfassungsrechts, weswegen die Nazis im Zuge der sogenannten Machtergreifung, ohne durch die Verfassung daran gehindert zu werden, diese ins Gegenteil verkehren konnten. Aber ist die Ewigkeitsgarantie wirklich eine Garantie?
These 4: Die freiheitliche demokratische Grundordnung als Korridor verlangt ein demokratisches Ethos
Die freiheitliche demokratische Grundordnung des GG formuliert also einen Korridor, allerdings kann dem Grundgesetz nicht mit verfassungsdogmatischer Präzision vorab entnommen werden, ob und wo dieser verlassen wird. Dies kann auch nicht politiktheoretisch anhand der Kriterien eines normativen Universalismus immer zweifelsfrei und widerspruchslos entschieden werden. Aber es macht, um es noch einmal zu unterstreichen, methodisch-theoretisch einen Unterschied ums Ganze, ob die Existenz eines solchen Korridors vorausgesetzt und damit von der Vorstellung legitimierbarer Grenzen ausgegangen wird oder nicht, ließe sich doch andernfalls die normative Vorzugswürdigkeit von Freiheit und gleicher Würde gar nicht konsistent begründen.
Auf die Praxis der Begründung kommt es dann allerdings auch an, das heißt die Umrisse eines solchen normativen Korridors müssen in der politischen Auseinandersetzung auch konsequent behauptet und verteidigt werden. In der frühen Bundesrepublik ist dies als Konsens über das „Unabstimmbare“ angesprochen worden, womit gemeint ist, dass die politischen Akteure – Repräsentant*innen wie Repräsentierte – sich einig wissen müssen über das, was dem politischen Streit entzogen bleiben soll. Ernst Fraenkel, Remigrant und einer der Gründerväter der deutschen Politikwissenschaft, hat dies in seiner Theorie pluralistischer Demokratie als „nicht-kontroversen Sektor“ konzeptualisiert.[6] Denn bei allem legitimen Wertepluralismus bedarf es im demokratischen Verfassungsstaat geteilter ethischer Überzeugungen der Bürger*innen und einer diesen Überzeugungen entsprechenden Haltung in der Praxis. Hierzu gehören insbesondere, dass allen Menschen die gleiche unantastbare und zu respektierende Würde innewohnt; dass allen Bürgerinnen und Bürgern in der Demokratie gleiche Freiheit zukommt und folglich faire Lösungen bei widerstreitenden Interessen zu suchen sind; und dass sich das Engagement der Bürger*innen in einer lebendigen Demokratie nicht auf die bloße Erfüllung geschriebener Rechtspflichten beschränken darf. Hier ist einmal mehr an die viel zitierte Sentenz Ernst-Wolfgang Böckenfördes zu erinnern, wonach der freiheitliche säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, das heißt rechtlich nicht mit seinem ureigenen Mittel des positiven Rechts erzwingen kann.[7] Der demokratische Verfassungsstaat ist auf ein demokratisches Ethos der Bürger*innen angewiesen, das die Institutionen trägt und lebendig hält.
These 5: Die Anerkennung des Überwältigungsverbots und des Kontroversitätsgebots ist nicht gleichbedeutend mit Neutralität
Ausgehend von den zuvor skizzierten politiktheoretischen und verfassungspolitischen Überlegungen ergeben sich einige Schlussfolgerungen für die Politikdidaktik und die politische Bildung: Erstens kann das Kontroversitätsgebot des Beutelsbacher Konsenses nicht bedeuten, der normativen Ordnung des demokratischen Verfassungsstaates neutral gegenüberzustehen und diese in Bildungszusammenhängen als eine beliebige politische Ordnung neben anderen vorzustellen. Vielmehr muss es darum gehen, Lehrende und Lernende in die Lage zu versetzen, die normative Vorzugswürdigkeit der universalistischen Prinzipien gleicher Würde und Freiheit sowie von Demokratie und Rechtstaatlichkeit auf einer sehr grundsätzlichen Ebene auch begründen zu können. Zweitens kann das Überwältigungsverbot nicht heißen, als lehrende Person die eigene subjektive Position zu bestimmten politischen Fragen immer verbergen zu müssen – stattdessen gilt es, diese als solche zu kennzeichnen, zu begründen und klarzumachen, dass man die Dinge auch anders sehen kann. Die Offenlegung der eigenen politischen Position ist letztlich (auch unter didaktischen Gesichtspunkten) situativ zu entscheiden und der Lehrperson zu überlassen, solange sie sich im Rahmen der grundlegenden Verfassungsprinzipien bewegt.
Das Kontroversitätsgebot findet seine Begrenzung neben dem grundlegenden Wertebezug auf Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zudem im (politik-)didaktischen Prinzip der Wissenschaftsorientierung. Dabei ist zu beachten, dass Wissenschaft auf Kontroversen fußt beziehungsweise dass der Gültigkeitsanspruch ihrer Aussagen sich gerade auch aus der stets möglichen Kritik anderer Wissenschaftler*innen legitimiert. Zwar kann es immer nur vorläufige Wahrheiten geben, gleichwohl sind die derzeit gültigen Erkenntnisse wichtige Elemente von Bildung und wirksame Korrektive gegen postfaktische Behauptungen. Aus dem Kontroversitätsgebot folgt entsprechend nicht der Anspruch, alle in Gesellschaft und Politik geäußerten Positionen im Unterricht als gleichwertig zu behandeln. Vielmehr ist ein false balancing von wissenschaftlich fundierten Positionen einerseits und falsifizierten oder von der breiten Fachcommunity als unzutreffend abgelehnten Positionen andererseits zu vermeiden. Dabei gilt es auch, ein grundlegendes epistemologisches Verständnis zu fördern, wie gesellschaftliches Wissen entsteht und welchen Anspruch auf Wahrheit der aktuelle Stand der Wissenschaft erheben kann. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang nicht zuletzt die Vermittlung kognitiver und methodischer Kompetenzen, die Heranwachsende wie Erwachsene zur politischen Urteilsbildung und aufgeklärten politischen Teilhabe im Netz befähigen und die es ihnen ermöglichen, sich der Überwältigung durch politische Propaganda in den Sozialen Medien zu erwehren.
Schließlich ist zu betonen, dass der Grundwertebezug politischer Bildung auch nicht bedeutet, gegen die Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichtete politische Ansichten zu verschweigen – im Gegenteil. Wie man didaktisch mit menschenverachtenden Positionen, antidemokratischen Überzeugungen oder der Ablehnung rechtsstaatlicher Grundsätze und entsprechenden Äußerungen im Unterricht umgeht und welchen Raum man diesen Themen gibt – auch zur Förderung von Einsichten in den Wert der Prinzipien der freiheitlichen Demokratie –, ist eine wichtige Frage, die einer eigenen Erörterung bedürfte. Hier sind unterschiedliche Strategien denkbar, die je nach Lehr-Lern-Situation und Lerngruppe angemessen sein können. Ziel des Unterrichts beziehungsweise einer Bildungsmaßnahme sollte es jedoch in jedem Fall sein, solche gegen die Grundprinzipien der Verfassung gerichteten Positionen oder Aktionen sowie wissenschaftsfeindliche Positionen zu entkräften und die Resilienz der Lernenden gegen Angriffe auf die freiheitliche Demokratie zu stärken.
These 6: Kontroversen innerhalb des normativen Korridors der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sind auszutragen, Positionen, die außerhalb liegen, sind zu entkräften
Was heißt das konkret mit Blick auf die politische Bildung und die gesellschaftlichen Konflikte der Gegenwart? Beim Thema Klimawandel wird besonders deutlich, dass in der politischen Bildung Setzungen vorgenommen werden (müssen), zu denen in Gesellschaft und Politik lautstark kontroverse Meinungen geäußert werden. So stellt sich beispielsweise die Frage, ob angesichts des Kontroversitätsgebots nicht auch Positionen aus Partei- und Wahlprogrammen, die den menschengemachten Klimawandel leugnen, im Unterricht beziehungsweise in staatlich verantworteten politischen Bildungsmaßnahmen gleichberechtigt thematisiert werden müssen. Die Einschränkung des Spektrums der als gleichberechtigt zu behandelnden kontroversen Positionen im Kontext von Klimawandel und Klimapolitik lässt sich aus zwei Richtungen legitimieren: zum einen mit Rekurs auf den Grundwertebezug, zum anderen mit Verweis auf die Wissenschaftsorientierung. Das im Grundgesetz verankerte Staatsziel, die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere auch in Verantwortung für künftige Generationen zu schützen, bedeutet im Kern, dass heute lebende Menschen ihre Bedürfnisse nicht auf Kosten künftiger Generationen befriedigen dürfen. Zentraler normativer Bezugspunkt ist damit weiterhin der Wert der Menschenwürde, der jedoch explizit zeitlich erweitert wird, indem bei heute zu treffenden politischen Entscheidungen auch die Würde und die Freiheiten künftig lebender Menschen zu beachten sind.
Mit Bezug auf die Wissenschaftsorientierung gilt es, einen aktuellen wissenschaftlichen Konsens dahingehend festzustellen, a) dass sich derzeit ein anthropogener Klimawandel vollzieht, wir also seit der Industrialisierung eine rasant zunehmende Erderwärmung erleben, die maßgeblich durch menschliche Aktivitäten verursacht ist, und b) dass diese Erderwärmung beziehungsweise dieser Klimawandel eine Gefahr für das Wohlergehen von Millionen heute und künftig lebender Menschen darstellt, was sich beispielsweise in der Zunahme extremer Wetterereignisse zeigt oder in der Gefährdung des Gleichgewichts von Ökosystemen niederschlägt. Die Leugnung des anthropogenen Klimawandels im Rahmen politischer Bildung als gleichberechtigte Stimme zu präsentieren, würde eine false balance produzieren, die Bildung ad absurdum führt.
Innerhalb des auf Grundwerte und Wissenschaftlichkeit rekurrierenden Grundkonsenses muss allerdings die Frage nach den angesichts des anthropogenen Klimawandels erforderlichen Maßnahmen zur gesellschaftlichen Transformation kontrovers behandelt werden. So gilt es, politische Auseinandersetzungen um das Degrowth-Paradigma oder um die Ausweitung des CO2-Zertifikatehandels im Unterricht dezidiert offen zu führen.
Auch mit Blick auf die insbesondere in den Sozialen Medien polemisch und polarisierend ausgetragenen Konflikte um Wokeness gilt es, Grenzen des Kontroversitätsgebots reflektiert zu beachten und mit widerstreitenden Positionen differenziert umzugehen: So ist ein misogyner Patriarchalismus klar zurückzuweisen und unter Verweis auf den Grundsatz der Gleichberechtigung auch in Bildungssettings als außerhalb des normativen Grundkonsenses zu markieren, während Argumente für oder gegen die Nutzung gendergerechter Sprache thematisiert und von den Lernenden selbst abgewogen werden sollten. Unterschiedliche sexuelle und geschlechtliche Identitäten gilt es als gleichwertig anzuerkennen und sich dafür auch in der politischen Bildung stark zu machen. Zugleich sollte die Auseinandersetzung über das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz mit Blick auf die Implikationen für Kinder und Jugendliche kontrovers geführt werden.
Und um noch ein letztes Beispiel zu nennen: Diskussionen über die Politik Israels, die Lage der Palästinenser*innen und den Nahostkonflikt sollten differenziert erfolgen, orientiert an den normativen Grundsätzen der Menschenwürde, des Demokratieprinzips und der Rechtsstaatlichkeit, sowie auf der methodischen Basis wissenschaftlicher Standards. So sind menschenverachtende Positionen, Verschwörungsmythen oder antisemitische Vorurteile beziehungsweise Weltbilder als solche zu entlarven und klar zurückzuweisen. Unterschiedliche Definitionen von Antisemitismus und ihre jeweiligen Implikationen hingegen sollten ausdrücklich zum Gegenstand politischer Bildung gemacht werden. Zugleich muss das Existenzrecht Israels vor dem Hintergrund des Holocaust auch gegenüber Migrant*innen oder neu hinzugekommenen Bürger*innen begründet und argumentativ verteidigt werden.
These 7: Politische Bildung in diesem Sinne ist Prävention gegen Extremismus
Bei der Frage, ob Extremismusprävention eine legitime und sinnvolle Funktion politischer Bildung ist, gibt es starke Vorbehalte von Akteuren aus Politikdidaktik und politischer Bildung, die sich vor allem auf die drei Vorwürfe der Verhinderungslogik (anstelle der Subjektorientierung), der Defizitorientierung und der Stigmatisierung fokussieren. Demgegenüber ist zunächst festzustellen, dass professionelle Akteure der Präventionsarbeit sich in ihrem Selbstverständnis und ihren Arbeitsstandards explizit gegen Defizitorientierung und Stigmatisierung wenden und diese mit ihren professionellen Ansätzen gerade vermeiden möchten. Besonders im Falle der Primärprävention, die ja universell angelegt ist und sich explizit an alle richtet – nicht nur an speziell „Gefährdete“ oder „Gefährder*innen“ –, ist eine Stigmatisierung der Lernenden durch Prävention im Prinzip nicht ersichtlich.
Die größte Schnittmenge besteht zwischen politischer Bildung und Primärprävention, etwa im Rahmen des allgemeinen Politikunterrichts. Doch kann sie auch im Rahmen von Sekundärprävention (beziehungsweise selektiver Prävention, die bei erkennbaren Risiken zum Einsatz kommt, etwa wenn sich jemand für extremistische Positionen empfänglich zeigt oder wenn in Stadtvierteln bereits extremistische Akteure präsent sind) sinnvoll sein. Gleiches gilt für die Tertiärprävention (auch als indizierte Prävention verstanden, etwa wenn es bereits zu manifesten extremistischen Verhaltensweisen oder Äußerungen gekommen ist).
Selbst das vielzitierte „Nie wieder!“ als grundlegendes Ziel der politischen Bildung nach Theodor W. Adorno ist Ausdruck eines Verständnisses von politischer Bildung als Prävention. Wer sich gegen eine normative Orientierung der politischen Bildung, gegen eine begründete, kriteriengeleitete Begrenzung des Kontroversitätsgebots richtet, kann sich nicht zugleich überzeugend gegen die Gleichbehandlung von AfD-Positionen in der politischen Bildung oder gegen die staatliche Förderung von Maßnahmen der Desiderius-Erasmus-Stiftung aussprechen. Das tun jedoch in der Regel auch jene, die der politischen Bildung eine Präventivfunktion absprechen oder die gegen die grundlegenden Verfassungsprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung als normativen Bezugspunkt der politischen Bildung argumentieren.
These 8: Lehrpersonen benötigen fundierte fachwissenschaftliche und fachdidaktische Kenntnisse der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, um deren Bedeutung und Relevanz angemessen und wirksam vermitteln zu können
Wir plädieren also für ein Verständnis und eine Umsetzung des Kontroversitätsgebots in der politischen Bildung, das sich auf transparente Weise an einem normativen Grundkonsens orientiert, der die fundamentalen Prinzipien unserer freiheitlichen demokratischen Ordnung beinhaltet: erstens das Prinzip der Achtung und des Schutzes der unantastbaren Menschenwürde und der aus ihr folgenden Menschen- und Bürgerrechte; zweitens das Prinzip der Demokratie mit den Elementen der Volkssouveränität als Quelle der Staatsgewalt, der Verantwortlichkeit der Regierung, dem Mehrparteienprinzip sowie der Chancengleichheit für politische Parteien und dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition; und drittens das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit mit den Elementen der Gewaltenteilung, vor allem der Unabhängigkeit der Gerichte und der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Für jedes dieser Elemente kann derzeit in vielen Staaten gezeigt werden, wie sehr die freiheitliche Demokratie unter Druck steht. Dass es die Aufgabe der Bürgerschaft eines freien und demokratischen Gemeinwesens ist, die Ordnung ihres Zusammenlebens zu verteidigen, sollte ein Credo der politischen Bildung sein. Eine zentrale Aufgabe der politischen Bildung wiederum ist es, Bürger*innen für die mündige und kompetente Bewältigung dieser Herausforderung zu stärken.
Fußnoten
- Der Beutelsbacher Konsens basiert auf dem Protokoll einer Tagung, zu der die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg 1976 Politikdidaktiker unterschiedlicher Ausrichtung eingeladen hatte, um vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und parteipolitischer Polarisierung einen Grundkonsens über Prinzipien politischer Bildung auszuloten. Er formuliert als Minimalkonsens drei bis heute prägende, grundlegende normative Prinzipien politischer Bildung, die u.a. in schulische Curricula und Förderrichtlinien von Bundes- und Landeszentralen für politische Bildung eingegangen sind. Vgl. dazu Hans-Georg Wehling, Konsens à la Beutelsbach? Nachlese zu einem Expertengespräch, in: Siegfried Schiele / Herbert Schneider (Hg.), Das Konsensproblem in der politischen Bildung, Stuttgart 1977, S. 173–184; Monika Oberle, Grenzenlose Kontroversität? Zur Aktualität des Beutelsbacher Konsenses als Richtschnur politischer Bildung, in: Thomas Goll (Hg.), Kontroversität, Frankfurt am Main 2024, S. 21–37).
- Kultusministerkonferenz (KMK), Demokratie als Ziel, Gegenstand und Praxis historisch-politischer Bildung und Erziehung in der Schule. Beschluss vom 06.03.2009 i. d. F. vom 11.10.2018; Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (MK BaWü), Leitfaden Demokratiebildung. Schule für Demokratie, Demokratie für Schule, Stuttgart 2019; Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) (Hg.), Demokratiebildung als Auftrag der Schule – Bedeutung des historischen und politischen Fachunterrichts sowie Aufgabe aller Fächer und der Schulentwicklung. Stellungnahme der SWK, Bonn 2024.
- Vgl. bspw. Sabine Achour / Thomas Gill, Extremismusprävention als politische Bildung?, in: POLIS 24 (2020), 4, S. 11–13; Benedikt Widmaier, Die „freiheitlich demokratische Grundordnung“ – ein Leitbegriff für die politische Bildung?, in: POLIS 24 (2020), 4, S. 14–17.
- Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Urteil des Zweiten Senats vom 17. Januar 2017, RN 418.
- Zur Forderung der Kontextualisierung demokratiepolitischer Begriffe vgl. Philip Manow, Unter Beobachtung. Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Feinde, Berlin 2024. Zur Geschichte der wehrhaften Demokratie in der frühen Bundesrepublik vgl. Dominik Rigoll, Staatsschutz in Westdeutschland. Von der Entnazifizierung zur Extremistenabwehr, Göttingen 2013.
- Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien [1963], hrsg. und eingel. von Alexander von Brünneck, 9., erw. Aufl., Baden-Baden 2001.
- Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main 1976, S. 42–64, hier S. 60.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.
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