Gangolf Hübinger | Rezension | 04.03.2025
Welthistoriker und Staatssoziologe – Otto Hintze neu entdeckt
Rezension zu „Otto Hintze. Werk und Wirkung in den historischen Sozialwissenschaften“ von Hans Joas und Wolfgang Neugebauer (Hg.) sowie zu „Otto Hintzes Staatssoziologie. Historische Prozesse, theoretische Perspektiven“ von Andreas Anter und Hinnerk Bruhns (Hg.)
Der überfällige, von Hans Joas und Wolfgang Neugebauer herausgegebene Band, der Werk und Geltung Otto Hintzes in den historischen Sozialwissenschaften neu erschließt, beginnt mit einer Klage: „Max Weber überstrahlt alle“, lautet gleich der erste Satz. Auf drei Seiten geht es in der Einleitung von Hans Joas erst einmal um den Befund, Weber habe – sehr zum Schaden einer angemessenen Geschichte der klassischen Sozialwissenschaften im frühen 20. Jahrhundert – „andere große deutsche Gelehrte seiner Zeit in den Schatten gestellt“ (Joas/Neugebauer, S. 2). Insbesondere der Berliner Historiker Otto Hintze (1861–1940) sei als eine der „überragenden deutschen Gelehrtengestalten“ (Joas/Neugebauer, S. 3) aus Webers Schatten herauszuholen, um mit seinen überdauernden Fragestellungen uns Heutigen frische Forschungsimpulse zu verleihen. Joas nennt drei Problemkomplexe, die sich mit Hintze gewinnbringender als mit Weber studieren ließen: Die historische Soziologie der modernen Bürokratie, die Wendung von der europäischen zur Globalgeschichte und den machtpolitischen Realismus in der Analyse internationaler Friedensordnungen. Das sind ohne Zweifel Themen von höchster Aktualität angesichts der wachsenden Konflikte im gegenwärtigen Weltstaatensystem. Hintze und Weber hatten dazu ihren je eigenen Zugang. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Theoretikern, die dabei deutlich werden, spielen auch in dem zweiten der beiden hier vorzustellenden Bände, der Otto Hintzes Staatssoziologie gewidmet ist, eine zentrale Rolle.
Der Staat als Lebensprogramm
„Was ist: ein ,Staat‘?“ So lautet die entscheidende Frage, die Weber mit Hintze verbindet. Weber baute auf dieser Frage seine berühmte Rede über „Politik als Beruf“ auf.[1] Für Otto Hintze war sie, so Hinnerk Bruhns, das „Lebensthema“ schlechthin (Anter/Bruhns, S. 169 f.). Wolfgang Neugebauer, der mit der ersten umfassenden, nach methodisch verlässlichen Standards verfassten Hintze-Biografie der Forschung neue Perspektiven eröffnet hat,[2] ist in beiden Bänden einschlägig mit Beiträgen zu Hintzes Werkbiografie vertreten. Drei seiner Thesen dürften künftige Arbeiten zu Hintze als Klassiker unter den historischen Staatsforschern besonders stimulieren.
Da ist zunächst die These vom stringenten „Lebensprogramm“, das Hintze schon früh, um 1900, entworfen und sodann in zahlreichen Arbeiten kontinuierlich weiterverfolgt habe (Joas/Neugebauer, S. 32–37). Neugebauer zufolge handelt es sich dabei um Vorstudien zu zwei umfangreichen Werken, an denen Hintze zwar intensiv gearbeitet, die er aber zeitlebens nie veröffentlicht hat. Das erste dieser beiden Werke entwarf eine „allgemeine Verfassungsgeschichte der neueren Staaten“ und war trotz typologischer Vergleiche konsequent historisch individualisierend angelegt, in kritischer Weiterführung von Rankes Historismus. Das zweite Werk zielte, wie aus Hintzes regelmäßigen Vorlesungen hervorgeht, auf eine „Politik oder allgemeine Staats- und Gesellschaftslehre“ auf historischer Grundlage und war systematisch strukturierend angelegt, in kritischer Aneignung Max Webers. Die Manuskripte beider Werke, zu denen die Vorstudien im Laufe der Jahre beträchtlich wuchsen, sind zum größten Teil im Zweiten Weltkrieg vernichtet worden. Ihre wesentlichen Inhalte ebenso wie ihre wechselseitige, aus der Umkehrung der leitenden Gesichtspunkte resultierende Bezogenheit lassen sich jedoch entlang der dreibändigen Gesammelten Abhandlungen gut studieren.[3]
Hintzes doppeltes, gleichermaßen an historischen wie an systematischen Fragestellungen orientiertes Erkenntnisinteresse steht im Zentrum von Wolfgang Reinhardts Beitrag „Vergleichende Verfassungsgeschichte nach Otto Hintze zwischen Individualität und Typologie“. Reinhardt vertritt darin die Lesart, Hintze habe für seine entwicklungsgeschichtlichen Analysen des modernen nationalen Großstaats typisierende Verfahren à la Weber stets seinem „individualisierenden Historismus“ untergeordnet (Joas/Neugebauer, S. 149). Dort wo er staatsvergleichend argumentiere, habe er sich von Webers Idealtypen zu seinem eigenen Schaden „in eine Sackgasse“ führen lassen (Joas/Neugebauer, S. 168). Hintze selbst hat das – bei aller Kritik am Weber’schen Idealtypus – nicht so empfunden.
Um das immense, von spätmittelalterlichen Feudalsystemen bis zu den parlamentarischen Demokratien seiner Gegenwart reichende Forschungsprogramm verfassungsgeschichtlich wie staatstheoretisch zu bewältigen, brachte Hintze die besten Voraussetzungen mit. Sein akademisches Profil erhielt er im Berliner Gelehrtenmilieu, insbesondere im Kreis des Nationalökonomen Gustav Schmoller. Er bearbeitete das riesige Quellenwerk der Acta Borussica. In diesem Kontext veröffentlichte er 1892 eine dreibändige Studie über die Geschichte der preußische Seidenindustrie,[4] eine Thematik, die heute viel globalgeschichtliche Aufmerksamkeit auf sich zieht. 1902 erhielt er eine ordentliche Professur für Verfassungs-, Wirtschafts-, Verwaltungsgeschichte und Politik an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität. 1912 heiratete Hintze seine Studentin Hedwig Guggenheimer, die sich später als Expertin für die französische Geschichte der Revolutionsepoche einen Namen machte. Nachdem ihr als Jüdin von den Nationalsozialisten jegliche wissenschaftliche Betätigung in Deutschland untersagt worden war, ging Hedwig Hintze 1938 ins niederländische Exil. Dort starb sie 1942, vermutlich durch Freitod, um dem Abtransport in ein Vernichtungslager zu entgehen. Zwei Jahre zuvor war Otto Hintze in Berlin verstorben. Er hinterließ eine beachtliche Zahl von über hundert selbständigen Schriften und Aufsätzen, dazu etwa 250 Rezensionen.
Neugebauers zweite These zielt darauf, Hintzes Gesamtwerk unter einem Primat von Weltgeschichte und Weltpolitik neu zu lesen und – Originalton Hintze – das „Weltstaatensystem“ als „Operationsfeld für die Macht- und Rivalitätskämpfe“ in Geschichte und Gegenwart insgesamt in den Blick zu nehmen (Joas/Neugebauer, S. 219). Dem lässt sich nur zustimmen. Die dritte These ist wissenschaftsgeschichtlicher Natur und betrifft „das große Denkkollektiv aus der Zeit vor und um 1900“, in das Hintzes Biografie eingebunden ist. Ich gehe zuerst auf den Primat des Weltstaatensystems in Hintzes Staatsdenken ein. Die Zusammenstellung der Beiträge des von Joas und Neugebauer herausgegebenen Bandes ist gut geeignet, um diesem Aspekt von Hintzes „Lebensprogramm“ scharfe Konturen zu verleihen.
Weltstaatensystem und Weltgeschichte
Den Hauptakzent setzt wiederum Neugebauer, der in dem Band mit einem weiteren Beitrag zu „Globalität – Föderation – Diktatur“ vertreten ist. Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet folgende Erfahrung: „Europäische Politik wird Weltpolitik“. Diese Einsicht habe die historischen Wissenschaften um 1900 dazu genötigt, Geschichte globalhistorisch umzuschreiben und die weltumspannenden Verkehrs-, Handels- und Kommunikationswege systematisch in die Rivalitätsgeschichte der führenden Großmächte einzubinden. Aus diesem Grund, so Neugebauer, habe Hintze den entscheidenden Gegensatz zwischen Preußen-Deutschland als spät konsolidierter Kontinentalmacht und England als alter und auf planetarische Herrschaft abzielender Seemacht konzeptualisiert. Hieraus resultiere auch Hintzes bis in den Ersten Weltkrieg hinein bestehende Ablehnung von Parlamentarismus und Demokratie, da er nur einem monarchischen Obrigkeitsstaat mit Beamtenherrschaft und Militärmacht die erfolgreiche Selbstbehauptung des Deutschen Kaiserreichs im Weltsystem zutraute. Was für Hintze staatssoziologisch eine conditio sine qua non war, war für Max Weber der blanke Horror.
Erst unter dem Eindruck der Niederlage und des Verlustes staatlicher Souveränität habe Hintze sein Konzept geändert. Vormals ein Anhänger des monarchischen Machtstaats, habe er nun großräumigen Föderationen nach US-amerikanischem Muster sowie Kants Schrift Zum ewigen Frieden (Joas/Neugebauer, S. 227) viel abgewinnen können und darin eine Prävention gegen faschistische oder bolschewistische Diktaturen gesehen. Zweifel an dieser Deutung äußert Hans-Christof Kraus in seinem Beitrag „Weltmacht und Geostrategie“, in dem er Hintzes weltpolitische Analysen bis 1918 untersucht. In seinen Augen bietet Hintzes Geschichtsmodell mit dem Primat monarchisch und militärisch zu leistender Sicherheit nach außen vor demokratischen Reformen im Innern (Joas/Neugebauer, S. 103) vielmehr die angemessene Erklärung für den deutschen Griff nach dem Weltmachtstatus. Sein Liebäugeln mit Kants Ideen und einem föderativ-genossenschaftlichen Weltstaatensystem sei dagegen vage und nicht mehr als ein „reichlich verschwommenes Ideal“ geblieben (Joas/Neugebauer, S. 110). Forschungen zu Hintzes machttheoretischem Realismus nach den Pariser Friedensverträgen werden diese Streitfrage aufgreifen und näher klären müssen.
Zu Hintzes Kernthemen zählen die Genese und Struktur von Repräsentativverfassungen unter den besonderen „weltgeschichtlichen Bedingungen“, wie sie „nur im christlichen Abendlande“ und aus dem „feudal-ständischen System“ heraus als die dominante Herrschaftsordnung im modernen Staatsleben entwickelt worden seien.[5] Thomas Ertman demonstriert, wie intensiv Hintze in kritischer Wendung gegen Weber die Schlüsselrolle der katholischen Kirche für die Durchsetzung der ständisch-repräsentativen Verfassung in der mittelalterlichen Staatenwelt herausgearbeitet hat. Mit seiner Darstellung der institutionellen Trennung von Kirche und Staat habe Hintze der neueren angelsächsischen Forschung wichtige Impulse verliehen. Den gegenwärtigen Forschungstrend zu einem global constitutionalism nimmt Thomas Duve zum Anlass, generell nach den Potenzialen Hintzes für eine „Globalrechtsgeschichte“ zu fragen. Anregungen und Anknüpfungspunkte sieht er hier sowohl für eine „globale Perspektive auf lokale, nationale oder auch regionale Rechtsgeschichten“ als auch für eine „Geschichte der Globalisierung des Rechts“ (Joas/Neugebauer, S. 142), die von den historischen Rechtswissenschaften zu sehr vernachlässigt worden seien.
Denkkollektive und Wirkungsgeschichten
Es ist längst ein eingespieltes methodisches Verfahren, Gelehrtenwerke nicht isoliert und exegetisch zu betrachten, vielmehr den „Denkkollektiven“ gebührenden Raum zu widmen, in deren Kontext die jeweiligen Schriften entstanden und aus denen heraus sie ihr Profil gewannen. Dieses Verfahren kommt, angeführt von Neugebauer,[6] mittlerweile auch in der Hintze-Forschung vermehrt zum Einsatz. Zum „großen Denkkollektiv“ des Staatsdenkens um 1900 rechnet Neugebauer namentlich Georg Jellinek, Richard Schmidt, Karl Lamprecht und Herbert Spencer, zudem manche „Ansätze des historischen Materialismus“, und – in diesem Zusammenhang besonders wichtig – den politischen Geografen Friedrich Ratzel (Joas/Neugebauer, S. 28). Von Ratzel lernte Hintze, raumtypologisch zu denken und die Frage der Beherrschung großer Räume bei seinen historischen Rivalitätstheorien imperialer Mächte zu berücksichtigen. Hintzes seinerzeit ungewöhnliche Verknüpfung von Geschichte, Sozialökonomik und Geografie veranlasste die jüngere Forschung, ihn als den deutschen Marc Bloch zu preisen (Joas/Neugebauer, S. 215). Beim Durchmustern des „großen Denkkollektivs“ fällt allerdings eine Leerstelle ins Auge. Wo ist der Platz für Hugo Preuß? Mit Preuß teilte Hintze das Interesse an den epochenbeherrschenden Gegensätzen von Obrigkeitsstaat und Volksstaat, von Monarchie und Demokratie, von herrschaftlichen und genossenschaftlichen Organisationsprinzipien des modernen Staates, von „Macht und Freiheit“.[7] Beide lasen und referierten die Werke des jeweils anderen, Hedwig Hintze edierte und kommentierte 1927 Preuß´ nachgelassene Schriften. Ist das wirklich keinen Hinweis wert?
Viel Notiz wird hingegen von Marx und den zeitgenössischen marxistischen Diskursen genommen. Winfried Nippel widmet ihnen einen eigenen Beitrag. Sein Fazit: Hintze habe sich Marx und Engels zwar angeeignet, sich jedoch auf „Grundsatzfragen“ zur Basis-Überbau-Problematik beschränkt, während er Max Weber vorwarf, sich soziologisch zu stark auf Marx eingelassen zu haben (Joas/Neugebauer, S. 82–86). Um Hintzes Status als Klassiker geht es im Beitrag von Philip S. Gorski. Klassiker zeichnen sich primär dadurch aus, mit ihrem Werk für unsere Gegenwartsprobleme „anschlussfähig“ zu sein. In seinem Beitrag über „Hintze in America. Reception and Revival“ weist ihm Gorski diesen Status mit Nachdruck zu. Über Weltpolitik zu schreiben, kurz nach der „Russian invasion of the Ukraine“, öffne die Augen neu für den Hintze-Kosmos: „Great power politics is back, as is geopolitical competition“ (Joas/Neugebauer, S. 210).
Krankheitsbedingt hatte Hintze 1920 seinen Berliner Lehrstuhl aufgeben müssen. In der Öffentlichkeit präsent blieb er jedoch nicht nur durch fundierte Aufsätze wie „Wesen und Wandlung des modernen Staats“ (1931), sondern auch durch eindringliche Rezensionen soziologischer Literatur. Der Historiker Hinnerk Bruhns greift namentlich Hintzes Besprechungen der Werke von Weber, Werner Sombart und Franz Oppenheimer heraus, um an ihnen den Denkstil von Hintzes Kritiken zu konturieren (Joas/Neugebauer, S. 57), die sich stets um das grundsätzliche Spannungsverhältnis von Geschichte und Soziologie drehten. Die Frage, die Bruhns daran knüpft – „In welche Richtung könnte ein neues Interesse an Otto Hintze gehen?“ (Joas/Neugebauer, S. 46) – findet exemplarische Antworten in dem von ihm zusammen mit dem Politikwissenschaftler Andreas Anter herausgegebenen Band zu Otto Hintzes Staatssoziologie, um den es im Folgenden gehen soll.
Staatssoziologie und Geschichte
Kein Historiker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich so intensiv mit soziologischen Fragen beschäftigt wie Otto Hintze. Die große Herausforderung für ihn war Max Weber, in einem Pendeln zwischen grundsätzlicher Aneignung und partieller Abwehr. Da die beiden Herausgeber Anter und Bruhns ausgewiesene Weber-Experten sind, überrascht es nicht, dass sich in ihrem Themenband zu Hintzes Staatssoziologie stärkere Bezüge zu Weber finden als bei Joas und Neugebauer. Ihr besonderes Interesse gilt dabei dem Versuch, das „Soziologische“ an Hintzes Staats- und Verfassungslehre herauszukristallisieren. Der Zugriff ist vielversprechend, hat doch Hintze schon seit 1898 regelmäßig über „Politik oder allgemeine Staats- und Gesellschaftslehre“ gelesen und geschrieben. Weber hingegen begann erst 1920, also kurz vor seinem Tod, auf der Basis von Wirtschaft und Gesellschaft eine Vorlesung über „Allgemeine Staatslehre und Politik (Staatssoziologie)“, die er aber nicht zu Ende führen konnte.[8]
Der Band umfasst insgesamt sieben Beiträge. Als eine Art Einführung dient Hinnerk Bruhns’ detaillierte Analyse zu „Otto Hintze und der preußisch-deutsche Staat“, die insbesondere den grundstürzenden politischen Systemwechsel „vom Kaiserreich nach Weimar“ in den Blick nimmt. Die Frage nach „Kontinuität oder Bruch“ in Hintzes Lebenswerk hält Bruhns für unfruchtbar. Es komme darauf an, wie Hintze den welthistorischen Erfahrungsschub zwischen 1917 und 1920 verarbeitet habe und zu welchem „Umschreiben“ (Reinhart Koselleck) seiner vergleichenden Verfassungsgeschichte er sich zeitdiagnostisch genötigt sah. Hierfür ist dem Band als Schlüsseldokument Hintzes bekannter Vortrag für die Preußische Akademie der Wissenschaften von 1931 über „Wesen und Wandlung des modernen Staats“ noch einmal beigegeben (Anter/Bruhns, S. 177–199), eine ausgesprochen gute Wahl. Mit historisch-soziologischem Scharfblick erfasst Hintze darin die Transformationen des als „Pentarchie“ ausbalancierten europäischen Staatensystems zum neuimperialistischen Weltstaatensystem. Nicht zukunftsfähig sei der bürgerliche Nationalstaat. Überwunden werde er durch neue Staatstypen in „vier Zonen“ der „neuen politischen Welt“: die westlichen Demokratien, die kommunistische Sowjetunion, das faschistische Italien sowie die „übrigen Staaten, die zwischen den drei Prinzipien schwanken“, darunter auch das in Hintzes Augen orientierungsschwache Deutschland (Anter/Bruhns, S. 196).
Worin besteht in weltgeschichtlicher wie in gegenwartskritischer Betrachtung das spezifisch Soziologische an Hintzes Staatsdenken? Bei Max Weber, dessen Einfluss nach 1920 wächst, erscheint der Staat soziologisch als ein dreipoliges Handlungsgefüge aus herrschenden Eliten, intermediären Gruppen wie Verwaltungen oder Parteien und den in zahlreichen vorpolitischen Vereinen organisierten Regierten. Bei Hintze kommt der Staat anders in den Blick. In kontrastivem Vergleich zu Franz Oppenheimer empfiehlt Maurizio Ricciardi, Hintzes Soziologie von rationaler staatlicher „Führerschaft“ als eine „spezifische Soziologie der Politik“ zwischen Herrschaft und Genossenschaft als den beiden Grundtypen jeder Gemeinschaft und mit „Vorrang vor dem Staat“ selbst zu betrachten (Anter/Bruhns, S. 77, 80). Mit seiner Vision eines zukünftigen Welt-Föderalismus mit „pazifistischen Tendenzen“ stoße Hintze jedoch an die Grenzen seines analytischen Instrumentariums. Dessen begrenzte Tauglichkeit werde schon im Hinblick auf den „zunehmenden Parteien- und Klassenkampf“ (Anter/Bruhns, S. 120) in Europa deutlich, so der Befund von Christoph Enders zum „deutschen Verfassungsstaat als Gegenstand vergleichender Verfassungsgeschichte“.
Nahezu alle Autoren der beiden Bände nehmen Bezug auf Max Weber. Bei Anter und Bruhns wird das exemplarisch am „Feudalismus“ in globalgeschichtlicher Perspektive demonstriert. So zeigt Stefan Breuer viel Bewunderung für Hintzes Verwendung von „Feudalismus“ als welthistorischer Kategorie, um das Heilige Römische Reich, Russland und Japan in ihrem jeweiligen Gefüge von militärischer, politischer und ökonomischer Ordnung vergleichen zu können. Methodisch erweise sich Hintze in seinem „reflektierten Historismus“ allerdings mehr als Essentialist denn als Anhänger des Weber’schen Idealtypus (Anter/Bruhns, S. 140 f.). Hajime Konno wiederum kritisiert Webers Sicht der japanischen Feudalgesellschaft als „eine erstaunliche Vereinfachung“ (Anter/Bruhns, S. 149). Hintze hält er zugute, dass er sich besser eingelesen habe, eine wirklich treffende Beschreibung sei jedoch auch ihm nicht geglückt. Im Endeffekt habe er ebenfalls Japan „zu sehr dem Westen“ angenähert (Anter/Bruhns, S. 161). Eine besonders enge Verbindung zwischen Hintzes „realistisch empirischer Methode“ und Webers Ansatz identifiziert Andreas Anter hinsichtlich „Staat, Verwaltung und Regierungstechnik“. Mit der Übernahme der staatssoziologischen Grundbegriffe „Anstalt“ und Betrieb“ gebe sich Hintze „als Weberianer“ zu erkennen (Anter/Bruhns, S. 99). Neugebauer mahnt demgegenüber zu semantischer Vorsicht, denn den „Staat als Betrieb“ habe Hintze schon um 1900 und ohne Impulse Webers analysiert (Anter/Bruhns, S. 44–46).
Schlußbemerkung: Otto Hintze und Max Weber
Im Hauptresultat fordern beide Bände dazu auf, die kritische Vergleichsdebatte zwischen Hintze und Weber neu zu eröffnen. Jürgen Kocka hatte sich in den Achtzigerjahren in einem einschlägigen Aufsatz auf die Ordnungsmacht der Bürokratie im Werk der beiden Autoren konzentriert. [9] Mit Wolfgang Neugebauers werkgeschichtlichen Ergebnissen erweitert sich die Perspektive auf die grundsätzliche Frage: Was ist ein Staat, historisch und soziologisch? Neugebauers prägnante Unterscheidung in der Zielsetzung von Hintzes beiden Hauptwerken dürfte dabei den vergleichenden Blick auf die beiden Klassiker entscheidend schärfen – zumal, wenn man von Klassikern erwartet, sich „in Konfrontation mit zeitgeschichtlichen Problemlagen“ zu bewähren.[10] Die gegenwärtige Polykrise erfordert staatssoziologische Instrumente zur Analyse imperialer und kriegsgestützter Machtpolitik in der globalen Spannung zu demokratischen Systemen und deren Erosionen. Für Hintze und Weber war das bereits ein epochales Leitthema, das beide methodologisch unterschiedlich angingen. Webers Staatssoziologie war eingebunden in generalisierte soziologische Grundbegriffe und eine feingliedrige Architektur idealtypischer Differenzierungen. Hintzes historische Staatslehre zielte primär auf eine individualisierte Herrschafts- und Verfassungsgeschichte der europäischen Großmächte mit dem Staat als „körperlicher Gesamtpersönlichkeit“ (Anter/Bruhns, S. 109). In der Sache bildete für Weber spätestens ab 1917/1918 die Parlamentarisierung und Demokratisierung eines Nationalstaats die Voraussetzung für weltpolitische Geltungsansprüche. Hintze konnte sich dem nur bedingt anschließen. Sein Verständnis von „Staat“ als Kern „des politischen Energiesystems der Welt“ (Anter/Bruhns, S. 198) trennte schärfer zwischen äußeren und inneren Bedingungen von Macht, Souveränität, Recht und Freiheit.
Mit den beiden hier vorgestellten Bänden steht Hintze wieder im Licht. Seine „integrative Geschichtsschreibung“ bietet nicht nur zu manchem radical chic eine Alternative, sondern auch zum „politischen Existenzialismus“ eines Martin Heidegger oder Carl Schmitt, wie Hans Joas in seiner Einleitung betont (Joas/Neugebauer, S. 17). Die Bände liefern gute Ansatzpunkte, sich mit Hintzes „realistisch-empirischer Methode“ dem „Weltstaatensystem“ in Geschichte und Gegenwart zu widmen.
Fußnoten
- Max Weber, Politik als Beruf, in: ders., Gesamtausgabe, Abt. 1, Bd. 17: Wissenschaft als Beruf 1917/1919 – Politik als Beruf 1919, hrsg. von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Birgitt Morgenbrod, Tübingen 1992, S. 113–253, hier S. 157.
- Wolfgang Neugebauer, Otto Hintze. Denkräume und Sozialwelten eines Historikers in der Globalisierung 1861–1940, Paderborn 2015.
- Otto Hintze, Gesammelte Abhandlungen, hrsg. von Gerhard Oestreich, Bd. 1: Staat und Verfassung, 3. Aufl., Göttingen 1970; Bd. 2: Soziologie und Geschichte, 2. Aufl., Göttingen 1964; Bd. 3: Regierung und Verwaltung, mit Personen- und Sachregister zu den Gesammelten Abhandlungen 1–3, 2. Aufl., Göttingen 1967.
- Otto Hintze, Die Preußische Seidenindustrie im 18. Jahrhundert und ihre Begründung durch Friedrich den Großen, 3 Bde., Berlin 1892.
- Otto Hintze, Weltgeschichtliche Bedingungen der Repräsentativverfassung (1931), in: ders., Gesammelte Abhandlungen, Bd. 1, S. 140–185.
- Vgl. Neugebauer, Otto Hintze, hier insbesondere Teil III: Alte und neue Denkkollektive 1888/90–1900, S. 671–675.
- Hugo Preuß, Freiheit und Macht (1917), in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 1: Politik und Gesellschaft im Kaiserreich, hrsg. von Lothar Albertin in Zusammenarbeit mit Christoph Müller, Tübingen 2007, S. 675–678; zu Hintze dort S. 675 f. Für eine Stellungnahme zu Preuß vgl. u.a. Otto Hintze, Max Webers Soziologie (1926), in: ders., Gesammelte Abhandlungen, Bd. 2, S. 135–147, hier S. 142.
- Zu Hintzes Disposition der Vorlesung vgl. Gerhard Oestreich, Otto Hintzes Stellung zur Politikwissenschaft und Soziologie, in: Otto Hintze, Gesammelte Abhandlungen, Bd. 2, S. 7*–64*, hier S. 30*f.; Zu Webers Vorlesung mit diktierter Disposition siehe Max Weber, Gesamtausgabe, Abt. 3, Bd. 7: Allgemeine Staatslehre und Politik (Staatssoziologie). Unvollendet. Mit- und Nachschriften 1920, hrsg. von Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Andreas Terwey, Tübingen 2009.
- Jürgen Kocka, Otto Hintze und Max Weber. Ansätze zum Vergleich, in: Wolfgang J. Mommsen / Wolfgang Schwentker (Hg.), Max Weber und seine Zeitgenossen, Göttingen 1988, S. 403–416.
- Thomas Schwinn / Gert Albert, Alte Begriffe – Neue Probleme. Max Webers Soziologie im Lichte aktueller Herausforderungen, in: dies. (Hg.), Alte Begriffe – Neue Probleme. Max Webers Soziologie im Lichte aktueller Problemstellungen, Tübingen 2016, S. 1–19, hier S. 3.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.
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