Manuel Schulz | Essay |

Mehrwert und Massaker

Ein Plädoyer gegen die Exotisierung mexikanischer Verhältnisse

Im vorliegenden Essay möchte ich eine spezifische Gewaltdynamik ergründen, die sich zwar besonders deutlich am Beispiel Mexikos aufzeigen lässt, die sich jedoch keineswegs auf diese Weltregion beschränkt. Neben Erfahrungen aus früheren Lateinamerikareisen stütze ich mich dabei insbesondere auf Eindrücke und Informationen, die ich während einer politischen Reise in die nordmexikanische Grenzregion im Herbst 2024 sammeln konnte. Diese Region ist, um es einmal neutral zu formulieren, höchst außergewöhnlich. Die beiden Zwillingsstädte Ciudad Juárez auf mexikanischer Seite und El Paso auf US-amerikanischer Seite bilden zwar eine gemeinsame Metropolregion, könnten jedoch unterschiedlicher kaum sein. Während das texanische El Paso als die sicherste Stadt der Vereinigten Staaten gilt, erlangte Ciudad Juárez in den vergangenen Jahrzehnten den zweifelhaften Ruf der gefährlichsten Stadt der Welt.[1] Massenmedial bekannt wurde sie unter anderem durch kriegsähnliche, auf offener Straße ausgetragene Feuergefechte zwischen dem mexikanischen Militär und Kartellmitgliedern sowie insbesondere durch die hohe Zahl systematisch verübter Frauenmorde, die seit den 1990er-Jahren symptomatisch wurden. Hier entstand der mittlerweile weltweit verwendete Begriff des Femizids, also des Mordes an Frauen aufgrund ihres Geschlechtes. An diesem Ort, so kann man es pointiert zusammenfassen, bilden extreme Armut, ausufernde Gewalt und weitgehende Gesetzlosigkeit eine gesellschaftspolitisch verheerende Mischung, die Ciudad Juárez nicht nur zu einem der globalen Kristallisationspunkte menschlichen Leids gemacht hat, sondern, so die These dieses Essays, auch zum Experimentierfeld für zukunftsweisende Formen der Kapitalakkumulation.

Motiviert ist der Text von einer doppelten Fassungslosigkeit, die in den vergangenen 15 Jahren, in denen ich Mexiko regelmäßig in verschiedenen politischen und beruflichen Kontexten bereiste, stetig zunahm. Emotional fassungslos machen die Berichte über Gräueltaten und extreme Formen der Gewaltanwendung, von denen ich immer wieder durch Betroffene, teils aus erster Hand, erfuhr. Analytisch fassungslos machen die Geschehnisse, weil diese Gewaltformen sich nicht so recht in die gängigen gesellschaftstheoretischen Erklärungsmuster fügen wollen. Die Akteure verfolgen mit ihrem Tun keine politischen Ziele und legen bei der Gewaltausübung auch keine der gängigen Kategorien ethnischer, religiöser, nationaler oder sonstiger Humandifferenzierung (Stephan Hirschauer) an den Tag. Es handelt sich offenbar um eine spezifische Form ökonomisch motivierter Gewalt, bei der Bestialität und Grausamkeit zur Marketingstrategie eigenverantwortlich agierender Arbeitskraftunternehmer gehören. Diese Formulierung erinnert nicht zufällig an Subjektanrufungen, die uns im Globalen Norden wohlvertraut sind. Sie offenbart einen ersten Eindruck davon, dass die Problematik bei genauerem Hinsehen auf unheimliche Weise mehr mit uns und unserem Lebensstil zu tun hat, als wir das gemeinhin denken oder wahrhaben wollen. Der folgende Text ist also gleichermaßen ein Versuch der persönlichen Verarbeitung wie auch des soziologischen Verstehens. Um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen, sei ausdrücklich betont, dass damit in keiner Weise ein Versuch der Rechtfertigung der beschriebenen Handlungsstrategien verbunden ist. Es geht um das Verstehen im soziologischen Sinne.

Öffnung und Schließung der Grenze

Spätestens seit dem Amtsantritt des damaligen Präsidenten Felipe Calderón im Jahr 2006 und dessen Entscheidung, das Militär gegen die Drogenkartelle auf die Straßen zu schicken, befindet sich Mexiko in einer Art schwelendem Bürgerkrieg, dem in den vergangenen knapp 19 Jahren schätzungsweise 420.000 Menschen zum Opfer gefallen sind. Die Mordrate hat sich seither verdreifacht (jedes Jahr werden mehr als 30.000 Menschen ermordet) und mehr als 130.000 Menschen gelten als gewaltsam verschwunden – entführt, höchstwahrscheinlich gefoltert und ermordet.[2] Trotz des Ausmaßes sind keineswegs alle gesellschaftlichen Gruppen in gleicher Weise von der Gewalt betroffen,[3] und auch regional betrachtet gibt es starke Unterschiede. Zu trauriger Berühmtheit gelangte in diesem Zusammenhang die bereits eingangs erwähnte nordmexikanische Grenzstadt Ciudad Juárez, die das Ziel meiner jüngsten Reise war. Die Millionenstadt gleicht einem sozio-kulturellen und polit-ökonomischen Brennglas, unter dem die Spannungen und Verwerfungen unseres globalen Produktionssystems besonders stark zutage treten. Gemeinsam mit dem texanischen El Paso bildet Ciudad Juárez eine Zwillingsstadt, die in geografischer Hinsicht lediglich durch einen Flusslauf, den Rio Bravo beziehungsweise Rio Grande, getrennt ist. Dass es sich trotz der historisch gewachsenen Verbundenheit[4] um einen geopolitisch und insbesondere ökonomisch außergewöhnlichen Ort[5] handelt, zeigt sich nicht zuletzt an den militärisch gesicherten und mit Panzerfahrzeugen, Drohnen und Hubschraubern überwachten Grenzanlagen, die sich entlang des Flussufers durch die bergige Wüstenlandschaft ziehen. Diesseits und jenseits des Stacheldrahtes prallen im wahrsten Sinne des Wortes verschiedene Welten aufeinander, hier trennt sich das gelobte Land kapitalistischer Konsumfreiheit von der Hölle globaler Ausbeutung. „Die Grenze“, so formuliert es die selbst aus der Region stammende mexikanische Philosophin Sayak Valencia, „ist ein Schlachtfeld, ein Territorium im Ausnahmezustand“.[6]

Für eine erschöpfende historische Einordnung der Problematik müsste man weit ausholen. An dieser Stelle möchte ich stattdessen lediglich einen kursorischen Blick auf die Entwicklung der vergangenen 30 Jahre werfen. Ganz im Geiste kapitalistischer Vergesellschaftung ermöglichte das im Jahr 1994 zwischen den Vereinigten Staaten, Kanada und Mexiko in Kraft getretene Freihandelsabkommen NAFTA eine Öffnung der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze für Güter- und Kapitalströme. Die nahezu unbegrenzt und vergleichsweise billig zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte, die niedrigen Energiepreise und die quasi nicht existenten Sozialstandards und Umweltauflagen machten Ciudad Juárez in den folgenden Jahren zu einem Eldorado der materiellen Güterproduktion. Infolge dieses Prozesses kam es aber nicht zu der von den Befürwortenden in Aussicht gestellten prosperierenden wirtschaftlichen Entwicklung im Zuge der Integration der Region in den Weltmarkt, sondern vielmehr zu ihrer Eingliederung in spezifische, zumeist westlich dominierte Wertschöpfungsketten.[7]

Die handelspolitische Öffnung der Grenzen für Kapital und Güter vollzog sich dabei umgekehrt proportional zur einwanderungspolitischen Schließung und militärischen Aufrüstung der Grenzanlagen.[8] Und je stärker die Grenzbefestigungen ausgebaut wurden, desto mehr organisierte sich die Kriminalität. Die unersättliche Nachfrage der USA nach verschiedensten Drogenpräparaten, nach Prostituierten und nach illegalen Arbeitskräften erzeugte einen gewaltigen, bis heute anhaltenden Sog menschlicher Schicksale, der sich an der Grenze in einem Strudel aus Gewalt, Drogen, Macht, Verzweiflung und sagenhaftem Reichtum manifestiert.

Gewalt in einem schwer vorstellbaren Ausmaß

Es fällt schwer, die Eskalation der Gewalt zu beschreiben, die sich in den zurückliegenden 10 bis 20 Jahren in Mexiko ereignet hat. Nur ab und zu, für gewöhnlich in Reaktion auf besonders schockierende Fälle extremer Gewalt, gelangen vereinzelte Schreckensmeldungen auch in deutsche Medien. Der bei weitem größte Teil der brutalen Morde, Folterungen, Massaker und Entführungen, die in vielen Regionen Mexikos an der Tagesordnung sind, bleibt hierzulande unbeachtet. In erschütternder Regelmäßigkeit werden neue Massengräber entdeckt, in denen die Opfer der diversen Kartellauseinandersetzungen oder sonstiger Verbrechen notdürftig verscharrt wurden. Fast täglich tauchen an irgendwelchen Landstraßen enthauptete Körper auf oder werden zerstückelte Leichen von den Tätern an öffentlichen Orten geradezu ausgestellt.[9] In den forensischen Instituten des Landes stapeln sich – im wahrsten Sinne des Wortes – die Leichen von Gewaltopfern. Die Ermittlungsbehörden sind vollkommen überfordert damit, die Vielzahl der begangenen Verbrechen aufzuklären – sie schaffen es häufig nicht einmal, die Opfer überhaupt zu identifizieren.[10]

Befeuert von der nahezu völligen Straflosigkeit, hat die Gewalt mancherorts schier unfassbare Ausmaße angenommen. Alle Schreckensszenarien, die man sich in seinen düstersten Fantasien ausmalen kann – hier scheinen sie bereits Realität geworden zu sein. Grausame Folterungen vor laufenden Kameras, nicht wenige davon als Videos auf YouTube verfügbar; Zurschaustellung enthaupteter Widersacher an belebten Plätzen; Angriffe auf Familienfeste und Kindergeburtstage mit Handgranaten; stundenlange Feuergefechte auf offener Straße zwischen Kartellmitgliedern und mexikanischen Militäreinheiten – wobei letztere zumeist den Kürzeren ziehen; Angriffe auf Polizeipatrouillen mit Raketenwerfern; Massaker an Migrant:innen die das Pech hatten, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein und den Kartellen in die Hände zu fallen; Zwangsrekrutierungen von Kindern und Jugendlichen seitens der Kartelle durch brutale Gewaltanwendung; Bürgermeisterwahlen, bei denen niemand mehr antritt, weil sämtliche Vorgänger ermordet wurden – die Liste an Beispielen ließe sich beliebig fortsetzen.

Dabei ist das Problem extremer und öffentlich ausgestellter Gewalt dermaßen tief in die mexikanische Gesellschaft mit allen ihren Institutionen eingesickert, dass es irreführend wäre, wenn man es einem vermeintlich separaten Sektor „organisierte Kriminalität“ zuschreiben wollte. Im Gegenteil: Zahllose Gräueltaten, Entführungen, Hinrichtungen und andere schwerste Menschenrechtsverbrechen finden unter Duldung oder sogar unter direkter Tatbeteiligung von Polizei und Militär statt. Im nordmexikanischen Bundesstaat Durango gibt es nach Auskunft einer Menschenrechtsanwältin Beweise dafür, dass die lokalen Polizeibehörden im großen Stil Migrant:innen entführen und sie – gewissermaßen zur Weiterverwertung – an die Kartelle verkaufen. Ich komme gleich darauf zurück. Neben weiten Teilen des Sicherheitsapparates von Polizei und Militär sind auch Gerichte und Staatsanwaltschaften sowie Bundesministerien und lokale Regierungsbehörden von Kartellinteressen durchsetzt.[11] Ein extrem verstörender Fall, bei dem aktuell die Rolle der Behörden selbst im an Horrormeldungen gewöhnten Mexiko für landesweite Empörung sorgt, ist das jüngst bekannt gewordene Beispiel der Izaguirre Ranch im Bundesstaat Jalisco. Hier wurde Anfang des Jahres ein Ausbildungs- und Vernichtungslager des Kartells Jalisco Nueva Generación entdeckt. Nachdem noch wenige Monate zuvor eine staatsanwaltliche Untersuchung des Geländes angeblich keinerlei nennenswerte Hinweise ergeben hatte, fanden die Ermittelnden nun neben zahllosen Ausweisdokumenten und verkohlten Leichenteilen unter anderem mehr als 200 Paar Schuhe sowie mehrere unterirdische Verbrennungsöfen, in denen das Kartell offenbar die als unfähig eingestuften zwangsrekrutierten Personen ,entsorgte‘.[12]

Eine rein ökonomische Gewaltform

Dabei treten die einflussreichen mexikanischen Kartelle interessanterweise nicht im herkömmlichen Sinne als politische Akteure auf, sondern ihre extrem gewaltsamen Aktivitäten sind offenbar rein ökonomisch motiviert. Ihre Organisationsstrukturen gleichen eher einem modernen, international agierenden und hochdynamischen Konzern, als einem klassischen Mafiaclan. So ist ihr Betätigungsfeld mittlerweile höchst diversifiziert. Neben kriminellen Praktiken wie Entführung, Erpressung, Raub und Mord sowie Drogen- und Menschenhandel gehören dazu auch legale unternehmerische Tätigkeiten wie der Anbau landwirtschaftlicher Produkte (vor allem Avocados), die Gewinnung von Edelmetallen oder der Handel mit Holz. Selbst die Erzeugung von Windkraft ist mittlerweile zu einem einträglichen Geschäftszweig geworden.[13] Die Kartelle engagieren sich schlichtweg in jedem profitablen Sektor – und der Einsatz brutaler Gewalt zählt dabei in vielen Geschäftsfeldern zu einer ebenso selbstverständlichen wie wirksamen Unternehmensstrategie.

Entsprechend dieser Beobachtung argumentiere ich im Folgenden für die These, dass man die extrem gewalttätigen Praktiken mexikanischer Kartelle in soziologischer Hinsicht am besten versteht, wenn man sie – jenseits aller moralischen Empörung – als Ausdruck einer kühl kalkulierenden ökonomischen Rationalität begreift. Dies lässt sich sehr anschaulich an einem Beispiel ablesen, von dem uns auf unserer Reise nach Ciudad Juárez eine Anwältin des Menschenrechtszentrums Derechos Humanos en Action Integral berichtete. Insbesondere diejenigen Kartelle, die in den nördlichen und südlichen Grenzregionen Mexikos aktiv sind, haben demnach vor einigen Jahren die Entführung und Erpressung von Migrant:innen aus Mittel- und Südamerika als einträgliches Geschäftsmodell entdeckt und auf erschreckende Weise professionalisiert. Das Vorgehen sieht folgendermaßen aus: Mitglieder besonders vulnerabler Gruppen, eben zumeist durchreisende Migrant:innen ohne Papiere, unter denen sich viele Frauen und Kinder befinden, werden unter falschen Versprechungen oder schlicht mit Waffengewalt in sogenannte safe houses gebracht und dort gewaltsam festgehalten. Hier zwingt man sie dazu, Verwandte oder Freunde zu kontaktieren, um diese zur Zahlung eines Lösegeldes in Höhe von mehreren tausend Dollar aufzufordern. Geht die Zahlung nicht innerhalb von 48 Stunden per PayPal bei den betreffenden Gewaltunternehmern ein, werden die Entführten gefoltert und dabei gefilmt, oft mit ihren eigenen Handys. Diese grausamen ,Zahlungserinnerungen' werden anschließend an die bereits kontaktierten Gewährspersonen verschickt, um der gestellten Rechnung Nachdruck zu verleihen. In vielen Fällen gelingt es den Kartellen auf diese Weise, den verlangten Preis für die Freigabe der entführten und misshandelten Personen zu erpressen. In einem Fall, so berichtete die Menschenrechtsanwältin, hätten alle Angehörigen des Betroffenen im Heimatland jeglichen Privatbesitz veräußert. Da die so erlöste Summe immer noch nicht ausreichte, sei das Opfer weiter gefoltert worden. Erst als den Entführern die Zahlungsbereitschaft der Angehörigen auch bei vermehrter und drastischerer Folter nicht mehr steigerbar schien, habe man das Opfer gehen lassen. Solche Berichte gibt es nach Aussage der Anwältin häufiger. Ihrer Ansicht nach folgt das Vorgehen der Gewaltunternehmer einfachen ökonomischen Erwägungen: Der entführte Mensch binde Arbeitskraft in einer spezifischen Produktionsstätte, einer Art Fabrik, deren Profitabilität sinkt, wenn die darin Beschäftigten – die Entführer – zu viel Aufwand und Zeit in einzelne, nicht hinreichend profitable ,Produkte' – die Entführten – investieren. Solche unrentablen ,Produkte' werden dementsprechend ,aussortiert'. Wer Glück hat, wird freigelassen, wer weniger Glück hat, wird ermordet und in einem der zahllosen Massengräber verscharrt.

Folgt man dieser Perspektive auf das Vorgehen der Kartelle, so lässt es sich ganz einfach mithilfe der klassischen Produktionsfunktion der Betriebswirtschaftslehre beschreiben: Q = f(K, L), wobei Q die produzierte Outputmenge bezeichnet, K das investierte Kapital und L die investierte Arbeit. Die beiden Faktoren K und L können – je nach Unternehmen – noch um den produktivitätssteigernden Faktor T für Technologie erweitert werden. Übertragen auf die Gewaltunternehmen der Kartelle bedeutet dies: Das Kartell investiert Arbeit, sprich: die Leute, die die Menschen entführen, zu den safe houses fahren, sie foltern, filmen und bewachen etc.; sie investieren Kapital in Gestalt von Mieten oder Kaufpreisen für Produktionsstandorte (safe houses) und Maschinen (LKWs, Schusswaffen, Folterwerkzeuge etc.). Der Einsatz von Technologie kommt zum Beispiel zum Tragen, wenn die Effektivität der Ressourcen K und L durch den Einsatz moderner Video- oder Soundtechnik gesteigert wird.

Aus modelltheoretischer Sicht handelt es sich bei solchen Gewaltunternehmen also um eine ,ganz normale' und betriebswirtschaftlich durchrationalisierte Form kapitalistischer Mehrwertproduktion. Mittels mikroökonomischer Verfahren lassen sich alle möglichen relevanten ökonomischen Kennzahlen errechnen, wie sie für den profitablen Betrieb einer solchen Fabrik der Erniedrigung, des Folterns und Tötens erforderlich sind. Das dabei erzeugte menschliche Leid ist kein bloßes Nebenprodukt, sondern ein wesentliches Element des Produktionsprozesses, trägt es doch durch seine mediale Verbreitung an die Angehörigen der Entführten entscheidend zur Wertschöpfung bei. Gewalt wird auf diese Weise neben Kapital, Arbeit und Technologie zu einem zentralen Produktionsfaktor, welcher die Rendite der übrigen Produktionsfaktoren signifikant erhöht.

Schöpferische Zerstörung in Reinform

„Aber was sind das bloß für Menschen?“, möchte man ausrufen. Welche Barbarei, welche Unmenschlichkeit! Und natürlich ist diese Empörung berechtigt. Das Vorgehen der Kartelle ist barbarisch und unmenschlich. Aber haben wir es hier tatsächlich mit einer Art zivilisatorischen Entgleisung zu tun, wie es unsere Empörung nahezulegen scheint? Handelt es sich bei den Gewaltunternehmern – es sind so gut wie ausschließlich Männer – um Subjekte, die moralisch und ökonomisch gänzlich anders handeln als wir? Oder gibt es nicht doch eine hintergründige Gemeinsamkeit, einen systemischen Zusammenhang, durch den unsere heile Welt geordneter Verhältnisse mit dieser dystopischen Parallelwelt extremer Gewaltausübung verbunden ist?

Zur Erörterung dieser Frage möchte ich das Buch Capitalismo gore der mexikanischen Philosophin Sayak Valencia heranziehen, das 2021 in deutscher Übersetzung erschien.[14] Valencia stammt, wie bereits erwähnt, selbst aus der nordmexikanischen Grenzregion, namentlich aus Tijuana, einer Großstadt im Nordwesten Mexikos. Ähnlich wie Ciudad Juárez und El Paso bildet Tijuana gemeinsam mit dem kalifornischen San Diego eine grenzüberschreitende Metropolregion, die ebenfalls massiv von der geschilderten Gewaltproblematik geprägt ist. Vor diesem biografischen Hintergrund entwickelt Valencia in ihrem Buch eine gesellschaftstheoretische Erklärungsmatrix, durch welche das Phänomen der extremen und tief in den mexikanischen Alltag eingeschriebenen Gewaltpraktiken in seinen Ursachen und Dynamiken deutlicher fassbar wird. Wie der Titel schon verrät, bedient sie sich dabei eines Begriffs aus dem Genre des Horrorfilms, in dem der Ausdruck „Gore“ für Filme verwendet wird, in denen Verletzungen und Verstümmelungen drastisch in Szene gesetzt werden. Anders als in den betreffenden Filmen bildet die extreme Gewalt in den von Valencia untersuchten globalen Hotspots sozio-ökonomischer Ausgrenzung jedoch kein rein ästhetisches Stilmittel, sondern eine ökonomische Strategie. Valencia will mit dieser Begriffsentlehnung spezifische Verschiebungen in den Handlungsorientierungen marginalisierter Subjekte und eine ganz eigentümliche Form der gegenweltlichen Subjektivierung beschreiben.[15] Ihrer Analyse zufolge bedienen sich in den am stärksten benachteiligten Milieus der Weltgesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten insbesondere männliche Subjekte zunehmend einer für unser bürgerliches Empfinden höchst befremdlichen Ermächtigungsstrategie, nämlich der beschriebenen extremen Gewaltausübung. Um der ewigen Spirale aus Armut, Ausgrenzung, Perspektivlosigkeit und Entsagung zu entgehen, greifen diese häufig in mafiöse Strukturen eingebundenen Gewaltunternehmer zur Erlangung gesellschaftlicher Teilhabe auf Gorepraktiken des Folterns, Tötens und Verstümmelns zurück. Für diejenigen, deren Arbeitskraft im globalen Geflecht legaler Mehrwertgenerierung quasi nichts wert ist, bleiben scheinbar nur die Gorepraktiken, welche „die klassische Funktion der Arbeitskraft einnehmen, indem sie durch systematische und brutale Gewaltanwendung Kapital produzieren“.[16]

Dabei verweist Valencia darauf,[17] dass diese von ihr in Anlehnung an die gleichnamige mythische Kreatur als Endriago-Subjekte bezeichneten Gewaltunternehmer geradezu vorbildlich die Eigenschaften des neoliberalen Entrepreneurs verkörpern: innovativ, eigenverantwortlich, dynamisch und aufstiegsorientiert. Der moderne Mafioso ist ein Selfmademan! Er nimmt das von Joseph Schumpeter propagierte Ideal der kreativen Zerstörung beim Wort und überträgt es von Unternehmen und Strukturen auf menschliche Körper: er zerstört sie, um Kapital zu schöpfen. Indem die Gewaltunternehmer auf diese Weise gewissermaßen aus dem Nichts materiellen Erfolg generieren und sich dabei über alle Regeln und Konventionen hinwegsetzen, erscheinen sie ihren keinesfalls nur männlichen Bewunderern als eine Art postkoloniale Version der Sozialfigur des Rockstars.

Nun ist natürlich die Einsicht, dass im kapitalistischen Wirtschaftssystem Gewalt seit jeher am Werke ist, keineswegs neu. Man denke nur an das 24. Kapitel aus dem ersten Band des Kapitals von Karl Marx über die „sogenannte ursprüngliche Akkumulation“.[18] Anders als die dort beschriebenen Gewaltakte im Dienste der kapitalistischen Aneignung verlegen sich die von Valencia beschriebenen Endriago-Subjekte allerdings aus einer Position extremer Benachteiligung auf Gewaltpraktiken wie Töten, Foltern und Entführen. Ihre Gewalt trägt, so irritierend uns das erscheinen mag, aus ökonomischer Sicht durchaus emanzipatorische Züge. Im Unterschied zu der Art emanzipatorischer Gewalt, wie sie beispielsweise Frantz Fanon[19] für die antikolonialen Befreiungskriege beschrieben hat, verfolgen die Endriago-Subjekte mit ihren Handlungen jedoch keinerlei politische Absichten. Statt auf strukturelle Veränderungen und eine Beseitigung der globalen sozialen Ungleichheit abzuzielen, agieren sie strikt individualistisch, angetrieben von einem rein ökonomischen Aufstiegswillen. Das Gewaltunternehmertum erscheint aus dieser Perspektive wie ein postkoloniales Amalgam aus einer situativ verstandenen ursprünglichen Akkumulationslogik und einer neoliberalen Subjektivierung. Gewalt wird zum Produktionsfaktor von Mehrwert,[20] Brutalität zur Strategie der Profitsteigerung und des Marketings.

Wieso moralische und ökonomische Exotisierungen zu kurz greifen

Folgt man der hier vorgeschlagenen Perspektive, so wird deutlich, dass es irreführend wäre, die Ursachen für die geschilderte Gewaltproblematik in vermeintlich verrohten oder unterentwickelten Gesellschaften des Globalen Südens zu suchen. Wie gezeigt, ist das Gewaltunternehmertum vielmehr in ein komplexes Geflecht ökonomischer Verhältnisse und kolonialer Erbschaften eingebettet und erfährt darüber hinaus in mancherlei Hinsicht eine (wenn auch meist implizite) diskursive Legitimierung. Letztere ist nicht zuletzt das Resultat kulturindustrieller Erzeugnisse des Globalen Nordens. Durch Fernsehproduktionen wie die Netflix-Serie Narcos oder Videospiele wie Grand Theft Auto[21] werden die Ermächtigungsstrategien des Gorekapitalismus glorifiziert und die Gewaltunternehmer, die mit entsprechender Opferbereitschaft ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen, um der sozioökonomischen Misere aus eigener Kraft zu entfliehen, verkörpern eine besondere Spielart spätkapitalistischen Heldentums.[22] Sie sind ökonomische Revolutionäre und entsprechen auf ihre Weise dem Bild des disruptiven Unternehmers, wie er heutzutage gerne gefeiert wird.

Aus bürgerlicher Perspektive mag man dagegen einwenden, dass niemand diese Menschen dazu zwinge, gewalttätig zu werden. Schließlich könnten sie doch, wie alle anderen auch, auf legale Art und Weise ihre Arbeitskraft veräußern. Das stimmt, und stimmt zugleich nicht. Denn wer sich einmal etwas detaillierter mit den in weiten Teilen des sogenannten Globalen Südens herrschenden Lohn- und Arbeitsverhältnissen auseinandergesetzt hat, wird einräumen müssen, dass die legale Veräußerung der Arbeitskraft für die allermeisten dort lebenden Menschen keine nennenswerte Perspektive bietet. Auf legale Weise kann oft weder das eigene würdevolle Überleben noch das der Familie gewährleistet werden, geschweige denn Chancen auf adäquate Gesundheitsversorgung und auf höhere Bildung. Demgegenüber steht ein Betätigungsfeld, in dem ein für ,ganz normale Leute' geradezu sagenhafter Aufstieg möglich scheint, ein Wirtschaftssektor, in welchem es schon ehemalige Bauern bis ins Forbes Magazin geschafft haben[23] – und das ganz ohne formale Bildungsabschlüsse oder sonstige Formen gesellschaftlich anerkannten Kapitals.

In der Gesamtschau erscheint die von den Endriago-Subjekten angewendete Strategie eigenverantwortlichen Gewaltunternehmertums also in gewisser Weise als ökonomisch durchaus konsequente Antwort auf ein globales Wirtschaftssystem, das millionenfach menschliche Subjekte produziert, die – bis auf den Hungertod entwirklicht (Marx) – unsere glänzenden Konsumgüter zusammenschrauben. Jenseits aller liberalen vertragstheoretischen Heuchelei handelt es sich bei der Mehrzahl der Arbeitsverhältnisse im Globalen Süden nicht um freiwillige Arrangements gleichberechtigter Partner, sondern um neokoloniale Ausbeutungsverhältnisse, die durch die bloße existenzielle Not der Menschen erzwungen sind. Indem die Endriago-Subjekte aus dieser globalwirtschaftlichen Rolle ausbrechen, sich eigeninitiativ darum bemühen, eine bessere Position für sich und ihre Angehörigen zu erlangen, ersetzen sie den kategorischen durch den ökonomischen Imperativ[24] – ein Vorgehen, dass uns, die strukturellen Nutznießer ihrer Misere, freilich empört.

Auch aus einem weiteren Grund griffe es zu kurz, die Gewaltunternehmer des Globalen Südens als das moralisch ‚Andere‘ in einer ansonsten politisch- und ökonomisch sittlich geordneten Welt zu betrachten. So weist Valencia mit Blick auf Mexiko – für andere Regionen trifft dies ebenfalls zu – darauf hin, dass etliche der sich heute unternehmerisch betätigenden Gewaltexperten ursprünglich von Regierungen ausgebildet worden sind. Insbesondere während des Kalten Krieges wurde unter der Federführung staatlicher Institutionen eine Rationalisierung der Gewaltpraktiken vorangetrieben.[25] Diese Tatsache, so hebt Valencia zurecht hervor, „sprengt jegliche simplizistische Trennung zwischen Aufständischen und Ordnungskräften. Sie überschreibt und ersetzt diese Deutungsraster durch eine neue Matrix, die Gewalttechniken zu einer Ware macht, die wie jede andere dem Gesetz von Angebot und Nachfrage unterworfen ist.“[26]

Die von den Gewaltunternehmern verfolgte Ermächtigungsstrategie wird zusätzlich durch eine immer stärker steigende Nachfrage nach Gorewaren wie Auftragsmord, Menschenhandel und Entführung begünstigt. Je strenger die Grenzen bei einem anhaltenden Sog der oben beschriebenen Waren (Drogen, Prostituierte, illegale Arbeitskräfte) kontrolliert werden, desto höher steigen die für diese Gewaltdienstleistungen zu erzielenden Preise. Hier ist ein boomender und höchst aussichtsreicher Markt entstanden, freilich ein schmutziger Markt, der sich jedoch ganz simpel nach den klassischen ökonomischen Gesetzmäßigkeiten organisiert und in ähnlicher Form auch aus anderen Weltregionen bekannt ist – man denke nur an das extrem profitträchtige Geschäft mit Geflüchteten im Mittelmeer oder das Phänomen der Piraterie im Golf von Aden.

Gewaltunternehmertum als normaler volkswirtschaftlicher Sektor

Folgerichtig spricht Valencia vom organisierten Verbrechen als einem „Modus des modernen Wirtschaftens“.[27] Dass die legale und die als moralisch verwerflich verstandene Sphäre des Ökonomischen einander ähnlicher sind, als wir es womöglich wahrhaben wollen, zeigt sich insbesondere deutlich an zwei Tatsachen: Erstens kommen in den Gewaltunternehmen offenbar die gleichen gängigen ökonomischen Grundregeln und Modelle zur Anwendung, und zweitens bildet das Leben und Überleben von Menschen in beiden Sphären einen Dreh- und Angelpunkt der Mehrwertproduktion. So betont Valencia zur Veranschaulichung eine aus europäischer Sicht zunächst womöglich verstörend wirkende Analogie:

„Auf Seiten der legalen Wirtschaft sehen wir, wie die Pharmaindustrie viele, für unzählige Menschen überlebenswichtige Medikamente privatisiert und kommerzialisiert hat und damit den wirtschaftlichen Profit über ein Menschenrecht stellt; und auf Seiten der illegalen Wirtschaft streben kriminelle Organisationen mit derselben unternehmerischen Logik auf Kosten des menschlichen Lebens nach maximalem Profit und schlagen nebenbei symbolischen und materiellen Mehrwert aus der Spektakularisierung der Gewalt.“[28]

Diese Analogie, an der aus der Sicht vieler Armutsbetroffener im Globalen Süden durchaus etwas dran ist, macht auf unbequeme Weise deutlich, dass nicht nur das organisierte Verbrechen menschliches Leid für die Profitmaximierung missbraucht. Der aus Perspektive des Globalen Nordwestens naheliegende Einwand, dass Pharmaunternehmen Teile des Profits einsetzen würden, um neue Wirkstoffe zu entwickeln und auf diese Weise den Menschen, zumindest den zahlungsfähigen,[29] enorme medizinische Fortschritte ermöglichen, ändert nichts an der Plausibilität der Analogie. Denn auch die Kartelle in Mexiko wenden nicht unerhebliche Summen des von ihnen erwirtschafteten Profits für die Allgemeinheit auf: Sie finanzieren soziale Projekte, bauen Schulen, Straßen, Kirchen[30] und organisieren sogar Katastrophennothilfe.[31]

Damit nicht genug, lassen sich noch weitere volkswirtschaftliche Analogien zwischen dem Gorekapitalismus des Südens und den vermeintlich sauberen Wirtschaftspraktiken des Nordens feststellen: Längst haben sich im globalen Maßstab entlang des Produktionsfaktors Gewalt neue soziale Klassen herausgebildet. Menschen, die nichts besitzen außer ihrer Fähigkeit zu foltern und zu töten, verkaufen als Gewaltproletariat ihre Arbeitskraft an erfolgreiche Gewaltkapitalisten, die sich – einer globalen Klasse gleich – gegenseitig als „Geschäftspartner in einem Clan brutaler Betriebswirte, blutrünstiger Manager, Bauunternehmer und Grundbesitzer“[32] begegnen. Für qualifizierte Gewaltspezialisten gibt es mittlerweile regelrechte internationale Arbeitsmärkte: Kartelle machen unverhohlen Radiowerbung und schalten Zeitungsannoncen, in denen sie um hochqualifizierte Ex-Militärs für die Absicherung von Transportrouten werben, selbstredend mit guten Verdienstmöglichkeiten und Aufstiegsperspektiven.

Darüber hinaus lässt sich in Mexiko, das wohl zu den fortgeschrittensten Ländern dieser Art von Gewaltökonomien zählt, ein bewusstes marketing- und wettbewerbsstrategisches Agieren beobachten. Viele Kartelle haben mit spezifischen Gewaltpraktiken wie der öffentlichen Zurschaustellung enthaupteter Gegner oder der bestialischen Folterung vor laufender Kamera eigene Signature Moves entwickelt, derer sie sich gezielt als Markenzeichen im Dienste der PR bedienen. Solche ,Labels' besitzen nach außen einen eindeutigen Wiedererkennungswert und bilden im Sinne einer Art Corporate Identity nach innen ein Identifizierungsangebot für derzeitige und künftige Mitarbeiter. Schließlich können solche Signature Moves durch ihre abschreckende Wirkung auch als eine Art Markteintrittsschranke verstanden werden, durch welche andere Wettbewerber vom Markteintritt abgehalten werden sollen.

Verzichtet man also auf moralische Entrüstung und exotisierende Stereotypisierung und betrachtet man die Gewalt der Kartelle durch eine volkswirtschaftliche Brille, erweisen sich die Gorepraktiken als kühl kalkulierte, ökonomisch rationale Verhaltensweisen, die sich nur bedingt von anderen Zweigen wirtschaftlicher Betätigung unterscheiden. Vielmehr folgen sie denselben klassischen und neoklassischen Modellen, wenn auch freilich in einer dystopisch-innovativen Anverwandlung.

Fazit: Mexikanische Verhältnisse – ein Blick in unsere Zukunft?

Um es noch einmal klar zu sagen: Die vorstehenden Ausführungen sollen die geschilderten Praktiken des Gewaltunternehmertums weder gutheißen noch relativieren. Allerdings scheint es mir enorm wichtig, im Sinne Sayak Valencias eine Art Genealogie solcher Gewaltformen zu entwickeln, um das Problem nicht vorschnell zu exotisieren und entlang altbekannter Stereotype einer irgendwie verrohten oder durch Armut amoralisch gewordenen Weltregion zuzuschieben. Die beschriebenen Gewaltformen sind kein Problem der ,Anderen', also derjenigen, die das Pech hatten, in einer sozial und ökonomisch ,unterentwickelten' Region der Weltgesellschaft geboren worden zu sein. Nein, Mexiko ist lediglich einer der besonders ,progressiven' Orte, an denen sich eine spezifische Grunddynamik entfalten konnte, die dem globalisierten Kapitalismus seit jeher innewohnt.

Ähnlich wie die Industrialisierung aufgrund des Zusammenspiels verschiedener historischer Faktoren in Europa ihren Anfang nahm, scheint sich der globalisierte Kapitalismus in den vergangenen rund 30 Jahren gerade in Mexiko erheblich weiterentwickelt zu haben. Das Land bildete in diesem Zeitraum aufgrund seines kolonialen Erbes, seiner geografischen Lage als unmittelbarer Nachbar der größten Volkswirtschaft der Welt, mit seinen polit-ökonomischen Verflechtungen – unter anderem als Scharnier des legalen und illegalen Güterstroms zwischen Südamerika, China und den USA – und vor allem aufgrund der Kombination aus einzigartigen Profitaussichten und nahezu völliger Straflosigkeit eine Art kapitalistisches Versuchslabor. Dabei haben die Erzeugnisse des dortigen Experimentierens ungeachtet unseres bornierten Desinteresses längst auch in der Festung Europa begonnen, ihre Wurzeln gewaltsam in den vermeintlich unberührten Boden der alten Welt zu schlagen. Ereignisse wie die Hinrichtung des im entsprechenden Milieu recherchierenden niederländischen Journalisten Peter de Vries auf offener Straße in Amsterdam im Jahr 2021 oder der Versuch der Drogenmafia, im Herbst 2022 den belgischen Justizminister Vincent Van Quickenborne zu entführen, markieren bloß die Spitze des Eisbergs. So spricht der oberste Generalstaatsanwalt Belgiens sogar davon, dass die Mafia dabei sei, das Land zu übernehmen und in einen Narco-Staat zu verwandeln.[33] Schießereien mit automatischen Waffen auf offener Straße und Angriffe mit Granaten oder Sprengsätzen sind längst nicht nur in Belgien zu einem wachsenden Problem geworden. Verschärft wird die Gemengelage auch in Europa durch grassierende Korruption und eine wachsende Perspektivlosigkeit, die gemeinsam mit leerlaufenden sozialen Aufstiegsversprechen vor allem junge Männer in die Arme von Gewaltunternehmern treibt.

Darüber hinaus spielen offenbar insbesondere zwei Aspekte eine entscheidende Rolle bei der massiven Ausbreitung des untersuchten Phänomens: Erstens scheint mir Sayak Valencia recht zu haben, wenn Sie betont, dass im globalisierten Kapitalismus „das organisierte Verbrechen zweifelsohne die reinste und fortschrittlichste Form des Unternehmens“[34] darstellt. Ihr zufolge handelt es sich bei den Organisationen des Gewaltunternehmertums um den „Keim einer neuen Form der Sozialisierung“,[35] also um eine neuartige Form gesellschaftlicher Integration. Letztere reiche weit über die eigenverantwortliche Aneignung ökonomischer Werte hinaus, sondern verweise (nicht zuletzt im postkolonialen Kontext) auf die Ebene der sozialen Anerkennung und auf den Wunsch nach Selbstwirksamkeit im Angesicht eines miserabel und aussichtslos erscheinenden Lebens: Indem sie der abstrakten Gewalt kapitalistischer Verhältnisse die konkrete Gewalt der Gorepraktiken entgegensetzen, suchen sich die „Verdammten dieser Erde“ (Fanon) von den ökonomischen Ketten fremdverschuldeter Unmündigkeit zu befreien.[36]

Dieser Punkt führt unmittelbar zum zweiten wichtigen Erfolgsfaktor des Gewaltunternehmertums: Denn die disruptiven Entrepreneure des Gorekapitalismus wirken auch deshalb für viele Menschen als wahre ökonomische Sozialrevolutionäre, weil sie, mit Jean-Jacques Rousseau gesprochen, eben nicht – wie wohl die meisten von uns anderen – „einfältige Leute“ sind, die anderer Leute Eigentumsansprüche unbesehen respektieren. Sie geben sich schlichtweg nicht damit zufrieden, dass irgendwann einmal irgendjemand die Zaunpfosten der Eigentumsverteilung in den Boden gerammt hat. Mag dessen jüngste Reinkarnation auch Donald Trump heißen und mögen die Pfosten auch fünf Meter hohe Stahlstehlen sein, die an einer militärisch gesicherten, mit Drohnen und Hubschraubern überwachten Grenze stehen. Von diesen Hindernissen lassen sich die Gewaltunternehmer nicht abschrecken. Im Gegenteil: Sie steigern vielmehr nur deren Profitaussichten.

Zum revolutionären Helden avancieren die gewalttätigen Selfmademen aus Sicht ihrer Bewunderer zudem, da sie mit ihren Unternehmen scheinbar gegen moderne Formen des Kolonialismus und die Verlogenheit westlicher liberaler Wirtschaftspolitik aufbegehren. Unheimlich, aber wahr: Der Gewaltunternehmer ist damit auf dem besten Wege, zu einer der zentralen Sozialfiguren des 21. Jahrhunderts zu werden. Das revolutionäre Potenzial besteht freilich nicht darin, den Kapitalismus zu überwinden, sondern ihn entsprechend des disruptiven Entrepreneurship auf die nächste Entwicklungsstufe zu heben. Derart perspektiviert erstrahlt im schauerlichen Licht mexikanischer Gewaltsamkeit vielleicht weniger ein verstörender Rückblick in eine für überwunden gehaltene mittelalterliche Welt, als vielmehr die dystopische Zukunft unserer globalen Wirtschaftsordnung.

  1. Kathrin Zeiske, Ciudad Juárez. Alltag in der gefährlichsten Stadt der Welt, Münster 2022.
  2. Vgl. O. A., Kartell-Krieg vertreibt Tausende Mexikaner, in: zdf.de, 14.2.2024.
  3. Es ist wichtig zu betonen, dass die Lebensrealität der Menschen in Mexiko extrem verschieden ist, je nachdem ob man in einem gehobenen Mittelschichtshaushalt lebt, in welchem sich der Lebensstandard in keiner Weise von dem unsrigen unterscheidet, oder ob man zu den ca. 11,4 Millionen zumeist indigenen Menschen gehört, die in ländlichen Regionen oder in urbanen Elendsvierteln in extremer Armut leben. Die sich immer mehr verschärfende Gewaltproblematik hinterlässt jedoch ungeachtet dieser Unterschiede in allen gesellschaftlichen Bereichen ihre Spuren.
  4. Bis 1848 bildeten Ciudad Juárez und El Paso eine einzige mexikanische Stadt namens El Paso del Norte. Nachdem jedoch Mexiko den Krieg gegen die USA verloren hatte, musste es rund ein Drittel seines damaligen Territoriums an den nördlichen Nachbarn abtreten, unter anderem die heutigen US-Bundesstaaten Texas, New Mexico, Nevada und Kalifornien. Im Zuge dessen wurde der Rio Bravo beziehungsweise der Rio Grande zum Grenzfluss, sodass El Paso del Norte in Ciudad Juárez und El Paso zerfiel.
  5. Nur an wenigen Orten auf der Welt prallen auf einer Landmasse derart schroff soziale und ökonomische Ungleichheiten aufeinander. Bedingt vergleichbar ist beispielsweise die Grenze zwischen Nord- und Südkorea, wobei hier – anders als im Falle der USA und Mexikos – das ökonomisch schwächere Land die Menschen am Grenzübertritt hindert.
  6. Sayak Valencia, Capitalismo Gore, Barcelona/Madrid 2010. Ich zitiere im Folgenden nach der deutschen Ausgabe: Gorekapitalismus, übers. von Carla Hegerl, Leipzig 2021, S. 107, Fußnote 176.
  7. Die in den grenznahen Industriebetrieben, den sogenannten Maquilas, produzierten Güter werden unmittelbar nach der Fertigung zollfrei in das Nachbarland ausgeführt, ohne dass sich nennenswerte volkswirtschaftliche Rückkopplungseffekte ergeben. Laut Statistischem Bundesamt gehen 78,1 % der mexikanischen Exporte in die USA, sodass die Weltmarktintegration lediglich in einer erheblichen Abhängigkeit gegenüber einem einzigen mächtigen Marktteilnehmer besteht. Vgl. Statistisches Bundesamt (Hg.), Mexiko. Statistisches Länderprofil, 5.8.2024. Die Folgen dessen zeigen sich aktuell besonders deutlich entlang der immer wieder eingeführten, ausgesetzten und dann doch erhobenen Zölle, wie sie seitens der Trump-Administration als Machtmittel mit erheblichem Drohpotenzial gegenüber Mexiko eingesetzt werden.
  8. Was man Kapital und Gütern gestattete, verbot man den Menschen. Dies ist kein Zufall, denn schließlich wäre mit einer Freizügigkeit der Menschen ein wichtiger Bestandteil der ökonomischen Wachstumsaussichten sogleich wieder unterlaufen worden. Wieso sollten Menschen in Mexiko unter schlechten Bedingungen und zu niedrigen Löhnen arbeiten, wenn sie einfach in die USA gehen könnten, um dort ein besseres Leben zu führen?
  9. Einer der jüngsten Fälle, der es bis in die deutschen Medien geschafft hat, stammt aus dem Oktober des vergangenen Jahres: Der Bürgermeister von Chilpancingo, der Hauptstadt des mexikanischen Bundesstaates Guerrero, in dem auch der bekannte Touristenort Acapulco liegt, wurde am 7.10.2024, nur wenige Tage nach seinem Amtsantritt, enthauptet aufgefunden – für mexikanische Verhältnisse eine leider völlig alltägliche Nachrichtenmeldung. Vgl. O. A., Kartellgewalt in Mexiko. Bürgermeister kurz nach Amtsantritt enthauptet, in: srf.ch, 8.10.2025.
  10. Laut offiziellen Angaben liegen in den gerichtsmedizinischen Instituten Mexikos über 72.100 nicht identifizierte Leichen, die Aufklärungsquote bei Morddelikten liegt schätzungsweise bei 3 Prozent. Alleine in den ersten drei Monaten seit dem Amtsantritt von Mexikos Präsidentin, Claudia Sheinbaum, im Oktober 2024 sind staatlichen Statistiken zufolge weitere 4010 Personen spurlos verschwunden, das entspricht einer Größenordnung von ungefähr 40 Menschen pro Tag. Vgl. Philipp Gerber, Mexiko registriert in 100 Tagen der Regierung Sheinbaum 4000 Verschwundene, in: amerika21. Nachrichten und Analysen aus Lateinamerika, 19.1.2025.
  11. Von den bekannt gewordenen Fällen sind wohl die Verhaftungen des Generals und ehemaligen Verteidigungsministers, Salvador Cienfuegos Zepeda, sowie des Ex-Ministers für öffentliche Sicherheit, Genaro García Luna, am eindrücklichsten. Vgl. Knut Hildebrandt, Ex-Verteidigungsminister Cienfuegos verhaftet, in: Nachrichtenportal Lateinamerika, 18. Oktober 2020; O. A., Drogenhandel: 38 Jahre Haft für mexikanischen Ex-Minister, in: Deutsche Welle, 17.10.2024. Darüber hinaus lässt sich die Verstrickung von lokalen und bundesweiten Behörden und das systematische Vertuschen von Gewalttaten durch Staatsanwaltschaften und andere Institutionen der öffentlichen Sicherheit wohl am deutlichsten entlang des Falles der 43 verschwundenen Studenten aus Ayotzinapa im Jahr 2014 veranschaulichen – ein Fall, der aufgrund seiner Dramatik auch international für einiges Aufsehen sorgte. Vgl. amlo et al., Fokus: Gewaltsames Verschwinden von Personen in Mexiko, der Fall Ayotzinapa, in: Servicio Internacional para la Paz, 20.12.2022.
  12. Vgl. Katharina Busch, Krematorien des Jalisco-Kartells in Mexiko entdeckt, in: amerika21. Nachrichten und Analysen aus Lateinamerika, 17.3.2025.
  13. Insbesondere die europäischen Mafia-Organisationen investieren seit einigen Jahren gezielt in Windkraft. Hier lässt sich nicht nur das Geld waschen und in legale Unternehmen überführen, sondern man profitiert darüber hinaus auch noch von staatlichen Zuschüssen und Steuererleichterungen. Vgl. Ulrike Sauer, Geldwäsche der Mafia in Windparks. Schmutzige Geschäfte mit sauberer Energie, in: Süddeutsche Zeitung Online, 4.7.2013.
  14. Vgl. Valencia, Gorekapitalismus.
  15. Die Subjektwerdung mittels Gewalt ist natürlich keineswegs neu; ebenso wenig wie die Empörung des Westens darüber. So weist zum Beispiel bereits Jean-Paul Sartre im Vorwort zu Frantz Fanons Die Verdammten dieser Erde darauf hin, dass die Gewalt der Anderen letztlich unsere eigene sei und lediglich „wie ein Spiegelbild auf uns zurückgeworfen“ werde. Vgl. Jean-Paul Sartre, Vorwort, in: Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, übers. von Traugott König, Frankfurt am Main 1966, S. 7–25, hier S. 15.
  16. Valencia, Gorekapitalismus, S. 57.
  17. Ebd., S. 50 ff.
  18. Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band (= MEW 23), Berlin 1973, S. 741 ff.
  19. Fanon, Die Verdammten dieser Erde.
  20. Den Aspekt der Gewalt als Produktionsfaktor hatte ich weiter oben bereits erwähnt. Valencia betont darüber hinaus die Parallelen mit Blick auf den marxschen Arbeitsbegriff: „Die extreme Gewalt wird für die Endriagosubjekte zu einem Lebensgefühl, einer Arbeit, einem gesellschaftlichen Verhältnis und einer Kultur.“ Valencia, Gorekapitalismus, S. 111.
  21. Interessant ist mit Blick auf das Spiel „Grand Theft Auto“, dass der Hersteller Rocketstar jüngst mit „Red Dead Redemption 2“ die Szenerie des Spiels vom Großstadtmilieu in den Wilden Westen, also in ein Umfeld nicht vorhandener Staatlichkeit verlegt hat. Dies erscheint vor dem Hintergrund der vorstehend beschriebenen Subjektivierung nur folgerichtig.
  22. Bei solchen kulturindustriellen Erzeugnissen kann man sich (natürlich nur als Konsument:in) in eine schauerlich schöne Koalition mit „dem Bösen“ begeben und den Kitzel aus moralischer Abscheu und Faszination genießen. Das soll jedoch nicht als bornierte Kritik an diesen Produkten verstanden werden. Auch ich habe als Jugendlicher, bevor ich meine Sehfähigkeit verlor, mit Begeisterung GTA gespielt und mich jenseits aller moralischen Leitplanken virtuell durch den US-amerikanischen Großstadtdschungel gemordet.
  23. Vgl. u.a. Profile: Joaquin Guzman Loera, in: Forbes; Patrick Wagner, Mexikos gefährlichster Mann. „El Chapo“ – vom Bauernjungen zum Drogenboss, in: zdf.de, 16.10.2023.
  24. Valencia, S. 93.
  25. Zur staatlicherseits vorangetriebenen Rationalisierung von Gewaltpraktiken vgl. auch Naomi Klein, Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophenkapitalismus, übers. von Michael Bischoff, Hartmut Schickert und Karl Heinz Siber, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2009.
  26. Valencia, Gorekapitalismus, S. 53.
  27. Ebd., S. 49.
  28. Ebd., S. 62.
  29. „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“ So lautet ein altes, aus der Bibel stammendes und unter anderem selbst von SPD-Mitgliedern wie Franz Müntefering ab und zu zustimmend zitiertes Sprichwort. Ursprünglich als Warnung vor dem Müßiggang gemeint, klingt es unter den heutigen Bedingungen nur noch zynisch. Denn was ist mit denjenigen, die sich trotz legaler Arbeit die lebensnotwendige Nahrung oder Medizin nicht leisten können? Die systemische Antwort lautet: „Pech gehabt.“
  30. Valencia, Gorekapitalismus, S. 83.
  31. Vgl. zum Beispiel Rubi Martinez, Cártel de Sinaloa y otros grupos criminales entregan despensas a afectados por huracán Otis en Acapulco, in: infobae, 8.11.2023. Siehe auch die 2020 entstandene ARTE-Reportage Mexiko: Die Kartelle geben sich „viral-sozial“.
  32. Valencia, Gorekapitalismus, S. 117.
  33. Vgl. Knut Krohn, Drogenkrieg in Belgien. Entführung von Justizminister vereitelt, in: Der Tagesspiegel, 29.9.2022.
  34. Valencia, Gorekapitalismus, S. 120.
  35. Ebd., S. 83.
  36. Vgl. hierzu Nikita Dhawan, Die Aufklärung vor Europa retten. Kritische Theorien der Dekolonisierung, übers. von Alwin Franke, Frankfurt am Main, S. 33.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

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Manuel Schulz

Manuel Schulz studierte Soziologie und Volkswirtschaftslehre in Marburg und promovierte anschließend an der Universität Jena im Bereich Allgemeine und Theoretische Soziologie. Trotz einer Erblindung im Jugendalter reiste er u. a. 2010 für einen mehrmonatigen Aufenthalt als internationaler Menschenrechtsbeobachter nach Mexiko. Seither ist er regelmäßig in der Region unterwegs und pflegt enge persönliche Kontakte in das Land. Aktuell forscht er als Postdoc am Husserl-Archiv der Universität zu Köln an der Entwicklung einer kritischen Wirtschaftsphänomenologie.

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